Psychother Psychosom Med Psychol 2001; 51(7): 265-266
DOI: 10.1055/s-2001-15626
EDITORIAL
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Integrating Psychiatry, Psychoanalysis, Neuroscience”[1]

Neue Töne auf den Jahrestagungen der American Psychosomatic Society (APS) and der American Psychiatric Association (APA)„Integrating Psychiatry, Psychoanalysis, Neuroscience”
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Die verblüffte Reaktion des Publikums ließ deutlich werden, dass unser Selbsterleben noch nicht nachvollzogen hat, dass uns jede menschliche Begegnung nicht nur psychisch, sondern auch biologisch verändert. „After leaving this lecture your brain and its synapses will not be the same as before”, so Eric Kandel vor mehreren tausend Hörern der diesjährigen Jahrestagung der American Psychiatric Association (APA) Anfang Mai 2001 in New Orleans. Eric Kandel und Gerald Edelman, die beiden Medizin-Nobelpreisträger unter den Hauptrednern, umkreisten das zentrale Thema des APA-Kongresses: Zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen - übrigens nicht nur gute oder traumatisierende, sondern auch psychotherapeutische! (!) - hinterlassen Spuren im Gehirn: Sie verstärken oder schwächen synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen, sie erzeugen oder verändern neuronale Netzwerke in Hirnrinde und emotionsregulierenden subkortikalen Strukturen, und: Sie justieren endokrine (Stress-)Antwortmuster des Individuums. Die Vorträge Otto Kernbergs („Psychoanalysts and neuroscientists converse”), Mark Barads (der über „a biological analysis of transference” sprach) und Leo Rangells zu diesem Thema gehörten zu den bestbesuchten Veranstaltungen dieses psychiatrischen (!) Kongresses.

Nur wenige Wochen vor der APA hatte sich im März 2001 der Jahreskongress der American Psychosomatic Association (APS) unter der Überschrift „Neurobiology of Emotion” in Monterey von der anderen Seite her dem Thema angenähert. Der Primatenforscher David Amaral, Daniel Tranel (aus der Gruppe um Antonio Damasio) und andere gaben faszinierende Einblicke in die neurobiologischen Korrelate psychischer Prozesse [3] [11]. Psychosomatiker und Psychotherapeuten ließen sich über Hypothalamus und Hirnstamm als Ort der unbewussten Regulation vitaler Bedürfnisse und Antriebe, über den anterioren zingulären Kortex als Ort des Selbstgefühls und über die Amygdala belehren, ohne die wir nicht in der Lage sind, emotional bedeutsame Zeichen anderer zu verstehen. Es ist soweit: Psychoanalysis meets Neurobiology. Wer jetzt - sowohl im psychotherapeutischen bzw. psychoanalytischen als auch im neurowissenschaftlichen „Lager” - nicht aufwacht und die Ergebnisse der anderen Seite nicht wahrzunehmen bereit ist, den wird - in Anlehnung an Gorbatschows berühmten Satz - das Leben bestrafen.

Die Anfänge der Revolution, die wir in unserem Fach derzeit erleben, lagen in den späten 70er und 80er Jahren und sind heute schon fast vergessen. „Enriched and impoverished environments: Effects on brain and behavior” war der Titel einer 1987 von Renner u. Rosenzweig verfassten Übersicht über Studien, in denen - vorzugsweise an Versuchstieren - gezeigt worden war, dass stimulusangereicherte Umgebungsbedingungen (positive) Effekte auf Zahl und Verzweigung (Arborisation) kortikaler Neurone, auf das kortikale Gesamtvolumen sowie auf weitere, insbesondere neurophysiologische und behaviorale Parameter haben [10]. Bahnbrechend wirkten jedoch erst die Arbeiten von Michael Merzenich über das plastische Veränderungspotenzial sensibler und motorischer Karten der Hirnrinde [9]. Hinweise auf Merzenich waren vor allem bei jenen Rednern, die auf der diesjährigen APA-Tagung über die neurobiologischen und psychischen Folgen von Traumaerfahrungen sprachen, fast die Regel (als ich 1994 in Freiburg eine Tagung über neuronale Plastizität ausrichtete [1], zu der auch Rosenzweig u. Merzenich eingeladen waren, galten deren Erkenntnisse unter den seinerzeit rein molekular bzw. reduktionistisch ausgerichteten Teilnehmern noch als hochgradig suspekt).

