Unser Beitrag folgt in seiner Gliederung den von Fischer
[1]
[2] vorgeschlagenen
„Empfehlungen für den Aufbau wissenschaftlicher Arbeiten nach der
Logik unterschiedlicher Forschungsstrategien”, hier mit Schwerpunkt auf
dem „hypothesensuchenden” bzw.
„hypothesengenerierenden” Typ eines wissenschaftlichen
Beitrags.
Wahl und Begründung der
Themenstellung. Der Untersuchung liegt die folgende Fragestellung
zugrunde: Welcher Zusammenhang besteht bei der Aufnahmekohorte einer
psychosomatischen Station zwischen Eingangssymptomatik und traumatischen
Erfahrungen in der Lebensgeschichte der Patienten? Es handelt sich um eine
Inanspruchnahmeuntersuchung, in der die „administrative”
Prävalenz bzw. Inzidenz (S.40), [3]
„psychosomatischer” Störungsbilder mit psychotraumatischem
Hintergrund überprüft wird. Im Mittelpunkt steht die heuristische
Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen psychotraumatischer
Ätiologie in der Lebensgeschichte der Patienten und ihrer aktuellen
Eingangssymptomatik bei stationärer Aufnahme und damit die Frage nach der
Struktur psychotraumatischer „Prozessverläufe” bzw. der
„Anpassung an das Trauma” im Laufe der Lebensgeschichte. Negativ,
zur Abgrenzung des Themas [1], kann daher festgehalten
werden: Es soll weder die Prävalenz psychotraumatisch bedingter
Störungen bei bestimmten Symptomen oder Krankheitsbildern ermittelt
werden, noch aber die Prävalenz einer psychotraumatischen Ätiologie
bei psychosomatischen oder somatoformen Erkrankungen im allgemeinen. Das Thema
engt sich auf eine pragmatische Frage ein, die für den psychosomatischen
Kliniker relevant ist: „Sofern sich unter meinen Patienten solche
befinden, deren Symptomatik einen psychotraumatischen Hintergrund hat, wie
lässt sich bei ihnen der Zusammenhang zwischen der traumatischen Erfahrung
und ihrer gegenwärtigen Symptomatik verstehen bzw.
erklären?”.
Zur Begründung: Diese spezielle
Fragestellung wurde gewählt, da sie - im Unterschied zu
generalisierenden epidemiologischen Annahmen - für die klinische
Praxis von primärer praktischer Bedeutung ist. „Bei der Diagnose
Hypochondrie muss bei etwa 20 % der Patienten mit einer
psychotraumatischen Ätiopathogenese gerechnet werden” - eine
solche Feststellung wäre zwar von wissenschaftlichem Wert, ihr klinischer
Nutzen bliebe aber begrenzt. Denn wie kann der Kliniker beurteilen, ob bei
seinem „hypochondrischen Patienten” dieser pathogenetische
Zusammenhang besteht? Woran lässt er sich erkennen und wie ist die innere
Logik des Störungsverlaufs beschaffen? Von hier aus kann die Fragestellung
des vorliegenden Beitrags noch einmal folgendermaßen umschrieben werden:
Welches Schicksal haben psychotraumatische Belastungsstörungen im
menschlichen Lebenslauf und durch welche internen oder externen Bedingungen
wird es beeinflusst? Diese Frage wird untersucht bei Patienten, die im
Erwachsenenalter „psychosomatische Störungen”
entwickeln.
Trauma und psychosomatische Symptome - zum Stand der
Forschung
Trauma und psychosomatische Symptome - zum Stand der
Forschung
Der Zusammenhang zwischen dem Erleiden psychischer Traumatisierung
und der Entwicklung psychosomatischer Störungen ist empirisch bisher wenig
untersucht worden, insbesondere Aussagen über mögliche
pathogenetische Zusammenhänge sind zu vermissen. Einige
Untersuchungsbefunde können jedoch Hinweise geben. So ist nach der
Übersichtsarbeit von Green (1994) das psychotraumatische Belastungssyndrom
(PTBS) signifikant verbunden mit den Diagnosen Somatisierungsstörung,
Schizophrenie, Panikstörung, soziale Phobie, Drogenabusus, Depression,
Agoraphobie, einfache Phobie und generalisierte Angststörung. Unter
Katastrophenopfern und Kriegsveteranen fanden sich
25 - 29 % PTBS-Diagnosen, wobei weniger als
6 % der Personen nur an PTBS allein litten [4].
