Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2001-15588
Bulimie - eine
psychosomatische
Erkrankung
westlicher Zivilisation
Publication History
Publication Date:
31 December 2001 (online)

„In den letzten Jahren ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. (...) Es waren andere Zeiten. (...) Damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme.”
Im Gegensatz zu Kafkas einleitenden Worten der Erzählung „Der Hungerkünstler” haben die Verbreitung von Ess-Störungen in den letzten Jahren in der westlichen Welt wie auch das Interesse daran zugenommen. Allerdings wird zu unserer Zeit keineswegs mehr nur gehungert. Zur Magersucht, einer der ersten beschriebenen Ess-Störungen, kamen die Störungen, die durch einen Kontrollverlust bei der Nahrungsaufnahme gekennzeichnet sind, hinzu: Bulimia nervosa und die noch unter den nicht näher bezeichneten Ess-Störungen im DSM IV klassifizierte Binge Eating Disorder. Von diesen Störungen ist die Bulimia nervosa sicher die geheimnisvollste auch in dem Sinne, dass sie am besten und längsten von den Betroffenen verborgen werden kann. Diese sind häufig normalgewichtig, wenn nicht „ideal”gewichtig, und in ihrem Leben vordergründig erfolgreich. Literatur, Presse, Bekenntnisse von Prominenten und die Präsenz im Internet lassen das Phänomen „Bulimie” zu einer beinahe gesellschaftsfähigen Störung aufsteigen in dem sicherlich positiven Sinne, dass dieser Prozess vielen Betroffenen den Weg zu einer Behandlung öffnet, aber auch in dem negativen Sinne, dass die Publizität zur Nachahmung einlädt und in gewissem Maße zur Verbreitung der Bulimie beiträgt. Darüber hinaus wird diese „Publizität” zunehmend auch dahingehend missbraucht, der „Bulimia nervosa” den Wert einer Krankheit abzusprechen. Das erfolgt z. B., wenn Krankenkassen den akut schwerkranken jungen Frauen trotz nachweisbar bestehender guter Behandlungschancen die Kostenübernahme für eine stationäre Psychotherapie verweigern.
Dabei ist möglicherweise von Bedeutung, dass die Bulimia nervosa häufig fälschlicherweise als Ess-Brech-Sucht bezeichnet wird. Das Erbrechen nach dem Essen ist in keiner Weise ein hinreichendes Kriterium zur Diagnose einer Bulimia nervosa. Nicht nur, dass auch Anorektikerinnen zuweilen nach einer Nahrungsaufnahme Erbrechen herbeiführen, durch die falsche Fokussierung auf das „Kotzen” erscheint auch der Charakter der eigentlichen Störung verfälscht. Kennzeichnend ist der Kontrollverlust mit anschließenden Schuldgefühlen und kompensatorischen Maßnahmen, die einer Gewichtszunahme vorbeugen sollen. Die wörtliche Übersetzung des Begriffes in „Ochsenhunger” trifft besser den Kern dieses Verhaltens, den übermäßigen Hunger, der in einem Fressanfall gestillt werden soll. Das Bedürfnis, die Nahrung wieder loszuwerden, kommt erst danach, wenn der eigentliche Hunger eben doch nicht gestillt wurde und das schlechte Gewissen, Schuldgefühle und Ekel sich breit machen. Diese Gefühle „danach” wuchern dann allerdings auf dem fruchtbaren Boden gesellschaftlicher Normierungen und Diktate - Schlankheit sowie Selbstkontrolliertheit und Disziplin sind in diesem Regelwerk die angenommenen Schlüsselworte für Erfolg, Anerkennung, (Selbst-)Achtung etc. Damit soll weder der Gesellschaft die Schuld für die Entstehung von (Ess-)Störungen zugewiesen werden, noch ist es richtig, Eigenschaften wie Selbstkontrolle, Disziplin, Erfolg usw. als krankmachend abzuwerten. Betrachtet man die Bulimie eingebunden in den historischen Kontext, so imponieren neben dem herrschenden (Nahrungs-) Überfluss, der Entritualisierung und Individualisierung der Nahrungsaufnahme, sich verändernden Körperidealen und entsprechenden normativen Körperformen auch die zunehmende Individualisierung und Anonymisierung sozialer Systeme, die gekennzeichnet sind durch wachsende Mobilität und den Bedeutungsverlust lokaler und großfamiliärer Bindungen (vgl. Artikel von T. Habermas). Vor diesem Hintergrund sind Disziplin, normatives Verhalten, Selbstkontrolle und Erfolg zu einem Teil notwendige Voraussetzungen zum modernen Überleben. Selbst Techniken oder die Fähigkeit des Diäthaltens bzw. der gesellschaftliche Druck schlank zu sein, haben keineswegs einen inhärenten Morbiditätscharakter - in einer Zeit des (Nahrungs-)Überflusses können solche Normen vor einer endemischen Verbreitung von Übergewicht und assoziierten Erkrankungen bewahren, während evolutionär und biologisch immer noch verankert ist, das vorhandene Nahrungsangebot unbedingt auszunutzen, um ein Polster für die nächste Hungerperiode anlegen zu können.
