Geburtshilfe Frauenheilkd 2000; 60(5): 238-241
DOI: 10.1055/s-2000-9555
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Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erbsche Lähmung ohne Schulterdystokie: Neuere Aspekte bei der gutachterlichen Beurteilung.Vorstellungen zur vorgeburtlichen Entstehung kindlicher Plexusläsionen

Erb's Palsy without Shoulder Dystocia: More Recent Aspects for Experts' Appraisement. Concepts concerning prenatal development of plexus lesions in neonatesJ. Wessel, J. W. Dudenhausen
  • Klinik für Geburtsmedizin, Charité, Campus Virchow-Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2000 (online)

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Zusammenfassung

Eine wesentliche Rolle in geburtshilflichen Haftungsauseinandersetzungen spielen Schulterdystokien mit nachfolgenden kindlichen Plexusläsionen, wobei in der Regel von einem kausalen Zusammenhang mit direkten geburtsassoziierten traumatischen Ereignissen ausgegangen wird. Auf dem Hintergrund eines eigenen gutachterlich zu bewertenden Falles über eine Erbsche Parese, in dem in der Krankengeschichte jedoch ein völlig unauffälliger Verlauf der Geburt, insbesondere ohne auch nur geringe Anzeichen für das Auftreten einer Schulterdystokie dokumentiert war, werden wesentliche Ergebnisse aus der jüngeren nordamerikanischen Literatur zur „kindlichen Plexuslähmung ohne Schulterdystokie“ dargestellt. Diese haben zur Entwicklung eines neueren Konzeptes zur vorgeburtlichen in utero-Entstehung von derartigen Plexusläsionen geführt. Dabei wurden solche Fälle untersucht, die ohne jedes Anzeichen einer vorherigen Schulterdystokie im Widerspruch stehen zu den herkömmlichen Vorstellungen einer geburtsassoziierten Entstehung, am offenkundigsten etwa nach einer atraumatischen Sektio. In dieser Gruppe haben auch die klassischen Risikofaktoren für diese Schultereinstellungsanomalie eine nur untergeordnete Bedeutung. Der Anteil kindlicher Plexusläsionen, die sich ausbilden als Folge unvermeidlicher antepartaler oder intrapartaler Ereignisse ohne Auftreten einer Schulterdystokie, beträgt demzufolge mindestens 50 %. Dabei spielen erhebliche vorgeburtliche Druck- und Zugkräfte am Plexus brachialis eine Rolle, z. B. bei einem uterinen Septum oder Myom, bei einem Uterus bicornis oder auf Grund anderer Faktoren. Eine starke Wehentätigkeit kann hier mit ursächlich sein. Dieses Konzept ist unter forensischen Aspekten auch für gutachterliche Beurteilungen von kindlichen Plexusparesen bedeutsam.

Abstract

Shoulder dystocia with subsequent brachial plexus lesions in neonates is a common reason for obstetric liability litigation. Trauma during delivery is often assumed to be directly responsible for the lesion. We recently gave an expert opinion in a case involving Erb's palsy after an unremarkable delivery with no evidence of shoulder dystocia. We review the recent North American literature on plexus lesions in neonates without shoulder dystocia. The analysis of neonates with Erb's paralysis after delivery without shoulder dystocia, particularly after atraumatic cesarean delivery, have led to a new concept of prenatal (in utero) development of plexus lesions. These cases are inconsistent with the traditional concept of plexus lesions due to trauma sustained at delivery. In this group the traditional risk factors for shoulder dystocia play only a minor role. Overall, at least 50 % of neonatal brachial plexus lesions result from unavoidable antepartum or intrapartum events and occur without shoulder dystocia. Antenatal brachial plexus lesions may result from stretching forces or pressure exerted on the plexus in utero by uterine anomalies (e.g., leiomyomas, intrauterine septa, bicornuate uterus) or other factors. Abnormal forces of labor may also play a role. The concept of Erb's paralysis unrelated to trauma at delivery and shoulder dystocia has medicolegal implications.

Literatur

Prof. Dr. Joachim W. Dudenhausen

Charité, Campus Virchow-Klinikum Klinik für Geburtsmedizin

Augustenburger Platz 1