Eine so hohe Komorbidität wirft Fragen auf. Liegen
überlappende Diagnosekriterien vor? Ist die Art der Komorbidität
abhängig von der jeweils erlebten traumatischen Situation oder wird sie
durch genetische Faktoren gesteuert? Schließlich könnten komorbide
Diagnosen auch als eine Reaktion auf PTBS bzw. als eine spezielle
Verarbeitungsform der Störung verstanden werden [4].
Rief und Shaw (1998) berichten vom überzufälligen
Auftreten einer Somatisierungsstörung bei Kriegsteilnehmern und
Katastrophenopfern [5]
[6].
Auch ein Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen und dissoziativen oder
pseudoneurologischen Symptomen wird in der Literatur hervorgehoben
[7]. Ebenso liegen Hinweise vor auf einen Hintergrund
sexueller Gewalterfahrungen bei Frauen mit Somatisierungsstörungen oder
Hypochondrie [8 10]. Ehlert, Heim &
Hellhammer (1998) heben eine erhöhte Prävalenz von sexuellem und/oder
körperlichem Missbrauch in Kindheit oder Erwachsenenalter bei Frauen
hervor, die an chronischen Unterbauchbeschwerden leiden [11 15]. Studien mit essgestörten Patienten
weisen eine weite Spanne (von 7 bis 69 %) bezüglich
Kindheitstraumatisierung auf [16]. Andererseits wurde
Somatisierung selten in Abwesenheit schwerer Traumata angetroffen
[17]
[18]. Insgesamt deutet
also eine Reihe von Befunden darauf hin, dass einige psychosomatische
Erkrankungen als Reaktion auf psychische Traumatisierung verstanden werden
können. Wie spezifisch der Zusammenhang ist und wie er sich erklären
lässt, ist noch weitgehend offen. Hier besteht ein Bedarf an
spezifischeren Untersuchungsansätzen und bereichsbezogener
Modellbildung.
Nijenhuis (1999) beschreibt das Syndrom einer dissoziativen
Störung mit somatoformer Symptomatik: „somatoform
dissociation”. Die Kurzform des von diesem Autor entwickelten
„Somatoform Dissociation Questionnaire” mit 5 Items (SDQ-5) kann
einen Eindruck von der Symptomatik vermitteln. Auf einer 5-stufigen Skala (von
trifft überhaupt nicht zu bis trifft vollkommen zu) werden die folgenden
Fragen beantwortet: „Ich habe Schmerzen beim Urinieren; Mein Körper
oder ein Teil davon ist unempfindlich gegen Schmerzen; ich nehme die Dinge um
mich her anders wahr als gewöhnlich (zum Beispiel, als ob ich durch einen
Tunnel sähe, oder nur Teile eines Gegenstandes wahrnähme); Mein
Körper oder ein Teil davon scheint verschwunden zu sein; Ich kann nicht
sprechen (oder nur mit großer Mühe) oder kann nur
flüstern” [19]. Im Anschluss an jede
Frage wird nach einer möglichen physischen Verursachung gefragt. Soweit
diese ausgeschlossen werden kann, wird das betreffende Item in den Score
für „somatoforme Dissoziation” eingerechnet. Dieser Score
setzt sich aus Symptomen zusammen, die Pierre Janet um die Jahrhundertwende
bereits als kennzeichnend für die Diagnose einer „hysterischen
Störung” in ihrer damaligen Bedeutung betrachtete. Es handelt sich
um verschiedene Formen der Anästhesie (gegen Schmerzen,
kinästhetisch, visuell und motorisch), die Janet als
„dissoziativ” bezeichnete: beruhend auf einer Unfähigkeit
der Patientinnen, den extero- oder enterozeptiven Empfindungskomplex an ihre
(sensomotorischen) Schemata zu „assimilieren”.
Die SDQ-5 kann als ein grobes diagnostisches Screening-Instrument
für somatoforme Dissoziation verwendet werden und weist in einer
Validierungsstudie unter psychiatrischen Patienten dem Fragebogen für
dissoziative Symptome (FDS) [20] vergleichbare Werte
für Sensitivität und Selektivität auf [19]. Psychische Formen von Dissoziation, wie etwa
Amnesien und somatoforme Varianten treten häufig gemeinsam auf. So fanden
Saxe et al., dass 2 Drittel der nach DSM-III-R als dissoziativ diagnostizierten
Patienten ebenfalls die Diagnose einer Somatisierungsstörung
erfüllten [18]. Der klinische Nutzen von SDQ-5
bzw. SDQ-20, der 20-Item-Version [19] oder des FDS
kann in einem ersten Hinweis auf eine psychogenetische Komponente somatischer
bzw. somato-„former” Störungsbilder gesehen werden. Soweit
das Konstrukt der „somatoformen Dissoziation” der Janetschen
Tradition verpflichtet ist, wird davon ausgegangen, dass bestimmte Aspekte des
Körpererlebens in der traumatischen Situation oder unmittelbar danach aus
dem „Körperschema” ausgegrenzt bzw. nicht integriert werden
können und dann ein relatives Eigenleben führen. Das Konstrukt
„somatoforme Dissoziation” bietet einen ergänzenden
Erklärungsansatz für jene Untergruppe psychosomatischer
Störungen, die traditionell als „Konversionsstörungen”
bezeichnet wurden. Der gegenwärtige Forschungsstand legt aber nahe, dass
nicht nur diese speziellen Störungsbilder, sondern ein breiteres Spektrum
psychosomatischer Erkrankungen ätiologisch einen Traumahintergrund
aufweist.