Dass nicht nur sensorische Eindrücke und motorische Handlungsmuster, sondern alle Interaktionen zwischen Person und Umwelt in neuronalen Netzwerken des Gehirns kodiert werden, verdeutlichte auf der APA-Tagung insbesondere Gerald Edelman („How matter becomes imagination”). Wahrnehmungen innerhalb einer Sinnesmodalität werden in den Verschaltungen kleinerer Nervenzellverbände kodiert. Polymodale Eindrücke sowie Erleben und Verhalten in supramodalen Kontexten führen zu spezifischen Simultanaktivierungen zahlloser solcher Nervenzellverbände, und zwar wiederum mit feinstrukturellen Folgen: „Neurons that fire together wire together”, das heißt, zwischenmenschliche Erfahrungen werden zu einem neuronalen Skript (wir spüren, wie die Neurobiologie plötzlich lange bekannten Phänomenen wie z. B. dem Wiederholungszwang über die Schulter blickt). Indem es sich selbst konstruiert, konstruiert das Gehirn Vorstellungen über die Beziehungen zwischen sich und seiner Umwelt [2]. Edelmans Mitarbeiter Guilio Tononi zeigte, dass sich faszinierende Aspekte dieses neuronalen Konstruktionsprozesses aus magnetenzephalographischen Ableitungen der Hirnaktivität (z. B. als „Complexity” und „Coherence”) herausdestillieren lassen.

Als unglaubwürdig oder unwissenschaftlich abgewertete Studien über die psychischen Folgen perinataler und frühkindlicher Beziehungserfahrungen, jahrelang als „Folklore” abgetane Untersuchungen über den Einfluss von Traumaerfahrungen bei zahlreichen schweren psychischen Störungen: Nun plötzlich standen bei der Tagung der amerikanischen Psychiater Forschungsfelder im absoluten Mittelpunkt des Interesses, denen noch vor fünf Jahren keine lange Lebensdauer mehr vorausgesagt worden war. Offenbar bedurfte es erst der faszinierenden Arbeiten von Michael Meaney und anderen Gruppen über „maternal care and the development of stress responses” und über die biologischen Folgen von Traumaerfahrungen [5], damit nun als „gesichert” gelten kann, was Freud, Winnicott u. Bolwby über die langfristige Bedeutung frühkindlicher Beziehungserfahrungen lehrten. Auf der APS-Tagung war es Charles Nemeroff, der in seiner „Barclay Award Lecture” zusammenfasste, was wir heute über die Folgen frühkindlicher Deprivation und Traumatisierung mit Blick auf eine lebenslange Hypersensitivität des Stresssystems der HPA-Achse und auf das sich daraus ergebende Risiko für depressive (und andere) Erkrankungen wissen. Was dies gesundheitspolitisch bedeutet, z. B. bezüglich der Notwendigkeit zur Hilfe für depressiv erkrankte Mütter und deren Kinder, ist noch lange nicht aufgearbeitet.

Inzwischen ist empirisch gesichert, dass Vernachlässigung oder frühe bzw. frühere Traumatisierungen bei einigen klinischen Störungen eine pathogenetisch erstrangige Rolle spielen: bei dissoziativen Störungen, bei den Borderline-Syndromen, bei einem Teil der schweren depressiven Störungen und Angsterkrankungen, bei Schmerzerkrankungen sowie beim posttraumatischen Stresssyndrom. Vor dem Hintergrund des oben Gesagten erfuhr die letztgenannte Störung (engl. „PTSD”) bei der diesjährigen APA-Tagung besondere Beachtung. Symposien, bei denen Rachel Yehuda, Donald Klein, Jeremy Coplan und andere ihre Ergebnisse präsentierten, zeigten, wie verheerend sich Erfahrungen in neuronale Strukturen eingraben können: PTSD-Betroffene erleiden nicht nur psychische Symptome (Intrusionen, Hyperarousal, Angst, Schlafstörungen etc.), sondern unterliegen auch neurobiologischen Folgeschäden (Volumenverminderung des Hippokampus, massive endokrine Dysregulation der hypothalamisch-hypophysären-adrenalen Achse). Angstauslösende Stimuli erzeugen bei PTSD-Patienten eine exzessive Aktivierung der Amygdala, gefolgt von einer massiven Freisetzung von Noradrenalin. Auch „masked fearful stimuli”, d. h. Angstauslöser, die vom Bewusstsein des Betroffenen nicht wahrgenommen werden, führen zu dieser Aktivierung des Mandelkerns: nebenbei ein eleganter neurobiologischer „Nachweis” des Unbewussten und seiner dynamischen Kräfte.