Die Ess-Störungen Bulimia nervosa und Anorexia nervosa sowie die Tatsache, dass davon mehrheitlich Frauen betroffen sind, sind ohne den soziokulturellen Kontext, ohne die modischen Verdikte und Edikte, ohne die Vorschriften einer Fitnessgesellschaft, aber auch ohne die Normierung von Normalität bzw. Definierung von krankheitswertigen Störungen, die als eine kulturelle Vereinbarung erfolgen, kaum vorstellbar - Ess-Störungen sind typische psychosomatische Erkrankungen von Gesellschaften westlicher Zivilisation.
Dennoch geht es nur vordergründig um Essen, Gewicht und Körpernormen. Hinter dem gestörten Essverhalten stecken sehr ernstzunehmende oder sogar bedrohliche seelische Störungen. Das abweichende Essverhalten kann ein Symptom, ein Ventil, eine Möglichkeit sein, emotional nicht auszuhaltende Prozesse zu kompensieren. Die Bulimia nervosa ist ein multifaktoriell bedingtes Krankheitsbild und neben den soziokulturellen, inter- und intrapsychischen Aspekten fließen auch neurobiologische und genetische Faktoren in das Ursachengeflecht mit ein (siehe auch den Beitrag von S. Herpertz).
Wir haben in diesem Heft den Versuch gemacht, eine möglichst breite Palette von Therapieansätzen bei dieser Form von Ess-Störung zu Wort kommen zu lassen. Wir sind uns dabei bewusst, dass sicherlich noch andere Verfahren angeben, hilfreich bei der Therapie dieser Störungen zu wirken. Die hier vorgestellte Auswahl von Beiträgen versucht, symptomorientierte und biografische, konfliktzentrierte und körperbezogene, gesellschaftliche und individuelle Perspektiven darzustellen, um Ihnen, als PraktikerInnen, einen Überblick über die möglichen therapeutischen Ansatzpunkte zu vermitteln. Wir hoffen, dass Sie dies in dieser PiD-Ausgabe mitnehmen können.
Eine schulentreue Verhaltenstherapie wird in der Behandlung einer Ess-Störung dazu neigen, das Essverhalten in den Vordergrund zu rücken, während analog die Psychoanalyse eher auf die Emotionalität und die psychischen Konflikte fokussiert und die Notwendigkeit, auch ein alternatives Verhalten im Umgang mit den Konflikten zu erlernen, vernachlässigen könnte. In diesem Sinne sind Ess-Störungen nicht nur prädestiniert für eine integrative Psychotherapie, sondern verlangen geradezu danach. So wie an Ess-Störungen Leidende lernen müssen, auf andere Weise als durch das abweichende Verhalten zu kommunizieren und eine Therapie ihnen die Möglichkeiten bietet, nicht nur ein neues Verhalten zu installieren, sondern auch die tiefer liegenden seelischen Ursachen zu beheben, so ist ebenfalls auf der Seite der psychotherapeutisch Behandelnden der integrative Dialog verlangt. Diesen hoffen wir mit diesem Heft zu fördern.