Zusammenfassend erlaubt der gegenwärtige Forschungsstand
folgende Feststellungen: Es existiert einerseits eine bestimmte Affinität
zwischen somatoformen Störungsbildern und Situationen der Speziellen
Psychotraumatologie, wie etwa zwischen schwerer - insbesondere sexueller
-Traumatisierung und somatoformer Dissoziation mit Schwerpunkt auf
Schmerzen im Becken- und Unterbauchbereich oder anderen Formen dissoziierten
Körpererlebens. Andererseits scheint es ein breites Spektrum
„komorbider” Diagnosen zu geben, das von Panikstörung,
sozialer Phobie, Drogenabusus und Agoraphobie bis hin zur generalisierten
Angststörung reicht. Diese „Streubreite” und
„Symptomproduktivität” der psychotraumatischen
Ätiologie kann natürlich die Gefahr eines ausufernden Sprachgebrauchs
mit sich bringen. Wollen wir über den gegenwärtigen Forschungsstand
hinauskommen, so benötigen wir einen näheren Einblick in die
Mechanismen der Symptombildung bei psychotraumatisch verursachten
Störungen, und zwar sowohl von der psychologischen wie von der
somatologischen Seite her. Hier reicht es nicht aus, einerseits Ereignisse,
andererseits Symptome oder nosologische Bilder zu erfassen und miteinander zu
korrelieren. Wohl nicht ohne Grund führen epidemiologische Studien vom Typ
„Ereignis-Symptom-Korrelation”, ohne Berücksichtigung von
„Prozess- oder Verlaufsvariablen”, beim Ergebnisvergleich zu
enormen Streubreiten, wie beispielsweise zwischen 7 und 69 %.
Wünschenswert sind Modelle, die Licht auf die innere Logik der
Symptomentwicklung werfen, den Symptomwandel eingeschlossen, der bei vielen
Störungsbildern zu beobachten ist.
Ansatz der Untersuchung und Wahl der Untersuchungsmethode
Ansatz der Untersuchung und Wahl der Untersuchungsmethode
Wir befinden uns in dem hier umrissenen Forschungssektor
gegenwärtig auf einem Erkenntnisstand, der eine Forschungsstrategie vom
„hypothesensuchenden” bzw.
„hypothesengenerierenden” Typus nahe legt („induktive
Schleife” des empirischen Forschungsprozesses) mit dem Ziel, Modellen
und Theorien zu entwickeln, aus denen sich Aussagen ableiten lassen, die im
Sinne der „hypothesenprüfenden Strategie” an zeitgleichen
oder prospektiven Kriterien getestet werden können („deduktive
Schleife” des empirischen Forschungsprozesses) [21]
[2].
Empirische Domäne und Stichprobe
Die Stichprobe setzt sich aus 17 Männern und 36 Frauen
zusammen. Der Aufteilung in erstvergebene Diagnose nach lagen folgende
Diagnosen vor: Somatisierte Angststörungen (13), Depressive Störung
(6), Essstörung (17), Somatoforme Störung (12),
Persönlichkeitsstörung (1), PTBS (2) und sonstige Diagnose (3).
Häufig waren danach mehrere Diagnosen vergeben worden. Es handelt sich um
Patienten, die sich auf der psychosomatischen Station eines
Allgemeinkrankenhauses einfanden. Im Sinne einer Zeitprävalenz-Stichprobe
wurden die Patienten sukzessive, gemäß ihrer Aufnahme auf der
Station, erfasst. Hinsichtlich der Diagnose wurde entsprechend der Intention,
ein möglichst breites Spektrum „psychosomatischer”
Störungen kliniknah zu erfassen, keine Vorauswahl getroffen. So kann davon
ausgegangen werden, dass eher zufällige Abweichungen von vergleichbaren
Einrichtungen der BRD bei der Patientenpopulation vorliegen. In Bezug auf die
Ausgangsfrage nach einem psychotraumatischen Hintergrund der einzelnen
Störungsbilder erschien dieses Vorgehen gleichwohl erfolgversprechend, da
es sich um eine klinische Population handelt, in der die Wahrscheinlichkeit,
tatsächlich traumatisierte Patienten zu erfassen, gegenüber der
Normalbevölkerung deutlich erhöht ist [22].
