1. Vom Ursprung der Bilder
1. Vom Ursprung der Bilder
Abbildung 1: On Kawara, Bathroom Blatt
1
On Kawaras Bilder, um die es in diesem Aufsatz gehen soll, sind in
der Gestaltauffassung des Expressionismus, genauer im Stile des Surrealismus
gemalt. Gosztonyi schreibt über surrealistische Malerei:
„Indem er (der Künstler J.P.) nämlich das Motiv
gestaltet, entfremdet er es seiner Wirklichkeit. Das Sujet - die Person,
die Landschaft, der Gegenstand - verliert dabei seine
naturgemäße sinnliche Erscheinungsweise und erscheint im Bild zwar
wiedererkennbar, doch der anschaulichen Wirklichkeit nicht mehr voll
entsprechend. Denn bei Expressionismus dominiert in der Gestaltung nicht das
sinnliche, sondern das seelische Erlebnis” [1]
p. 56).
Dem subjektiven Erlebnis der persönlichen Intuition ausgesetzt,
konnten Künstler schon weit vor Ausbruch der Katastrophe des 1.Weltkriegs
die in Europa sich anbahnende Bedrohung erspüren und in ihren Werken
gestalten. Erwähnt sei hier nur die Nähe der deutschen
Expressionisten zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Philosophie Friedrich
Nietzsches, die sich nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der
Literatur niederschlug. Noch einmal Gosztonyi: „Darum herrschen in den
expressionistischen Werken seelische Werte oder innere Zustände vor, wobei
im Bild die anschauliche Wirklichkeit eine mitunter völlige Umgestaltung,
nicht selten eine Deformation erfährt. Nicht das Dargestellte steht dabei
im Vordergrund, sondern das Erlebnis-Moment” (ebenda p. 57). In der
expressionistischen Malerei vergegenständlichen sich die inneren und
äußeren Katastrophen eines Menschen in seiner Lebensumwelt und
obwohl dieser Ausdruck zeitgebunden erscheint, so ist er doch ein Verweis auf
das Bedrohtsein insgesamt, dieses „nicht in der Welt sein” aus
der wir jeden Moment fallen können. In diesen Werken ist das Bewusste, die
Wahrnehmung der sinnlichen Welt und das Unbewusste, das Erahnen der
„Urerfahrung”, des „Urwissens” wie Klee das einmal
nannte, verbunden. Paul Klee schreibt:
„Alle Kunst ist Erinnerung an das Uralte, Dunkle, von dem
Fragmente im Künstler immer noch leben” (ebenda p. 210).
2. Traumadefinition
2. Traumadefinition
Wie ist nun dieses Trauma beschaffen, dieses individuelle oder
kollektive Trauma, dem der Künstler sich ausgesetzt fühlt und dem er
in einem schöpferischen Prozess eine äußere bildhafte
Gestaltung verleiht?
Das Konzept vom Verlustes der Erinnerung war immer schon das
zentrale Merkmal von Traumatisierung und wurde in den Arbeiten von Janet im
Formbegriff der Amnesie, der Dissoziation oder bei Freud in seiner Theorie der
Verdrängung beschrieben. Der Ort der Verdrängung, der Ort der Amnesie
ist der Raum, in dem all die Dinge aufbewahrt sind, die aufgrund ihrer
traumatischen Schrecklichkeit und schwindelerregenden Konfrontation mit
heftigsten Gefühlen uns den Boden zu entziehen drohen - das
Unbewusste. Dieser lebensrettende Mechanismus der Abspaltung hat seinen Preis:
Amnesie und Verdrängung des Traumas halten Traumata in uns oder auch in
einer ganzen Gesellschaft lebendig - im Untergrund verborgen, aber nicht
minder virulent. Je stärker in einer Gesellschaft die Traumatisierung auf
das Individuum oder die ganze soziale Gruppe einwirkt und diese mit einer
verrückten Realität, einer traumatischen Unbegreiflichkeit
konfrontiert, um so wahrscheinlicher ist das Auftreten traumabedingten
Gedächtnisverlustes, zusammen mit dem Verlust sprachlicher
Ausdrucksfähigkeit - das Vermächtnis der Abwesenheit.
Es bedarf aber auch eines großen Kraftaufwandes, diese
sprachlosen inneren Bilder an ihrem Ort der Verbannung zu belassen, da
persönliche Verletzbarkeit und Schuldgefühle immer wieder zu dem
Punkt zurückführen, der eigentlich aus der Kommunikation
ausgeschlossen sein sollte. Exkommuniziert hat dies Lorenzer einmal genannt.
Diese Traumata, die versteckt unter einer Decke von Zwang zum Funktionieren im
Lebensalltag, Angst vor sozialer Diskriminierung durch andere versteckt sind,
diese Erinnerungen sind da, wenn sie auch scheinbar nicht da sind, auf alle
Fälle sind sie wirksam und werden, wie die deutsche und jüdische
Geschichte zeigt, transgenerativ weitergegeben.
Fischer und Riedesser definieren Trauma wie folgt:
„Psychische Traumatisierung lässt sich definieren als
vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von
Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte
Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt”
[2].
Ein Mensch oder eine größere soziale Gruppe erlebt in
einem extrem bedrohlichen Einzelereignis oder über längere Zeit eine
Diskrepanz zwischen dem, was ihm von außen zugefügt wird und dem,
was die Ressourcen der eigenen Person, der Gruppe bereitstellen, um sich
effektiv zu verteidigen, die Traumatisierung abzuwehren. Es kommt wie im
Tierreich zu einem Zustand des freezing, d. h. zu einem Zustand des
Todstellens, in dem eine geregelte Kampf- oder Fluchtreaktion abgebrochen und
gelähmt ist.
In diesem Zustand hilflosen Ausgeliefertseins, depressiver
Erschütterung zerbricht ein Stück Vertrauen in uns selbst und in die
Welt, wie man sie bisher kannte; für viele nach Extremtraumatisierung wie
KZ, Folter, Krieg wird die Welt ein unsicherer Ort, der sie ängstigt und
in dem sie sich nicht mehr geborgen, angenommen und aufgehoben fühlen.
Um diese innere Blockierung zu verlassen, einen eigenen Stand-Ort,
einen eigenen Flucht-Punkt zu finden, ist es notwendig, sich mit dem Trauma
auseinander zusetzen, um die angefangene Bewegung von Flucht oder Kampf
erfolgreich zu Ende zu führen. Hier hilft vor allem das künstlerische
Schaffen, die symbolische Ebene in Psychotherapie und bildender Kunst.
3. Die Darstellung von Trauma in der Kunst
3. Die Darstellung von Trauma in der Kunst
Wenn wir Traumatisierung als eine unterbrochene Handlung des
Instinktverhaltens oder auch als Blockierung von Informationsverarbeitung in
einer vitalen Bedrohungs- und Herausforderungssituation begreifen, so
könnten wir die Aufgabe des Künstlers darin sehen, diese
Handlungsblockierung darzustellen, die bruchstückhaften Traumaerinnerungen
zu repräsentieren und sie in einem möglichen nächsten Schritt in
einem künstlerischen-therapeutischen Prozess zu einer Synthese zu bringen.
Da der Mensch als Augenwesen überwiegend über den Sinneskanal des
Visuellen die Welt rezipiert, aber auch die traumatische Situation erlebt und
verinnerlicht, kommt der bildenden Kunst bei der Traumaverarbeitung eine
besondere Bedeutung zu. So erfahren wir in der klinischen Arbeit mit
Traumatisierten immer wieder, dass durch Malen und plastisches Gestalten
Traumatisierungen ihren Ausdruck finden, die über Möglichkeit
verbaler Mitteilung weit hinausgehen: sozusagen Spurensuche im Bereich
vergessener Erfahrung. Die Traumatisierung als Geschichte zu erzählen ist
nach einem erreichten Akt der Symbolisierung die letzte Form der
Traumadarstellung und signalisiert schon den Beginn ihrer Verarbeitung. Es sind
die Metaphern und die Bilder, die uns mit dem Unaussprechlichen konfrontieren
und die die Vorlagen, die Schnittmuster für die Erzählungen bilden,
mit wem wir die Traumatisierung in einen narrativen Text, in unsere
Lebensgeschichte verwandeln.
Wir wissen, dass unterschiedliche Menschen auf eine vergleichbar
einheitliche Traumatisierung sehr unterschiedlich reagieren und dementsprechend
auch verschieden leiden. Das Trauma-Ereignis als
einmaliger oder wiederholter, kumulativer Prozess einer Art
Reizüberflutung und die daran anschließende innerpsychische
Verarbeitung dieses „vitalen Diskrepanzerlebnisses” (Fischer und
Riedesser) führt zu dem, was wir Trauma-Erlebnis
nennen, die mehr oder weniger konkrete Repräsentation der Traumatisierung
im Gedächtnis und die Folgen für die weitere Selbst- und
Weltbeziehung. Kernelemente jeglicher Traumatisierung sind das Gefühl
absoluter Hilflosigkeit und des Überwältigtseins mit seiner
Schwächung des Ich und einer Regression auf eine kindliche Erlebensweise.
Des weiteren Betäubung der Affekte, innere und äußere
Erstarrung und Spaltungsvorgänge in der Persönlichkeit des Opfers.
Über längere Sicht geht nun die innerpsychische Beschäftigung
mit dem Traumaerlebnis in Folgezustände über, wie sie in der
ICD-Diagnose posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben werden
(Trauma-Folgen).