Last not least bedeutet neuronale Plastizität aber nicht nur, dass das Gehirn - entlang seiner Beziehungserfahrungen - sich selbst, sondern dass es auch die „Peripherie” des Körpers zu verändern vermag. Die Tagungen von APS und APA zeigten, dass dies vor allem die beiden Erkrankungen betrifft, welche die Spitzenplätze in der Statistik der Todesursachen belegen: Herz-Kreislauf- sowie maligne Erkrankungen. Auf der APS-Tagung ergriff Nancy Frasure-Smith die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf die enorm bedeutsamen Studien (vor allem aus ihrer eigenen Gruppe) zum Einfluss depressiver Störungen auf Entstehung und Verlauf der koronaren Herzerkrankung (KHK) zu lenken [4] [6]. Hochsignifikant schlechtere Verläufe einschließlich verkürzte Überlebenszeiten bei komorbid vorhandener Depression sind mittlerweile nicht nur für die KHK, sondern auch für einige Tumorerkrankungen, insbesondere für den Brustkrebs der Frau, empirisch belegt [7] [12]. Doch ebenso belegt ist auch, dass psychotherapeutische Interventionen sowohl auf den Verlauf der KHK als auch beim Krebs signifikant günstige Effekte haben [7] [8]. Demnach kann Psychotherapie neuronale Plastizität in antipathogener Richtung in Bewegung setzen. Neue, reizvolle Perspektiven unserer klinischen Arbeit!

1 Leitthema des diesjährigen APA-Jahreskongresses der amerikanischen Psychiater (!).

Literatur

  • 1 Bauer J C. ed . Synaptic plasticity of the cortex.  Behavioural Brain Research (Special Issue). 1996;  78 1-72
  • 2 Edelman G M, Tononi G. A universe of Consciousness: How matter becomes imagination. New York; Basic Books 2000
  • 3 Emery N J, Amaral D G. The role of amygdala in primate social cognition. In: Lane RD, Nadel S (eds) Cognitive Neuroscience of Emotion. New York; Oxford University Press 2000
  • 4 Ferketich A K, Schwartzbaum J A, Frid D J, Moeschberger M L. Depression as an antecedent to heart disease.  Archives of Internal Medicine. 2000;  160 1261-1268
  • 5 Francis D D, Meaney M J. Maternal care and the development of stress responses.  Current opinion in Neurobiology. 1999;  9 128-134
  • 6 Frasure-Smith N, Lesperance F, Gravel G, Masson A, Juneau M, Talaijc M, Bourassa M G. Social support, depression, and mortality during the first year after myocardial infarction.  Circulation. 2000;  101 1919-1924
  • 7 Grossarth-Matjcek R, Eysenck H J, Boyle G J, Heeb J, Costa S D, Diel I J. Interaction of psychosocial and physical risk factors in the causation of mammary cancer, and its prevention through psychological methods of treatment.  J Clin Psychol. 2000;  56 33-50
  • 8 Linden W, Stossel C, Maurice J. Psychosocial interventions for patients with coronary artery disease: a metaanalysis.  Archives of Internal Medicine. 1996;  156 745-752
  • 9 Merzenich M M, Recanzone G H, Jenkins W M, Nudo R J. How the brain functionally rewires itself. In: Arbid M, Robinson JA (eds) Natural and artificial parallel computation. Cambridge USA; MIT Press 1990: 177-210
  • 10 Renner M J, Rosenzweig M R. Enriched and impoverished environments. Effects on brain and behavior. Reihe „Recent Research in Psychology”. New York; Springer 1987
  • 11 Tranel D, Bechara A, Damasio A R. Decision making and the somatic marker hypothesis. In: Gazzaniga MS (ed) The new cognitive neurosciences. Cambridge, USA; MIT Press 2000
  • 12 Watson M, Haviland J S, Greer S, Davison J, Bliss J M. Influence of psychological response on survival in breast cancer.  Lancet. 1999;  354 1331-1336

1 Leitthema des diesjährigen APA-Jahreskongresses der amerikanischen Psychiater (!).

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer

Oberarzt der Abteilung Psychosomatik
Universitätsklinikum Freiburg

Hauptstraße 8

79104 Freiburg

Email: Joachim_Bauer@psysom.ukl.uni-freiburg.de

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