Um den vergleichsweise am stärksten traumatisierten Teil der
Untersuchungsstichprobe zu erfassen, wurde als Screening-Instrument das KTI
(Kölner-Trauma-Inventar), Fischer & Schedlich [23] eingesetzt. Mit dieser Gruppe von 16 Probanden wurde
ein intensives traumabezogenes Interviews geführt (KTI-Interview),
ergänzt um Daten, die jeweils im Therapieverlauf zugänglich
wurden.
Weitere Erhebungsinstrumente
Neben dem Kölner Traumainventar als Screening-Instrument
wurden noch weitere Rahmendaten erhoben, die den Überblick über das
Gesamtkollektiv erleichtern. Als Erhebungsinstrumente wurden verwendet:
Gießener Beschwerdebogen (GBB) [24], Fragebogen
zu Dissoziativen Symptomen (FDS) [20]. Am Ende der
psychotherapeutischen Behandlung erhielten die Patienten noch einen Fragebogen
zur Einschätzung ihres Befindens zu Beginn und am Ende der Therapie
(Freiburger Katamnesebogen, FKB), der parallel in einer Therapeutenversion auch
von den behandelnden Therapeuten ausgefüllt wurde, um eine
Einschätzung des Befindens aus 2 unterschiedlichen Datenquellen zu
erhalten (Materialband, S.68 ff.) [21]. Diese
Rahmendaten lagen auch für die Untergruppe der am stärksten
belasteten Patienten vor und fanden Eingang in die systematische qualitative
Analyse. Daneben wurden auch Ergebnisse für die Gesamtgruppe der 53
Patienten ausgewertet, von denen hier nur solche mitgeteilt werden sollen, die
unmittelbar die Frage der Symptombildung in einer Langzeitperspektive
betreffen.
Durchführung und Auswertung
Die Datenerhebung erfolgte zu 2 Zeitpunkten. Einmal bei Aufnahme
der Patienten auf die Station, parallel zu den Erstgesprächen mit den
Therapeuten, sowie am Ende des ca. 3-monatigen Aufenthalts in der Klinik. Eine
als Jahrespraktikantin tätige Diplom-Psychologin führte die
zusätzlichen Testverfahren und traumabezogenen Interviews durch, die
teilweise nicht zur Aufnahmeroutine der Klinik gehörten. Im Gespräch
mit den Psychotherapeuten oder aufgrund der Akten wurden fehlende Daten
ergänzt. Im qualitativen Teil der Studie ging es darum, möglichst
viele und umfassende Informationen über die einzelnen Patienten zu
erhalten. Wie bei kliniknahen Untersuchungen häufig der Fall, hat die
Untersucherin im Rahmen ihrer Dissertation [25] auch
die wichtigsten Auswertungsschritte quantitativer und qualitativer Art
vorgenommen, im Kontakt mit dem Betreuer der Arbeit und den Therapeuten der
klinischen Einrichtung, beispielsweise bei Supervisionen. Im Rahmen der
„hypothesenprüfenden” Methodik ist die fehlende
interpersonelle Trennung von Datenerhebung und -auswertung eher als Mangel zu
sehen, da sie das Kriterium „Objektivität der Auswertung”
bzw. „Durchführung” belastet. Für die Hypothesensuche
ergibt sich möglicherweise ein Vorteil, wenn die Auswerterin ein
anschauliches Bild von den einzelnen Patienten vor Augen hat.