Um das Trauma darzustellen, kann sich der Künstler nun
verschiedenster Elemente dieses oben genannten psychologischen
Entwicklungsprozesses bedienen und sie in seinem Kunstwerk in gestalterischer
Form akkumulieren.
a. Das Traumaereignis
Die sinnlich überwältigenste Form der Traumadarstellung
ist die künstlerische Reproduktion des Traumaereignisses als solches, das
heißt, eine (hyper)-realistische Wiedergabe des Trauma-Szenarios, mit dem
Ziel, dem Rezipienten selbst bei der Betrachtung des Bildes ein Gefühl
eigener Traumatisierung zu vermitteln. Der Künstler überlässt
hier dem Betrachter völlig die individuelle Weiterverarbeitung und gibt,
durch eine konkordante Identifikation mit dem Opfer, diesen Gefühlszustand
ungefiltert, zum Teil dramatisch verdichtet, an den Betrachter weiter. Der
Betrachter kann sich so als Opfer der Gewalttätigkeit des Künstlers
fühlen.
b. Die Verarbeitung des Traumas zum Traumaerlebnis
Die innere Verarbeitung des Traumaereignisses vollzieht sich
entlang der Verarbeitungskapazität der prämorbiden
Persönlichkeit im Bewussten wie im Unbewussten Bereich anhand gestufter
Schritte. Durch die massive Reizüberflutung und das dadurch
ausgelöste Gefühl absoluter Ohnmacht und Hilflosigkeit kommt es zu
einer Schwächung der identitätserhaltenden Funktionen des Ich. Die
Situation der Traumatisierung schränkt die Ich-Fähigkeit zur
Realitätsprüfung ein, eine Funktion, die über die
Möglichkeit der Trennung zwischen Phantasie und Wahrnehmung die Anpassung
an die Umwelt erst ermöglicht. Im Trauma scheinen unbewusste Phantasien
der frühen Kindheit unmittelbar wahr zu werden; diese Wiederbelebung
infantiler Angstphantasien verwischt die Grenze zwischen Phantasie und
Realität und bietet Raum für künstlerische Gestaltung. Zum
Verlust der räumlichen kommt der Verlust der zeitlichen Orientierung als
Ausdruck einer Ich-Schwächung und dieser Ausdruck findet sich in vielen
Bildern traumatischer Darstellungen. Durch diesen Verlust innerer und
äußerer, zeitlicher und räumlicher Orientierung gezwungen,
verliert das Ich des Traumatisierten immer mehr an Widerstandskraft gegen das
„Unermessliche”, „Unbenennbare”,
„Überwältigende”. Die von außen kommende, zum
Leben notwendige libidinöse, sinnlichen Besetzung, die narzisstischen
Gratifikation durch andere, bricht in sich zusammen: Der Mensch, sein Ich ist
geschwächt und existentiell bedroht, Gefühle von Depersonalisation,
Derealisation verstärken sich - er beginnt sich nicht mehr zu
spüren, sich aufzulösen und schwerelos zu werden.
Ein Versuch, diesen Prozess der „Frakturierung”
aktiv aufzuhalten, ist der Abwehrmechanismus der (Affekt)-Isolierung:
Isolierung heißt ohne Affekt einfach funktionieren zu können, die
Affekte abzuspalten, um im traumatischen Raum noch handeln zu können
- automatisiert und roboterhaft. Diese Ich-Veränderung,
Ich-Betäubung bewirkt aber ein Gefühl des Unwirklichen, des
traumartigen Schwebens, wie es für den Schockzustand der traumatischen
Realität typisch ist. Diese Schwebezustände finden sich in den Werken
vieler Künstler des Expressionismus wieder, vor allem in Bildern des
Surrealismus.
Am Ende dieser innerpsychischen Traumaverarbeitung steht ein sehr
komplexer Mechanismus: die Übernahme der Normen und Wertevorstellungen des
Täters, mit dem zur eigenen Rettung eine Art „frühe
Liebesbeziehung” eingegangen wird - das was wir in der
Psychoanalyse die Identifikation mit dem Aggressor nennen. Diese Relation
zwischen dem hilflosen Opfer selbst und dem übermächtigen Täter,
der in der Lage ist, uns seinen moralischen wie körperlichen Willen
aufzudrängen, nennen wir aus struktureller Sicht den traumatischen Komplex
(traumatisches Introjekt), wir meinen damit einen Vorstellungsinhalt, in dem
die Traumaerinnerungen und die Traumaaffekte verschmolzen sind. Dieser
Traumakomplex muss aus der allgemeinen Psyche abgespalten und vom restlichen
Erleben isoliert werden (Ferenczi [3] nannte das 1933
„ein totes Ich-Stück”), um das Überleben der
traumatisierten Person zu sichern. Dies gelingt nur über den Vorgang der
Depersonalisation, z. T. auch der Dissoziation, Abspaltung, der Amnesie.
Die Persönlichkeit des Opfers zerfällt oft in eine beobachtende
Instanz, die hellwach alles registriert, schreckhaft getrieben bis hin zur
Paranoia und dem Verlustes der Körperlichkeit, der Preisgabe des
Körpers, der oftmals so behandelt wird, wie sich ehemals der Täter
dem Opfer gegenüber verhielt: Er wird geschlagen, zerschnitten,
gequält, gehasst, die Nahrung wird entzogen - im Akte der
Zerstörung, der Einschreibung der Gewaltzeichen gewinnt der schwerelose
Körper wieder Struktur und Form.
c. Darstellung der Langzeitfolgen der Traumatisierung
Viele der oben beschriebenen veränderten Ich-Zustände
und affektiven Stimmungslagen geraten nun im Sinne der Chronifizierung in eine
Verhärtung und Verfestigung. Es sind vor allem Gefühle der immer
wiederkehrenden panikartigen Angst und Hilflosigkeit, der Betäubung oder
Erstarrung, die viele Traumatisierte schildern. Neben Vermeidung und
Übererregung finden wir vor allem Dissoziation, d. h.
Wirklichkeitssprünge, Kontinuitätsbrüche sowohl im zeitlichen
wie räumlichen Erleben. Dabei kehren in diesen dissoziativen
Zuständen alte Bilderwelten zurück, Bilder die normalerweise
notdürftig in Verdrängung gehalten werden und Amnesien darstellen,
d. h. nicht bewusst erinnerbar sind.
4. Traumakunst
4. Traumakunst
Um die Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis zu
überwinden, macht sich der Künstler nun auf die Suche nach einer
Darstellung dieser inneren Prozesse, die er entweder über Identifikation
mit dem traumatisierten Anderen oder durch Spurensuche in sich selbst
erfährt.
„Der verbale Bericht traumatischer Situationen markiert,
zusammen mit der Fähigkeit, eine kohärente und emotional resonante
Geschichte der traumatischen Vorfälle zu erzählen, den letzten
Schritt in der Traumaverarbeitung. Jedoch ist auch klar, dass eine indirekte
Repräsentation des Traumas durch Metaphern und Bilder, wie sie dem
bildnerischen Ausdruck entspricht, das traumatischem Erinnern näher ist
als formal ausgearbeitetes Schreiben es je kann. Bilder stehen der rechten
Gehirnhemisphäre näher, von der angenommen wird, dass sie
traumatische Erinnerungen speichern kann, die der linkshemisphärischen,
verbalen Repräsentation noch nicht zugänglich sind”
[4] p.19).
Abbildung 2: On Kawara, Bathroom Blatt
8
Für Dori Laub und Daniel Podell sind die Gefühle von
Abwesenheit und Leere, von Zerrissenheit und dem Verlust der
Repräsentation die konstituierenden Momente traumatischer Erfahrung, die,
so meinen die Autoren, sich aufgrund des Zusammenbruchs des empathischen
Vertrauens in eine äußere Bindung sich verheerend auf unsere innere
Beziehungswelt auswirkt. Dabei kommt es zu einem inneren Verlust der
„wichtigen Anderen” (significant others) in uns selbst, zu einer
Auslöschung einer primären empathischen Bindung an bedeutende
Bezugspersonern der Kindheit, die uns zeitlebens Selbstvertrauen und
Selbstkohärenz vermitteln. Das Versagen dieser empathischen Bindung
beschreibt Dori Laub folgendermaßen: „Der Besetzungsabzug bzw. das
Scheitern der empathischen Verbindung zur Zeit des Traumas ist das
stärkste Merkmal schwerer Traumatisierung. Der Henker beachtet das Opfer
nicht, das um sein Leben fleht, und die empathische Bindung ist zerschnitten
oder ausgelöscht. Die Folge dieser Auslöschung ist die
Unfähigkeit, eine empathische Beziehung zu sich selbst aufrecht zu
erhalten. Das Versagen der empathischen Bindung führt zum Gefühl von
Abwesenheit, Abriss und Zerbrechen, zum Verlust der Repräsentation, zu
Unfähigkeit, das Trauma zu erfassen und zu erinnern, zum Verlust der
Kohärenz. Der Erfahrung der Überlebenden fehlen Struktur und
Repräsentation - die Fähigkeit, sich und anderen die eigene
Geschichte zu erzählen [5] p. 862).
Für diesen Verlust des Sprechens, der Repräsentation
schlägt Laub und Podell [6] 1995 den Begriff des
„leeren Kreises” (empthy circle) vor. Traumakunst, so schreiben
sie,versucht nun diesen „leeren Kreis”, d. h. die
Abwesenheit von Beziehung, Kommunikation und Empathie, im Kunstwerk zu
repräsentieren, sie stellen also in der Abwesenheit das Kernstück
traumatischer Erfahrung dar. Der Künstler schafft durch seine imaginative
Fähigkeit einen „sicheren Ort”, an dem sich der Gestaltende
und der Betrachter begegnen können. So ist Traumakunst, wie Laub und
Podell sagen, immer dialogisch angelegt, künstlerisches Schaffen immer auf
einen gedachten, nicht anwesenden Dritten hin bezogen, der so im Werk selbst
virtuell anwesend ist. Künstler und Betrachter sind über das Bild
aufeinander bezogen und die bezeugenden Gegenwart des Betrachters wirkt auf den
Künstler zurück. Das unterbrochene Band zu seinem „inneren
Anderen” wird im künstlerischen Tun durch den Bezug zum
vorgestellten Rezipienten geheilt, einem Betrachter, der bereit ist, die
Schrecklichkeit des Bildausdruckes zu bezeugen und empathisch zu erfühlen.
Der Künstler sucht Mitfühlung, nicht Betroffenheit, ein empathisches
Zeugnis für das, was er aus sich selbst heraus gestaltet. Dazu ist Distanz
nötig, d. h. Traumakunst darf selbst niemals so traumatisierend
sein, dass der Betrachter selbst sich traumatisiert abwendet, um sich zu
schützen und einer Selbstdestruktion zu entgehen.
Lassen Sie mich noch einmal Fischer zitieren: „Mit dem
Publikum als einem „äußeren Anderen”, der den
sprachlosen Schrecken des Traumas wissen und bezeugen kann, kann der
Künstler den eigenen inneren Dialog mit seinem „internen
Anderen” wiederaufnehmen, der einst durch seine individuelle
traumatische Erfahrung oder die traumatische Erfahrung derjenigen sozialen
Gruppe oder Kultur, welcher der Künstler zugehört, unterbrochen
wurde. Dieses wohlwollende Arbeitsbündnis mit dem Rezipienten ist -
genau wie in der Psychotherapie - der beste Weg, das Trauma effektiv zu
überwinden und die traumatische Erfahrung in dreifachem Sinne des Wortes
„aufzuheben” [4] p. 20).
Somit kann Kunst das Trauma bildlich repräsentieren, aber nicht
benennen, was verständlich macht, warum viele Künstler eine
große Scheu besitzen, ihr Kunstwerk zu erklären und zu
verwörtern.
5. On Kawaras Badezimmerserie
1953 - 1954
5. On Kawaras Badezimmerserie
1953 - 1954
Abbildung 3: On Kawara, Bathroom Blatt
11
a. Die implizite Werkanalyse
Die Serie „The Bathroom” besteht aus 28
Bleistiftzeichnungen auf weißem Papier, zumeist in der Größe
24,8 x 36,4 cm. Zum Teil sind die Umrissformen der Bilder
unregelmäßig und vollziehen so die Dehnung, Stauchung und Faltung
des Raumes in ihrer äußeren Grenze zur Umwelt hin nach. Der Zyklus
scheint vom 1. bis 22. Bild ein repetitives Thema unterschiedlichster Anordnung
und Ausgestaltung, Verformung und Zerteilung der Figuren zu wiederholen (siehe
Abbildung 1 bis 5), die 6 Arbeiten ab dem 23. bis 28. Bild beinhalten eine
deutliche Veränderung der Motivausgestaltung, aber auch des Interieurs
(siehe Abbildung 6 bis 8). Soweit an der Signatur zu erkennen, sind die
Arbeiten 1 bis 24 ausnahmsweise aus dem Jahre 1953. Ab da sind die Blätter
24 - 28 aus dem Jahr 1954 mit der Ausnahme des Blattes 25,
welches die Bildunterschrift von 1953 trägt.
Abbildung 4: On Kawara, Bathroom Blatt
16
Jean-Christophe Ammann schrieb 1994 in einem Ausstellungskatalog
zur Ausstellung von Bildern von On Kawara im Museum für Moderne Kunst in
Frankfurt am Main:
„Das Badezimmer als solches besteht aus einem gekachelten
Raum, aus einer fast immer mit Wasser gefüllten, ebenfalls gekachelten
Wanne, bevölkert von Frauen und Männern, bzw. dem, was von ihnen
übrig geblieben ist: Körperteile, Arm- und Beinstümpfe,
lebendige Gesichter, bei starker weiblicher Dominanz und des öfteren in
Verbindung mit Blut. Die Assoziation mit Gliederpuppen, mit
insekten-ähnlichen, behaarten Wesen, die sich zum Schluss in fast
ungegenständliche Bestandteile und Bruchteile auflösen, relativiert
in keinem Moment das existenzielle Grauen, die von Pocken übersäte
Haut, die Mutation ins androgyne und die peinvolle Schwangerschaft ins
Ungewisse. Ein jedes dieser 28 Badezimmer, ausgehend von einem Prototypischen,
ist ein Ort des Grauens. Gleich einem Guckkasten
observiert der Künstler das Ungeheure, das er selbst generiert. Mit der
Veränderung des Raumes, den er aus den Fugen hebt, verändert er die
fassungslos dieser manipulierten Gewalt ausgesetzten menschlichen Wesen,
verfügt beliebig über ihre Zerstückelung, lässt sie bis zum
Exzess die Absurdität ihres Traumas durchspielen. On Kawara führt
Regie über sein eigenes Trauma: Er beschreibt es mit der obsessiven
Akribie eines Betroffenen, den die entfernte Schockwelle ins Epizentrum der
Katastrophe zurückführt” [7] p.
11).
Abbildung 5: On Kawara, Bathroom Blatt
22
Ergänzend zu dieser beeindruckenden Verwörterung der
Bilder möchte ich auf das helle Licht der dem Betrachter
gegenüberliegenden Stirnwand des Badezimmers aufmerksam machen, welches
ihre größte Helligkeit in den Bildern 1 (siehe Abbildung 1), 2 und 3
besitzt, dann abflaut und manchmal wieder etwas aufleuchtet. Die in vielen
Bildern vorhandene Lichtquelle in einer der Ecken scheint nicht zu
funktionieren, auf alle Fälle gibt es keine Schattenbildung, die darauf
hinweisen könnte. Die Frauenfiguren mit ihren großen Nasen
(Langnasen ist eine Bezeichnung Menschen aus dem Westen) und langen, im Nacken
zusammengefassten Haaren sind übersät mit Pockennarben, häufig
schwanger dargestellt, manchmal androgyn mit Penis, aber in ihrer Physiognomie
nicht typisch japanisch. Auch die Männertorsi mit Brüsten wirken vom
Gesichtsschnitt eher westlich als asiatisch. Neben dem immer wiederkehrenden
Motiv einer Badewanne, manchmal mit Blut gefüllt, manchmal leer, findet
sich häufig ein viereckiger Spiegel, der blind erscheint und nichts zeigt.
Auf einigen Bildern breitet sich Schimmel in den Ecken des Badezimmers aus, auf
anderen sehen wir Blut verspritzt auf dem Boden oder Würmer, die sich
ungehemmt vermehren. Die Figuren sind pockennarbig und auf eine ekelhafte Weise
beharrt.
Abbildung 6: On Kawara, Bathroom Blatt
23
Ab dem 23. Bild (siehe Abbildung 6) ändert sich die Szenerie.
War der Raum bis dahin immer mehr in Unordnung und Verbiegung und Faltung
geraten, so ähnelt dieses 23. Bild wieder dem ersten, ein geordneter Raum,
geordnete Winkelstrukturen, ebenfalls wie im ersten Bild die Badewanne rechts,
jetzt aber eine Kugellampe, die in der Mitte von der Decke hängt und
aufgrund der Helligkeit dahinter wohl auch Licht verbreitet und ein Haufen von
Puppen-ähnlichen Gestalten, die keine Geschlechtsunterschiede mehr
erkennen lassen. In den folgenden Bildern beginnt der Raum schwerelos zu
werden, die Gegenstände, die Lampen und Spiegel lösen sich von den
Wänden, fliegen zusammen mit den „menschlichen”
Teilkörpern, die sich immer mehr in Bruchstücke auflösen und
bald keine Köpfe oder Gesichter mehr erkennen lassen durch den Raum. Im
letzten Bild lassen nur einige Figuren Beziehung zu einem menschlichen Torso
erahnen, die meisten Körper sind zylindrisch oder rund zerstückelt,
der Raum in steter schwebender Bewegung.
b. Der Kontext: Japan zwischen Hiroshima und Ende des
Koreakrieges
Als die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im August 1945
explodierten, war On Kawara gerade 13 Jahre alt. 8 Jahre später malte er
die eben gezeigten Bilder. Nach der verheerenden Verwüstung, die die Bombe
„Little Boy” und „Fat man” über Hiroshima und
Nagasaki brachten, glaubten die erzkonservativen Traditionalisten innerhalb des
japanischen Militärrates immer noch Bedingungen bezüglich einer
Kapitulation stellen zu können. Im Kabinett konnte in Tokio keine Einigung
hergestellt werden und es wurde, unter Bruch aller bisherigen Sitten, der Tenno
gebeten, eine persönliche Entscheidung zu treffen. Obwohl die Amerikaner
der Nicht-Antastung der Souverinitätsrechte des
„Gottkaisers” nicht zustimmten, entschloss sich der Tenno zur
Kapitulation auch unter Verlust seiner Souveränität. Die Rede an sein
Volk wurde auf eine Schallplatte gepresst und über Radio Tokio
ausgestrahlt, Prinzen des Tenno flogen mit dieser Platte zu den kämpfenden
Truppen im Pazifik. So hörten die Bevölkerung Japans und die Soldaten
in den Kriegsgefangenenlagern erstmalig die Stimme ihres Gottkaisers. Er
gestand die Niederlage ein und forderte sein Volk auf, „das Untragbare
zu ertragen” [8] p.76). Viele Leute verstanden
den Tenno zunächst kaum, da seine elegante Hofsprache (und seine hohe
Stimme) von den meisten Menschen nicht verstanden werden konnte.
Am 2. September 1945 wurde die Kapitulationsurkunde unterzeichnet.
Ein paar Tage später landeten US-Truppen in Südkorea, russische
Truppen marschierten in Nordkorea ein. Amerika wurde Besatzungsmacht in Japan
und errichtete sofort eine strenge Zensur, vor allem über die
Berichterstattung der Folgen von Hiroshima und Nagasaki.
Offiziell hatte die Besatzungsmacht Amerika bereits am 9.
September 1945 die Weisung ausgegeben, es dürfe nichts über die
Atombombe und ihre Wirkung in Schrift und Bild berichtet werden. Als dennoch
immer wieder Fotografen und Filmleute auftauchten, um das Unglaubliche und
Nicht- Fassbare in Bildern festzuhalten, wurde am 19. Oktober noch einmal ein
besonderes Fotografieverbot erlassen. Aufnahmen, die aus dieser Zeit stammten,
wurden heimlich gedreht. Jahrelang blieb die Weltöffentlichkeit
uninformiert darüber, was in Hiroshima und Nagasaki wirklich geschah, dass
weiterhin Menschen unter den Folgen der Radioaktivität litten und
verstarben. Besonders die Frage der gesundheitlichen Veränderung durch
Atomschäden wurde zur Irreführung der Öffentlichkeit missbraucht
und immer wieder behauptet, es gäbe keine Schäden, vor allem keine
Erbschäden, Sterilität und Fehlgeburten. Robert Jungk
[9] schreibt im Vorwort zu John Herseys Buch:
Hiroshima 6. August 1945, 8 Uhr 15:
„Dabei werden Behauptungen, dass kommende Generationen
nicht unter Atomschäden leiden müssen, in Hiroshima für jeden,
der Augen und Ohren hat, durch die Existenz der „Hibakushanisie”
widerlegt, dass sind die Söhne und Töchter von Atomopfern, die nun
ihrerseits an Krebs und anderen Krankheiten leiden. Im Gegensatz zu ihren
Eltern, die ihre Leiden lange zu verbergen trachteten, tritt die Mehrheit
dieser zweiten Generation von Betroffenen deutlich und offen für ihren
Anspruch auf besondere Behandlung auf. Natürlich gibt es auch solche
Mädchen und Männer, die ihre „makelhafte Abstammung”
möglichst zu verheimlichen suchen, sei es, um Ehepartner zu finden, sei
es, um ihre Kinder vor Diskriminierung zu schützen” (p.
13 - 14).
Am 15. August 1950 wollte Nordkorea am Tag der Kapitulation Japans
vor 5 Jahren eine Nationalversammlung in Seoul einberufen und überschritt
mit seiner Armee den 38. Breitengrad. Im Westen kam es zu panikartigen
Reaktionen vor allem in Europa und USA, die Angst vor einer weltumspannenden,
kommunistischen Offensive breitete sich aus. Ab 6. November 1950 griffen auch
die Chinesen in den Konflikt ein, so dass am 30. November Truman China mit der
Atombombe drohte. Am 16. November kam es zum nationalen Notstand in den USA,
Friedensverhandlungen begannen erst ab 1. Juli 1951. Ein Friedensvertrag
zwischen USA und Japan wurde am 28. April 1952 geschlossen, daraufhin wurden
200.000 Inhaftierte entlassen und Amnestie für alle Kriegsverbrecher in
Japan ausgerufen. USA war nicht mehr Besatzungsmacht, sondern jetzt
Schutzmacht.
Am 23. April 1952 wurde ein Atombombentest in der Wüste
Nevada live im Fernsehen übertragen, am 23. Juni 1952 kam es zu den
schwersten Luftangriffen auf den Norden Koreas, am 4. November wurde Eisenhower
Präsident der USA. Nachdem die Verhandlungen Anfang Juni 1953 gescheitert
war, einigte man sich am 27. Juli 1953 auf eine Waffenruhe und eine
Grenzziehung am 38. Breitengrad. Dieser Koreakrieg hatte 25 119
US-Soldaten das Leben gekostet, 94 000 Soldaten der UNO und 1,34 Mio.
Soldaten der verbündeten Kommunisten.
In Japan selbst kam es nach der Unabhängigkeiterklärung
am 28. April 1952 an und nach den Maifeiertagen zu massiven Demonstrationen mit
z. T. 5000 Polizisten im Einsatz. Amerikanische Autos wurden verbrannt,
Hunderte von Menschen verletzt und arrestiert, die Regierung erwog
antikommunistische Maßnahmen. In diesem Monat massive Unruhe unter den
Studenten Tokios; die Polizei war über die Zunahme extrem linker
Aktivisten beunruhigt - Arbeitstreiks wurden befürchtet. Am 7. Juni
1952 rieft die Gewerkschaft zum Arbeitskampf auf, dem sich 3,5 Mio. Menschen
anschlossen. Zu dieser Zeit immer wieder beunruhigende Nachrichten aus Korea,
wo die Feindlichkeiten nicht abflauten. Im Juni und Juli
Studentendemonstrationen und Straßenschlachten mit der Polizei,
Molotow-Cocktails flogen, der kommunistischen Partei Japans wurde
aufrührerisches Verhalten vorgeworfen.
Am 5. August 1952 wurden medizinische Befunde der ersten
Atombombenexplosion bei einer internationalen Konferenz erstmalig
veröffentlicht - die Zeitungen berichteten in großer
Aufmachung darüber. Obwohl die Amerikaner, aber auch England weiter
versuchten Informationen über die Folgen der Atombombe zu
unterdrücken, wurden weitere Befunde über Atombombenopfer am 16.10.
bei einer internationalen Ärztekonferenz vorgestellt.
Am 23. Oktober 1952 sendete Dr. Albert Einstein einen
Entschuldigungsbrief an Japan, nachdem er die Bilder der Atombombenopfer
gesehen hatte. Ab 12.11. erste Wasserstoffbombentests der USA, denen weitere
Tests folgen. Ende November flauten die Studentenunruhen ab. Im Januar 1953
wurde ein extra Geheimdienst gegen kommunistische Umtriebe gegründet, der
amerikanische US-Kongressabgeordnete Cole plädierte für den Einsatz
der Atombomben in Korea, um einen Weltkrieg zu verhindern. Die erste
Fernsehübertragung in Japan wurde am 2. Februar 1953 ausgestrahlt.
Am 7. März 1953 titelte eine große Tokioter Zeitung:
„Fehlgeburten, Totgeburten hoch im Verhältnis zum
Aufenthaltsnähe zum Epizentrum der Atombombe”. In einer anderen
Zeitung war am 11. April zu lesen, dass die Suizidrate von Studenten in den
letzten 5 Jahren um 400 % gestiegen seien.
6. Über die Bildern On Kawaras: Versuch einer empathischen
Zeugenschaft
6. Über die Bildern On Kawaras: Versuch einer empathischen
Zeugenschaft
Vorab sei erwähnt, dass autobiographische Hinweise auf den
Künstler On Kawara so gut wie unbekannt sind. Er gilt als Autodidakt in
der Malerei und fiel 1952 erstmals mit der gezeigten Serie. „The
Bathroom” auf.
Abbildung 7: On Kawara, Bathroom Blatt
24
Er gilt als leitendes Mitglied der Schule der grotesken Kunst
(school of grotesque Art), welche die Tokioter Kunstszene ab 1950 dominierte.
Erste Umweltskulpturen in Tokio 1953, dann zwischen 1959 und 1965 Reisen nach
Mexiko, USA, Europa, 1965 ließ er sich in New York nieder. 1966 das erste
„date-painting” (die Darstellung des Datums, an dem das Bild
gemalt wurde, auf einem monochromen Hintergrund).
Durch Fragen von Journalisten zu seinem Werk erschreckt, legte er
sich selbst eine gewisse Isolation in der Kunstszene auf, die er bis heute
pflegt. Er entzieht sich bis heute total den Verpflichtungen aber auch dem
Vermarktungsdruck des modernen Kunstbetriebes, er gibt keine Interviews,
erscheint auf keinen Vernissagen; es gibt keine Fotos von ihm, keine Biographie
ist bekannt, nur die Anzahl der Lebenstage, nicht sein genaues Geburtsdatum. Er
ist der große Unbekannte oder wie er selbst sagt „I am not
existing”. Interessant ist, dass das Wort „On” für
seinen Vornamen aus 3 japanischen Schriftzeichen zusammengesetzt ist. Das
erste, das wie ein „J” aussieht, bedeutet Wasser, das zweite wie
ein „W” mit einem Strich drüber bedeutet Mann in einem
abgeschlossenen Raum oder Gefängnis und das dritte, das untere bedeutet
Nahrung, so dass das Wort „On” auch übersetzt werden kann
mit: „Einem Gefangenen Wasser und Nahrung bringen”.
Was sich in seinem Werk widerspiegelt, so meinen einige
Kunstkritiker, ist das Thema: Zeit - die Unerbittlichkeit der Zeit, die
vergeht, vergeht hin bis zum Tod; sie habe etwas traumatisches, ja bedrohliches
in sich. Das Leben ist nur ein kurzer Moment, eine kurze Unterbrechung in
diesem unermesslichen Strom der Zeit. Seine date-paintings stellten in ihrer
Einfachheit und Schlichtheit eine faszinierende Form der Darstellung des
Phänomens Zeit vor.
Im Vergleich zu der Realisierung von Konzeptkunst der letzten Jahre
(siehe z. B. die Postkarten, die Telegramme) und der minimalistischen
Reduktion des Hauptwerkes in den Datumsbildern seit 1966, überrascht die
figürliche Vielfalt der Zeichnungen und Gemälde aus der Zeit zwischen
1952 und 1956, dem Frühwerk des Malers, welches er in Japan
zurücklies und einem Museum in Tokyo schenkte. „Als On Kawara 1958
Japan definitiv verließ, schenkt er den größten Teil seines
Werkes dem Nationalmuseum of Modern Art in Tokio. Diese großzügige
Schenkung lässt sich in etwa aus der folgenden Perspektive erklären:
Das Werk, das hier in Frankfurt erstmals fast vollständig gezeigt wird,
muss als existentielle Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte Japans schlechthin
gesehen und gedeutet werden” [7] p. 9).
Die Nachkriegsgeneration der japanischen Künstler waren
für alle Stimuli aus dem Ausland hochsensibel. On Kawara kritisierte in
einer Reihe von Aufsätzen auf der einen Seite die japanischen Modernisten,
die blindlings einem westlichen Modernismus folgten, aber auch die dogmatischen
Unterstützer eines sozialistischen Realismus. Von Anfang an wandte On
Kawara sich gegen den normalen Strom japanischer Nachkriegskunst. Er hatte
wenig Geduld mit seinen Zeitgenossen und er beantwortete Fragen zu seinem
Oeuvre und zur Malerei im Allgemeinen häufig schroff und nichtssagend.
Kawara hielt alle menschlichen Wesen für opportunistisch und unterstellte
seinen Kollegen und Kritikern einen Mangel an kritischem Verstand. (Siehe dazu
[10]).
On Kawara wurde 1933 in Karija, einer Kleinstadt in der Nähe
von Nagoia geboren, weit entfernt von den Orten Atombomben Abwürfe. Ob er
durch die Luftangriffe der Amerikaner oder durch andere Kriegseinwirkungen
traumatisiert wurde, ist unbekannt. Des weiteren ist nicht bekannt, ob er oder
Angehörige seiner Familie sich in der Nähe der Atombombenstädte
Hiroshima oder Nagasaki aufgehalten haben. Wie hoch der persönliche
Erlebensanteil der Traumatisierung in den Bildern ist, muss offen bleiben, die
Pathographie des Künstlers in Bezug auf sein Werk bleibt somit leer.
Der psychoanalytischen Tradition folgend versuche ich mich nun
über die Analyse meiner Gegenübertragungsgefühle, meiner
aufsteigenden Bilder und Erinnerungen, meiner Einfälle und
Befindlichkeiten der unbewusste Botschaft dieser Bilder zu nähern,
über die uns On Kawara wenig hinterlassen hat. Diese Bilder haben mich bis
heute sehr beeindruckt und in mir etwas zum Klingen gebracht - auch
über unserer beiden kulturellen Unterschiede hinweg. Mit der Bereitschaft
zur empathischen Zeugenschaft, zur Teilnahme an einem Prozess der
Selbstentäußerung, aber auch der eigenen Selbstheilung, versuche
ich, dem mir fremden Menschen On Kawara näher zu kommen.
a. Der Raum
Der Verstehensprozess erschließt sich etwas leichter, wenn
man weiß, dass On Kawara, der sich selbst als einen intellektuellen
Künstler bezeichnen würde, sich wie viele seiner Malerkollegen im
Tokio der 50. Jahre intensiv mit dem Existentialismus und vor allem mit
Jean-Paul Sartre beschäftigt hatte. Diese Richtung in der Philosophie des
20. Jhr., die die existentielle Grunderfahrung des Menschen wie Leid, Angst,
Krankheit, Tod, die Erfahrung von der Sinnlosigkeit des Daseins reflektierte,
war vielerorts, in Europa wie in Japan ein Reflex auf die Leichenberge des I.
und II. Weltkrieges. Martin Heideggers Buch „Sein und Zeit” war
in Japan gut bekannt, viele Künstler hatten Paris als das Mekka der
Kunstwelt besucht und waren mit vielen Eindrücken über Lebensstil,
Philosophie und künstlerischem Schaffen nach Japan zurückgekehrt.
Dieser hermetisch abgeschlossene und weiß gekachelte
Badezimmerraum mit seinen androgynen Menschenwesen lässt an Jean-Paul
Sartres Theaterstück „Hinter verschlossenen Türen”
denken, welches am 27. Mai 1944 in Paris zur Uraufführung kam. In diesem
Stück bringt Sartre die existenzialistische Hölle, die radikale
Verneinung jeglicher menschlicher Freiheit auf die Bühne. Diese Hölle
ist eine Hotelzimmer, die Türen verschlossen ohne Fenster und Spiegel,
ohne eine Möglichkeit der Flucht. In diesem Raum befinden sich 3 Menschen,
2 Frauen, Ines und Estelle, und der Mann Garcin nach ihrem Tode. Alle haben ein
selbstverpfuschtes Leben hinter sich, die Schuld am Tod eines Menschen ist
ihnen gemeinsam. Ihre wechselseitigen Quälereien kommen aus der
Hoffnungslosigkeit, keine Zukunft mehr zu haben und die eigene Scham über
das verpfuschte Leben nie mehr korrigieren zu können. Sie werden auf ewig
aufeinander angewiesen sein und die ständige beobachtende und
eifersüchtige Anwesenheit des dritten wird jeden Versuch einer liebenden
Zweierbeziehung unterbinden.
Die Badezimmerserie von On Kawara ist eine Fortführung der
Idee Sartres, die er in „Bei geschlossenen Türen” auf die
Bühne brachte. Die 2 Frauen und der Mann, wo jeder „die Hölle
des anderen ist”, sind in diesem weißen sterilen/verseuchten Raum
ersetzt durch verstümmelte menschliche Wesen, die je länger sie sich
miteinander in Beziehung setzen, zerfallen, atomisieren und in technoide
Bruchstücke sich auflösen. Es ist ein sadistisches Spiel, blutig und
grausam, ein Ort existenzieller Einsamkeit und Grausamkeit, ohne
Fluchtmöglichkeit, wie bei Sartre. Am Ende einer sich immer wiederholenden
Selbstzerfleischung und gnadenlosen Verurteilung durch die andere sagt Ines:
„Nun, Garcin? Jetzt sind wir also nackt wie die Würmer; sind Sie
sich jetzt klarer geworden” [11] p. 29). Diese
Würmer hatten in einem der Bilder On Kawaras den Boden übersät
(siehe Abbildung 3, weiter vorne im Artikel).
On Kawara gibt Zeugnis von der Traumatisierung, von den
verschlossenen Räumen und den traumatischen Gefühlen und zwingt uns,
sich mit dem zu beschäftigen, was wir am liebsten ausgegrenzt,
verschlossen, weit weg jenseits unseres Horizonts verbannen möchten. Er
nimmt den Dialog mit uns auf, lässt uns hineinblicken in das Nichtsagbare
in uns, aber auch in seinen eigenen Innenraum, in die Beziehungen der inneren
traumatisierten Welten. Aber ist der Künstler nicht auch der Heiler? Er
ist es doch, der uns den Dialog anbietet, sich mit ihm gemeinsam mit Dingen zu
beschäftigen, die uns ja gerade erschrecken, so dass wir noch einmal
hinsehen müssen, obwohl es uns vielleicht drängt, uns von den Bildern
abzuwenden - und sie als ekelhaft aus unserem Gedächtnis zu
verbannen.
„Sich wehren gegen die Reduktion der Welt auf ein
überwältigendes Gefühl” [12] p.
176) schreibt Reemtsma über die Zeit seiner Geiselhaft in einem
Kellerraum, gelang nur über die Vergegenwärtigung diese Gefühls
im Schreiben, über die Erschaffung eines Ortes außerhalb. Auch der
Vorgang des Malens ist für den Künstler dieser Ort außerhalb
des Gefühls und gleichzeitig in einer dialogischen Wendung zu uns das
Angebot, auch unsere Gefühle der Verletzung an diesen Ort außerhalb
von uns selbst zu verlagern - die Bilder eine Art Container, ein Tresor.
Was ist das für ein Ort, an den uns On Kawara führt?
Ein namenloser Ort, ein Un-Ort, an dem wir keine
Wahlmöglichkeiten haben. Und dies, so schreibt Reemtsma, ist auch das
schlimmste im Moment der totalen Abhängigkeit von denen, die uns von
außen kontrollieren, die die gesamte Macht über uns haben, die
Macht, uns in diesem Raum hin und her zu schütteln, die Wände zu
formen, zu biegen, zu verdrehen und uns in immer wieder kleinere
Bruchstücke durch den Raum fliegen zu lassen. Die Menschen oder die Dinge
dieses Raums haben keine Wahl, sie sind abhängig.
Ich muss an das von Daniel Liebeskind erbaute „Neue
Jüdische Museum Berlin” denken: geneigte Böden, fallende
Wände, verschobene Perspektiven und einsehbare, aber nicht betretbare
Leerräume „the void” genannt, erzeugen eine bedrückende
und groteke Stimmung. Liebeskind hat das Unheimliche in Szene gesetzt, auch zu
verstehen als die betongewordene Wiederkehr des Verdrängten. „The
void” steht wie die Metapher des „leeren Kreises” bei Dori
Laub [5] p. 863) und der Badezimmerraum bei On Kawaras
für das dem Zugriff Entzogene, das Verschwundene, das Abwesende, das noch
zu Vergegenwärtigende. Laub schreibt: „ Der „leere
Kreis” ist nicht wirklich leer, sondern enthält etwas, das nicht
gewusst oder psychisch repräsentiert werden darf- Leerstellen in der
Struktur der Seele” (ebenda).
Nichts tun können, keine Wahl haben, völlig
abhängig sein, ein Wurm, der über den Boden kriecht und
befürchten muss, zerquetscht zu werden. Dieses ist der Tiefpunkt,
vermischt mit Todesangst - die traumatische Zeit vergeht wie in Zeitlupe.
Der Punkt Null des Menschseins in Anbetracht der absoluten Ohnmacht.
b. Der gelebte Raum
In einer Untersuchung über die „gelebte Zeit”
stellt der Psychiater Eugène Minkowski heraus, dass nicht nur die
innerlich erlebte Dauer von Zeit erlebbar ist und sich sozusagen vor uns
entfaltet, sondern dass auch der Raum für die Entfaltung unseres Lebens
unentbehrlich ist ( siehe dazu [13] ).
Anomalien des Raumerlebens wurden bei psychopathologischen
Zuständen verschiedener Krankheitsbilder beschrieben. Neben
Veränderung durch exogene Psychosen wie Vergiftungen oder Drogen ist hier
vor allem an das veränderte Raumerleben bei Schizophrenen, bei Depressiven
oder Wahnhaften zu denken, aber auch bei den uns allen bekannten Zuständen
der Ermüdung, kurz vor dem Einschlafen oder im Traum.
On Kawaras Raum ist eine Begegnung mit der existentiellen
Situation des Menschen in dieser Welt. Der Künstler zeigt eine sukzessive
Zerstörung dieses Raumes und seiner Objekte, d. h. die oben von
Laub beschriebene Zerstörung der Beziehung zu unseren „Inneren
Anderen” durch ein Trauma, unseren lebenswichtigen Erfahrungsraum der
Beziehung, bis zurück zu dem Urraum des Menschen, den Aufenthalt im Raum
des Uterus. Die Räumlichkeit des Leibes zerfällt in leblose
mechanistische und technoide Bruchstücke, parallel dazu bäumt sich
der Raum auf, entfaltet sich und schrumpft, quillt über den Bildrand
hinaus, verbiegt die Linienumrisse und bezieht in seinem Kampf, einem
epileptischen Anfall gleich, die Umwelt des Bildes, d. h. den Raum des
Betrachters selbst mit ein. Die menschlichen Formen im Raum bleiben
beziehungslos zueinander, berühren sich nicht, sehen sich nicht an, aber
nehmen auch keinen Kontakt zum Bildbetrachter auf. Ein Gefühl des
Einsseins mit sich selbst zerfällt ähnlich wie in der Regression der
Traumatisierung durch Gefühle absoluter Hilflosigkeit und
Überwältigtsein.
Auf der Ebene der psychotischen Organisation der
Persönlichkeit ist der Patient bedroht durch den Zerfall der
körperlichen Ganzheit eines kohärenten Körperselbst. Diese
körperlichen Selbstentfremdungserlebnisse (traumatogene Depersonalisation,
Derealisation, Dissoziation) werden häufig durch autoaggressive
Handlungen, wie Schneiden, Brennen, Haare ausreißen usw. abgemildert.
Dieses Körperagieren kann nach Küchenhoff [14] nicht mehr als Ausdruck einer aus der realen
Interaktion abgespaltenen Beziehungsinszenierung verstanden werden, sondern er
beschreibt folgende Lesart: „...:durch das intensive Behandeln (das wie
ein Misshandeln erscheint) soll eine Markierung gesetzt werden, eine
spürbare Grenze eingeführt werden - der Schnitt in die Haut,
das Brennen der Haut mit Zigaretten etc. soll eine Einschreibung erzwingen, ist
die konkretistische Inszenierung einer Einschreibung. Das Körpersymptom
kann nicht als signifikant gedeutet werden, der auf andere verweist, vielmehr
soll durch diese Setzung überhaupt die Lesbarkeit der Welt
wiederhergestellt werden” (S. 31). Die Narbe, die bleibt, ist somit ein
Verweis auf die Selbst-Geschichtlichkeit [15], eine
Beschwörungen gelebter Zeit, als letztem Halt vor einem Sturz in ein
Nichts ohne Zeit und Raum. Nach diesem letzten Punkt kommt die
Selbst-Zerstückelung - die Ausmerzung des als lebensunwert
gefühlten Lebens.
c. Das Schweigen und die Stille
Zwischen 1945 - 52 sorgte die amerikanische
Besatzungsmacht mit einer strengen Zensur in Wort- und Bildmedien dafür,
die Erinnerungen an die Ereignisse von Hiroshima und Nagasaki in der
japanischen Bevölkerung zu verdrängen. Am 17. August 1952, einige
Monate nach dem Inkrafttreten des Friedensvertrages mit den USA, brachte Japans
größte Illustrierte „Asahi Graph” einen Sondernummer
mit den bisher unter Verschluss gehaltenen Fotos von den ersten Stunden nach
der Atombombenkatastrophe heraus. „ Es handelte sich um technisch
unvollkommene, oft unscharfe und verkratzte Aufnahmen, die unmittelbar nach dem
Bombenabwurf gemacht worden waren. Dennoch war der Eindruck, den diese
Höllenbilder machten, ungeheuer. Sie lösten in Japan einen Welle des
Entsetzens und Sympathie für die Opfer des „Pikadon” aus.
Nun erschienen in schneller Folge Artikel, Augenzeugenberichte, Romane und
Filme über dies Thema” [16] p. 267).
Aber nicht nur die Erinnerungen an Hiroshima und Nagasaki standen
in Japan auf dem Index, auch die Auseinandersetzung mit der Kriegsverbrechern
der Japanischen Arme, die Massenvergewaltigungen in Korea und die Todesfabriken
der „Einheit 731” in der Mandschurei. „Diese
berüchtigte Sondereinheit hat mit biologischen und chemischen Substanzen,
die der bakteriellen Kriegsführung dienen sollten, jahrelang
Menschenversuche an Tausenden von Gefangenen vorgenommen. Die Amerikaner hatten
die Ergebnisse dieser Forschungen jedoch als militärisch relevant
eingestuft und konfisziert und sich überdies um die weitere
wissenschaftliche Kooperation der beteiligten Forscher bemüht. Aus diesem
Grund wurden diese Verbrechen in Zusammenhang mit dem Tokyoter
Kriegsverbrecherprozess nicht aufgegriffen und auch in den Jahren danach auf
Weisung der Besatzungsbehörden geheimgehalten”
[17] p.198).
Bis heute herrscht darüber Schweigen in Japan - keine
Entschuldigung an Korea.
Im Auftrag des Magazins „The NEW YORKER” war es dem
amerikanische Kriegskorrespondent John Hersey im Mai 1946 gegen erheblichen
Widerstand von Seiten der amerikanischen Besatzungsbehörden gelungen, nach
Hiroshima zu reisen, um über das Ausmaß des Atombombenabwurfs vom 6.
August 1945 zu recherchieren. Seine Reportage, die als Buch vorliegt, wurde von
der Journalistenschule der New Yorker Universität zur „Reportage
des Jahrhunderts” erklärt. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es
Hersey, 6 Überlebende des 6. August 1945 zu interviewen. In den Augen der
gesunden und normalen Japaner, die den August 1945 überlebten, waren die
Menschen in Hiroshima eine eigene Kaste der Gebrandmarkten, der
„Hibakusha”. „Hi” heißt Leiden,
„baku” bedeutet Bombe, „sha”: Mensch -
über sie zu reden war in den Augen der Japaner peinlich. Es dauerte
mehrere Jahrzehnte, ehe diesen Menschen staatliche Hilfe zuteil wurde, sie eine
Entschädigung erhielten - auch eine Form des großen
Schweigens.
Zu dem Thema „Ein Blitz ohne Donner” heißt es
in dem Buch von Hersey [18]:
„Man hörte nichts von einem Flugzeug. Der Morgen war
still, der Ort kühl und angenehm. Da zerriss ein grauenvoller Lichtblitz
den Himmel. Tanimoto erinnert sich genau, dass der Blitz von Osten nach Westen
ging, von der Stadt nach den Bergen. Es war sozusagen ein flammendes Stück
Sonne.(...) Da nun sein Gesicht an dem Stein lag, sah er nicht, was sich
ereignete. Er spürte einen plötzlichen Druck, und dann regnete es
Holzsplitter und Holzstücke und Bruchstücke von Ziegeln über
ihm. Er hörte kein Getöse” (p. 34). Fast keiner der Einwohner
von Hiroshima erinnert sich, ein Geräusch von der Bombe vernommen zu
haben. Aber ein Fischer in seinem Sampan auf dem Binnenmeer bei Tsuzu sah den
Lichtblitz und hörte eine furchtbare Explosion. Er befand sich etwa 20
Meilen von Hiroshima entfernt. Im Auge des Typoons ist es still.
Zu der Stille heißt es:
„Als Tanimoto, immer noch das Becken in der Hand, den
Park erreichte, war dieser schon gedrängt voll, und es war nicht leicht,
die Toten von den Lebenden zu unterscheiden; denn die meisten lagen still, mit
offenen Augen da. Pater Kleinsorger, dem Ausländer, war das Schweigen im
Heim am Flusse, wo Hunderte schauerlich Verwundeter gemeinsam litten, eines
der
grauenvollsten und furchtbarsten Erlebnisse seines ganzen Lebens. Die
Verletzten waren still; keiner weinte, geschweige denn schrie vor Schmerzen;
keiner beklagte sich; von keinem der Sterbenden hörte man einen Laut.
Nicht einmal die Kinder weinten und nur sehr wenige Menschen sprachen. Und als
Pater Kleinsorger einigen, deren Gesicht durch eine Stichflamme fast
ausgelöscht war, Wasser reichte, nahmen sie ihren Teil, erhoben sich ein
wenig und verbeugten sich dankend vor ihm”. [18]p. 90 - 91)
Wir blicken in einen gekachelten Raum, keine Türe, kein
Fenster. Eine tote Lichtquelle ist zu sehen, und vor uns an der Stirnwand
spiegelt sich helles Licht in dem Weiß der Kacheln, vielleicht ein
Blitzlicht eines Fotoapparates, eines Scheinwerfer, der Lichtblitz der Bombe?
Man blickt in einen hell erleuchteten Raum, die Gegenstände und
menschlichen Wesen werfen keine Schatten. Wir, die Zuschauer, sind wir auch die
Täter dieses Szenarios? Haben wir dieses menschliche Chaos angerichtet und
blicken, wie in die Dunkelzelle eines Folterkellers durch einen Türspion
auf unser Werk - unser inneres Auschwitz? Vor uns die Opfer, die
Zeichnung wie ein Foto, von einem Lichtblitz erhellt, der etwas verborgenes,
tief drin verborgenes, aufleuchten lässt. Eine Momentaufnahme, Protokoll
eines Verbrechens.
d. Der Verlust der Form
Am Morgen des 9. August, 2 Minuten nach 11 Uhr, fiel die zweite
Atombombe auf Nagasaki.
Als Fräulein Sasaki ca. 5 Wochen nach dem Abwurf der
Atombombe in ein anderes Spital verlegt wurde, gibt sie zu Protokoll:
„Von den Dingen, die sie sah, ließ ihr eines
besonders kalte Schauer über den Rücken laufen. Über allem,
über den Trümmern der ganzen Stadt, im Rinnstein, längs der
Flussufer, auf Ziegel- und Blechdächern, auf verkohlten Baumstämmen,
über allem lag eine Decke von frischen, lebhaften, saftigen,
optimistischem Grün - es wuchs sogar aus den Fundamenten
zerstörter Häuser empor. Schon verbarg das Unkraut die Asche, und
wilde Blumen blühten aus dem Skelett der Stadt. Die Bombe hatte die
unterirdischen Organe der Pflanzen nicht nur verschont - sie hatte ihr
Wachstum angeregt. Überall sah man die spitzen Yuccablätter,
Gänsefuß, Schwertlilien, Bohnen mit beharrten Früchten,
Portulak und Sesam und Heidekorn und Fieberkraut... Man hat den Eindruck, als
wäre zugleich mit der Bombe eine Ladung Sennessamen mit abgeworfen
worden.” [18]
p.148 - 149).
Mit der Badezimmerserie unterschied sich On Kawara sehr von der
bildlichen Raumauffassung seinen Kollegen in Japan der 50-er Jahre. Diese
ikonographischen Bilder wurden häufig von europäischen oder
japanischen Betrachtern unmittelbar mit den Bilder der Atombombenangriffe oder
des Holocaust des 2. Weltkriegs assoziiert.
Abbildung 8: On Kawara, Bathroom Blatt
28
Die Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki und die
Konzentrationslager wie Auschwitz/Birkenau waren Vorzeichen für ein
Zeitalter, in denen der menschliche Tod des einzelnen nichts galt - die
Zeit geriet aus den Fugen und mit ihr der Raum. Obwohl die Pocken in Japan zu
dieser Zeit ansteckend waren, sind in Verbindung mit Hiroshima die Gestalten im
Badezimmer mit deren gesprenkelten Haut Erinnerungen an die furchtbaren
kelloiden Hautveränderungen der Bombenopfer, die uns von vielen Bilder
vertraut sind.
Dieses Gefühl von „visuellem Schwindel” beim
Betrachten der Bilder machte auf mich einen tieferen Eindruck, Kawaras Kraft
und Fähigkeit, den Raum darzustellen, überwältigte mich. Um On
Kawaras Vision von Zeit und Raum, der aus den Fugen geht darzustellen,
platziert er die Objekte und die menschlichen Figuren wie in einem Container,
der Raum wird eingedrückt, gedreht, gestaucht, gefaltet entlang
unsichtbaren Achsen. Auch die Ecken des Malgrundes sind abgeschnitten, als ob
das Gesetz der Rechtwinkligkeit, der verlässlichen Form völlig
außer Kraft gesetzt werden sollten. Es ist ein Beispiel der extremsten
Form der Darstellung und Vernichtung des Raumes.
Und die Erzählgeschichte der 28 Bilder: Sie beginnt mit der
Vergegenständlichung des menschlichen Körpers, geht über zur
Fragmentierung von Körperteilen, dann zu Wucherung und Vermehrung dieser
Fragmente und endet mit einer Verwandlung in nichts mehr als Unrat, Abfall,
Teile-Lager mechanischer Roboter.
In dem Motiv des geschlossenen Raums und seiner Unentrinnbarkeit
scheint mir aber noch ein weiteres Motiv versteckt zu sein. Um diese Frage zu
beantworten greife ich auf einen Aufsatz von On Kawara vom Juli 1956
zurück, wo er einen ziemlich seltenen Beschreibung seiner inneren Bilder
von sich als Künstler preisgibt. Er berichtet dort von einem Traum, in dem
er mit einer „großen Menge einer enormen träge-schwammigen
weißen Masse” zusammenstieß. Diese Masse dehnte sich
plötzlich aus und blockierte sein Wahrnehmungsfeld: „... als wenn
ich am Fuß eines unglaublich, unendlich hohen Gebäudes
stünde.” Aber diese großen Massen waren zuerst „nichts
als Bakterien”. Am Ende wundert sich Kawara: „Wenn Quantität
ein bestimmtes Ausmaß erreicht, bedeutet dies nicht notwendigerweise auch
ebenfalls einen Wechsel in der Qualität?” (Zitiert nach
[10] p. 61).
Es geht also um wuchernde Vermehrungen: die Bakterienmassen in
seinem Traum, um Pockennarben auf der Haut in der Figuren in der
Badezimmerserie, um sich ausbreitende Schimmelpilze an der Wand, um Würmer
am Boden aber auch um Schwangerschaft und Missgeburt. Dies alles
repräsentiert Infektion, Krankheit und Wirkung von atomarer Verstrahlung.
Auch in früheren Bildern wie „Der denkende Mann” oder
„Die Ereignisse im Lagerhaus” ( siehe dazu [19] ) findet sich das Thema der Wucherungen. Der
Körper des denkenden Mannes ist bedeckt mit schlimm aussehenden
Hautinfektionen, Ulzera und Beulen, die Wand, der Tisch und der Boden und die
Frau des Schlachters scheint mit Pilzen verunreinigt. Unhehemmtes,
explosionsartiges Wachstum an einem Ort der sterilen Reinheit, der rituellen
Sauberkeit. Entgrenzte Proliferation scheint eine einzigartige
Qualitätsveränderung hervor zubringen, die jenseits eines kritischen
Punkt in eine Katastrophe führt - ich muss an die kritische Masse
von Plutonium denken, die erreicht werden muss, damit die Atomreaktion in Gang
kommt. Für mich repräsentiert das gekachelte Badezimmer die
Unschuldigkeit und gleichzeitig die Krankheit, die Form, die über alle
Grenzen wächst und sich selbst zerstört.
Noch einmal Reemtsma [12]:
„Ich kann wahrscheinlich niemandem plausibel machen, der
nicht ähnliches erlebt hat, dass das wirklich Furchtbare die absolute
Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein ist. Es wird damit ein Stück
Menschsein negiert, das im Tode erhalten bleibt, weil man es vor dem Tod
über das Sterben hinaus phantasieren kann. Wer sein Testament macht,
verfügt über den Tod hinaus, er ist, jedenfalls in seiner
antizipierten Phantasie, über den Tod hinaus „da”. Wer
vollständig ohnmächtig ist, ist bei lebendigem Leibe nicht mehr
„da”. (S.95).
Das ist es: dass die Menschen, die in diesem Bild völliger
Abhängigkeit und Hilflosigkeit in einen Raum gepfercht sind, eigentlich
nicht mehr da sind - dass sie sich auflösen, dass sie zerfallen,
ihre Form verlieren und dort, wo das Trauma das Grauen in seiner Quantität
ein Maß erreicht, dass ein Qualitätssprung einsetzt, dass dort das
Schreckliche sich in etwas verwandelt, was die Züge des Menschlichen
verliert: Die Figuren ab dem 23. Bild erscheinen wie Puppen, wie ein
Reparaturlager einer Puppenfabrik, ein Ersatzteillager, aus denen Puppen und
Roboter sich zusammensetzen lassen, aber keine Menschen. Der Schrecken von
Hiroshima und Nagasaki, aber auch der Holocaust hatte die Menschheit an einen
Endpunkt gebracht, der den Menschen als solches in seiner Existenz in Frage
stellte.
e. Der Verlust der menschlichen Identität
Zur Schilderung der Menschen und ihres Leidens erinnere ich mich
an folgende Stelle in Herseys Report:
„Am anderen Ufer, auf einer höher gelegenen
Landzunge, hob er die schleimigen, lebenden Körper heraus und trug sie die
Böschung hinauf, aus dem Bereich der Flut. Dabei musste er sich
fortwährend sagen: „Das sind menschliche Wesen”
[18] p. 106). Oder an anderer Stelle heißt es
über die Opfer des ersten großen Experiments bei der Verwendung der
Atomenergie: „Als er ins Gesträuch eingedrungen war, sah er, dass
es an die 20 Mann waren, alle in dem gleichen grauenvollen Zustand: Ihre
Gesichter waren vollkommen verbrannt, die Augenhöhlen leer, die
geschmolzenen Augäpfel waren über die Wangen herabgeronnen (sie
mussten, als die Bombe fiel, das Gesicht aufwärts gewandt haben;
vielleicht gehörten sie zur Luftabwehrmannschaft). Ihr Mund war nur noch
eine verschwollene, eitrige Wunde; sie waren nicht imstande, die Lippen so weit
zu öffnen, dass man den Schnabel der Teekanne hätte einführen
können” (ebenda p.117).
Im Exposé zu dem Film „Hiroshima mon amour”
bekennt Marguerite Duras [20] 1964, dass es
unmöglich sei von Hiroshima zu sprechen. Alles was man tun könne,
sei, darüber zu sprechen, wie unmöglich es ist, über Hiroshima
zu sprechen. Das Wissen um Hiroshima sei dabei von vornherein eine
beispielhafte Selbsttäuschung des menschlichen Geistes.
Schon die „normalen” Luftangriffe der Amerikaner auf
Japan hatten enormen Schaden anrichtet. Tokio z. B. wurde am 10.
März 1945 von über 300 B 29-Bombern angegriffen, es wurden
1 700 Tonnen Bomben abgeworfen, 40 % der Stadt völlig
zerstört. 100 000 Menschen starben, 1 Million war wohnungslos.
Insgesamt haben 120 japanische Städte mehr oder weniger heftig unter
diesen Luftattacken gelitten, aber außer Hiroshima und Nagasaki wurden
sie alle mit konventionellen Waffen angegriffen. John Whittier Tread
[21] schreibt in der Einführung zu seinem Buch
„Writing ground zero. Japanese literature and the atomic bomb”:
„Der Terror von Hiroshima und Nagasaki besteht nicht nur aus der Anzahl
der Toten. Die Bombardierung von Japan und auch von Europa tötete
Hunderttausende von Menschen. Was aber heute für unsere Betrachtung der
gegenwärtigen Zivilisation in Rechnung gestellt werden muss ist, dass die
Menschen dieser 2 Städte damals wie heute gezwungen wurden in einem
Kompromisszustand zu leben, der sowohl Leben als auch Tod zur gleichen Zeit
bedeutet und dieses Schicksal ist eine Konsequenz der bloßen Tatsache,
dass sie einen wohlerwogenen und methodischen, menschlichen Plan überlegt
hatten, sie auszulöschen” (p. 8).
Kurihara Sadako [22] verglich Hiroshima
mit Auschwitz und schrieb, dass beide die mechanisierte Form der
Dehumanisierung von Zivilisation bedeuten: „Die Menschheit hörte,
auf Menschheit zu sein und wurde vollständig zu einer Maschine”
(S.10). Es ist einfacher, Menschen mit dem Mittel der Gaskammern oder der
bodenfernen Zündung von Atombomben zu töten als in einer direkten
Konfrontation zwischen Tätern und Opfern. Das Schlimme am Genozid, so
schreibt ein Poet aus Hiroshima ist nicht, dass eine riesige Anzahl von
Menschen auf einmal getötet wurde, sondern, dass während des Sterbens
es nicht länger die Möglichkeit auf einen individuellen, privaten Tod
gab - dass auch hier die Privatsphäre aufgehoben war, der Tod quasi
veröffentlicht. Das Leiden in den Bildern On Kawaras in diesen
Badezimmerzellen hat nichts privates mehr, es ist öffentlich, quasi steril
und maschinell in gekachelten Wänden - obwohl doch das Badezimmer
der Ort der privaten Intimität, des Rückzugs in einen Schambereich
darstellt.
Dieser japanische Holocaust reduziert auch die Menschen von
Hiroshima und Nagasaki auf Objekte, auf Nummern, ausgeliefert einer Maschinerie
des Sterbens. Der Gebrauch der Atomwaffen repräsentiert den Endpunkt
dieser Entwicklung. Früher konnte im Kampf Person gegen Person
entscheiden, lasse ich den anderen leben oder töte ich ihn. Die
Erfahrungen des zweiten Weltkriegs sagen etwas ganz anderes: Wir können
nun uns gegenseitig töten auf eine sehr ähnliche Weise wie wir
Würmer mit Pestiziden eliminieren - Zykon B wurde primär von
der deutschen Pharmaindustrie als Insektizid entwickelt.
Amerika war für Japan sowohl das Land der
„Eroberer” und gleichzeitig der „Befreier”. Denn
mit ihnen kamen auch die Möglichkeit von demokratischen Freiheiten und
rationaler Autonomie. Zum Teil wurden die Greuel von Hiroshima und Nagasaki
auch begrüßt, weil sie den Krieg beendeten und auch ein Ende der
japanischen Militärherrschaft setzt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch in
vielen intellektuellen, schriftstellerisch wie malerischen Verarbeitungsformen
durch die Japaner.
On Kawaras Bilderserien spiegelt auch das erneute Bedrohtsein
Japans in der Zeit des Koreakrieges wieder. Mehrfach hatten amerikanischen
Politiker den Einsatz von Atomwaffen gegen die Kommunistischen Invasoren aus
dem Norden in Korea gefordert, vor allem als die Friedensverhandlungen
stagnierten. Die Amerikaner brachten immer besser wirksamere Atombomben vor der
Haustüre Japans zur Explosion. Am 23.4.1952 titelt eine große
Japanischen Tageszeitung: „Blitze der größten
Atombomen-Explosion aus 200 km Entfernung beobachtet”. Dies in
einer Zeit, in der Japan langsam begann, über die Katastrophen der eigenen
Geschichte zusprechen- mit einem Krieg vor der Haustüre, der in Gefahr
stand, in einen III. Weltkrieg zu münden. Am 12. November 1952 heißt
es in der Zeitung: „Orangefarbene Pilzwolken; U.S. Matrose berichtet
über erfolgreichen Wasserstoffbomben-Test”. Der zweite Akte der
Zerstörungskatastrophe hatte begonnen, und On Kawara begann zu malen.
7. Zeichen der Traumaverarbeitung im Werke On Kawaras
7. Zeichen der Traumaverarbeitung im Werke On Kawaras
Den Vorgang der Traumatisierung kann man sich als eine existenzielle
Bedrohung des Ich vorstellen, mit dem zentralen Gefühl von Hilflosigkeit
und Überwältigung, mit der darausfolgenden Betäubung der
Gefühle, ihrer Erstarrung und einer Spaltung der Persönlichkeit in
einen beobachtenden Teil und einer Projektion des Hasses, welcher eigentlich
dem Täter gelten sollte, auf den eigenen Körper. Dieser unbewusste
Vorgang der Traumaverarbeitung, vom Traumaereignis zum Traumaerlebnis und den
daraus resultierenden längerfristigen Folgen für die durch das Trauma
induzierten unbewussten Phantasien, lässt sich anhand der Bilder On
Kawaras gut verfolgen. Die durch die Reizüberflutung entstehende
Überwältigung und Einschränkung der Realitätsprüfung,
d. h. der geminderten Fähigkeit Phantasie, Traum und Realität
voneinander zu trennen, wird durch die formale Struktur der Bildgetaltung, den
Rückgriff auf die Malweise des Surrealismus ausgedrückt. Die für
das Trauma typischen Verluste der räumlichen und zeitlichen Orientierung
finden sich in der bedrohlichen Auffaltung und Biegung des Raumes, dem Verlust
der Orientierung eines eindeutigen Oben und Unten und der Auflösung des
Bildformates bis hin zur Überschreitung der Bildgrenze zum Beobachterraum.
Der Verlust der zeitlichen Orientierung scheint mir in der exzessiven
Vermehrung, der ungehemmten Proliferation deutlich zu werden, die in sich keine
strukturierte Ordnung mehr beinhaltet, sondern sich sprunghaft darstellt, mit
einer verwirrenden Fülle von Gegenständen und Teilobjekten, die
auftauchen und wieder verschwinden. Durch das Ausgeliefertsein an die
traumatisierende Umwelt oder auch den Täter verliert das Opfer eine von
außen kommende stabilisierende narzisstische Besetzung, bis hin zum
Verlust der Form und der Identität.
Amati [23] schreibt:
„Der Gefangene kämpft darum, weiterhin
äußere und innere Realität unterscheiden zu können, um zu
verhindern, dass das Ganze zu einem schrecklichen Alptraum wird. Hier
entscheidet sich, ob man als Person überlebt oder in einen Zustand totaler
Verwirrung fällt” (p. 235).
Dieser hermetisch abgeschlossene Raum, wie er sich auch in der
Lebenskatastrophe des Sartre Einakters „Hinter verschlossenen
Türen” darstellt, der in seiner Unausweichlichkeit die
Auflösung der menschlichen Subjektivität fordert, stellt sich bei On
Kawara in der Auflösung der Restbestände menschlicher Kultur in
geometrische Körper und Zylinder dar, bis hin zu einem technoiden
Ersatzteillager, das sich auch in einer Werkhalle zur Konstruktion menschlicher
Roboter denken ließe. Die von Traumatisierten beschriebene
Depersonalisation, Derealisation entwickelt sich in diesem Raum hin zu einer
Teile-Welt menschlicher Ersatzstücke. Betrachtet man nun das Trauma nicht
nur unter dem Gesichtswinkel der Analyse der unbewußten Phantasie,
sondern lässt auch die ökonomischen und strukturellen Seiten der
Konfliktverarbeitung zu, dann scheint der Abwehrmechanismus der Isolierung, der
aus ökonomischen Gesichtspunkten eine aktive Ich-Leistung zur Rettung
eines Stück Realitätssinns eingesetzt wird, sich in dem Bild
ebenfalls wiederfinden: Die Restpersonen scheinen affektfrei
„irgendwie” zu funktionieren, das ganze wirkt unwirklich,
traumartig, wie in eine Traumrealität verloren.
Dieser Raum, dieser Un-Ort eines grauenhaften Zustandes
repräsentiert aus einer anderen Sicht das „traumatische
Objekt”, d. h. die Übernahme der Sichtweise des Täters,
seiner Verinnerlichung , die Identifikation mit dem Aggressor. Sie gilt also
den traumatisierenden Aspekten des Täters (seine Gebote und Verbote, seine
Normen und Werte) und sie zielt auf eine Wiederherstellung einer lebensnotwenig
erachteten Beziehung zu ihm. Da der zentrale Angriffspunkt das Ich-Ideal es
Opfers ist, kann sich das vom Täter propagierte Feindbild als Selbstbild
festsetzen und gerät in Konflikt mit den ursprünglichen Werten.
Dieses „traumatische Introjekt” legt häufig abgespalten in
der Psyche des Menschen Zeugnis ab für die Traumatisierung und muss, wie
etwas Fremdes, etwas „Eingefrorenes”, wie etwas
„Totes” abgekapselt werden, um nicht die Restpersönlichkeit
zu überfluten, zu überwuchern wie Pilze und Würmer. Diese
Identifikation mit dem Aggressor, der die Bomben „little boy” und
„fat man” in seinen Flugzeugen über Japan abgeworfen hatte,
galt die Identifikation der jungen japanischen Generation nach 1945. Es war
eine psychisch hoch aufgeladene Situation in Japan, als die USA 1952 der
Unabhängigkeit des Landes zustimmten, militärisch präsent
blieben, Atombomben zur Explosion brachten und mit deren Einsatz in Korea
drohten. Gleichzeitig zeigten die ersten Fernsehbilder, Zeitungen und
Reportagen die Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki.
On Kawara lässt uns einen Blick auf dieses traumatische
Introjekt werfen, eröffnet uns für einen Moment die Türe zu
diesen unbewussten Vorgängen und in einer Blitzlichtaufnahme begreifen wir
die Schrecklichkeit des Beziehungserlebens auf dem Boden massiver
Traumatisierung, wie sie in Japan, aber auch in Auschwitz und an anderen Orten
durch die Apokalypse des Krieges den Betroffenen angetan wurde. Was er in der
Kriegszeit erlebt haben mag, wissen wir nicht - die Bilder lassen etwas
erahnen.
Dieses Zimmer ist das abgespaltene traumatische Introjekt, es ist
eine Momentaufnahme des Zustands derer, die Hersey in seinem Hiroshimabericht
beschrieben hatte. On Kawaras Vermutung, dass ab einem bestimmten Grad von
Quantität sich die Qualität ändert, ist eine Aussage, die gerade
auf die Traumatisierung zutrifft. Sind die individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten einer Bedrohungssituation aufgebraucht, so
kommt es zu der oben beschriebenen Gefahr der Destrukturierung unseres
psychischen Systems und in deren Folge zum Verlust jeglicher menschlicher
Beziehungserfahrung. Das gleiche gilt für Hiroshima, aber auch für
die Erfahrung in Auschwitz.
„Im Zentrum der Holocaust-Erfahrung steht der Zusammenbruch
des empathischen Prozesses. Die kommunikative Dyade zwischen dem Selbst und
seinen guten inneren Objekten bricht auseinander, was absolute innere
Einsamkeit und äußere Trostlosigkeit zur Folge hat. Die traumatische
Realität zerstört den empathischen Schutzschild, den das
verinnerlichte Primärobjekt bildet, und destruiert das Vertrauen auf die
kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit
mitmenschlicher Empathie, nämlich dass andere die grundlegenden
Bedürfnisse anerkennen und auf sie eingehen. Im Trauma verstummt das
innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und
Umwelt”[24] p. 821)
Dieser Verlust des empathischen inneren Anderen, wie Dori Laub
schreibt, zerstört die Fähigkeit, das Trauma zu erzählen und
sich zu erinnern. Erst in der Gegenwart eines empathischen Zuhörers
können die Fragmente über die Vermittlung der Kunst zu einem Narrativ
vereint werden und durch die empathische Zeugenschaft des Betrachters, wird das
traumatische Ereignis re-externalisiert. Diese Bilder zu betrachten, nicht vor
ihnen auszuweichen, ist das mindeste, was wir für die tun können, die
bereit waren, uns dieses Grauen mitzuteilen.