Auswertung - deskriptive Schritte
Deskriptiv ist die Gesamtstichprobe der 53 Patienten durch
folgende Parameter gekennzeichnet. Es zeigte sich im GBB ein im Vergleich zu
anderen klinischen Stichproben überdurchschnittlich hoher
Somatisierungsgrad der Patienten und eine im Durchschnitt eher hohe
Dissoziationsneigung im FDS. Des weiteren war bei den untersuchten Patienten
eine hohe Belastung mit traumatischen Ereignissen zu beobachten. Was die Art
der traumatischen Belastung betrifft, so rangierte die KTI-Kategorie
„Traumatisierung in der Ursprungsfamilie” mit weitem Abstand an
erster Stelle. 98,1 % der untersuchten Patienten erlebten
traumatische Belastungen in ihrer Ursprungsfamilie. Es folgten mit jeweils
mindestens 50 % in absteigender Reihenfolge die Kategorien
Erkrankungen, Unfälle und Berufsleben sowie sexuelle Gewalt, letzteres mit
einem Anteil von 49,1 % der Patienten. Auch bei der subjektiven
Frage „Was hat Sie Ihrer Einschätzung nach am stärksten
belastet?” wurden mehrheitlich belastende Erfahrungen in der
Ursprungsfamilie genannt (von 54,7 %), mit weitem Abstand vor
Erlebnissen sexueller Gewalt und Erkrankung (jeweils 9,4 %). Da
ein Viertel der Befragten beim entsprechenden Item des KTI angab, nicht alle
traumatischen Erfahrungen erwähnt zu haben, ist anzunehmen, dass der
traumatische Belastungswert der Stichprobe eigentlich noch höher ausfallen
müsste. Für das KTI liegen noch keine repräsentativen Normwerte
für Normalbevölkerung und klinische Stichproben vor. Von daher bot
sich als weiterführende Strategie für den qualitativen Teil der
Studie die Auswahl der vergleichsweise - innerhalb dieser insgesamt hoch
belasteten Stichprobe - am stärksten betroffenen Personen an (ca.
ein Drittel).
Qualitativ-induktive Operationen
In diese Phase der Untersuchung ging die Unterstichprobe der 16 am
stärksten belasteten Personen ein. Die Auswertung erfolgte zunächst
auf Einzelfallebene (within-case-Richtung) unter der Fragestellung, welcher
Zusammenhang zwischen den belastenden Erfahrungen und dem gegenwärtigen
Krankheitsbild bzw. der gegenwärtigen Symptomatik zu erkennen ist. In
einem zweiten Schritt wurde dann nach vergleichbaren Mechanismen von
Symptombildung und Symptomwandel im Zusammenhang der Lebensgeschichte gesucht
(cross-case-Analyse). Die im Forschungsmanual von Miles & Huberman (1994)
beschriebenen Operationen wurden der Suche nach wiederkehrenden Mustern im
Untersuchungsmaterial zugrunde gelegt [26]. Da diese
im wesentlichen aus der qualitativen Sozialforschung entwickelte Methodik in
Medizin und Psychologie noch vergleichsweise wenig bekannt ist, soll sie im
folgenden näher charakterisiert werden.
Dieses Verfahren der Datenanalyse bietet vielfältige
Möglichkeiten zur systematischen Daten-Strukturierung, Kategorienbildung
und Schlussfolgerung sowohl auf deskriptiver wie erklärender Ebene. Hierzu
stehen zum einen graphische und tabellarische Anleitungen in Form
unterschiedlicher Matrizen bereit, zum anderen Techniken zum Schlussfolgern,
die ein systematisches Vorgehen gewährleisten und Vorlieben des Forschers
und den Einfluss seiner impliziten Theorien kontrollieren sollen. Zuerst wird
eine Matrix gebildet, welche die Variablen über die Fälle hinweg
auflistet, um einen ersten Überblick zu erhalten
(„monster-dog-matrix”). Aufgrund der Einzelfallanalyse
können Variablen ergänzt werden, die sich bei Vertiefung in das
Material als möglicherweise relevant für die erklärenden
Operationen erweisen. Jetzt werden Teilmatrizen mit einzelnen Variablengruppen
gebildet, die zunächst hypothetisch auf Regelhaftigkeiten durch alle
Fallkonstellationen hindurch hindeuten könnten, geordnet zum Beispiel nach
zeitlichen Sequenzen oder nach vermuteten Verursachungsverhältnissen
(„Vorhersage-Ergebnis-Matrix”). Die Variation der Matrizen wird
fortgesetzt, um Muster zu finden, in denen einzelne Untergruppen oder auch alle
erhobenen Fälle übereinstimmen. Natürlich kann es auch
vorkommen, dass sich keine übereinstimmenden Muster erkennen lassen, die
zur Klärung der jeweiligen Forschungsfrage geeignet sind.
In einem Bild ausgedrückt, funktioniert das Verfahren wie das
Zusammensetzen eines Puzzles. Es werden Teile aus den verschiedenen Fällen
herausgesucht und sukzessiv an den anderen Fällen durchprobiert, nach
einer Logik von Permutationen, die der statistischen
„Cluster-Analyse” ähnelt. Während hier jedoch ein
quantifizierter „geschlossener Variablensatz” vorliegt, der nicht
erweitert werden kann, kann sich bei der qualitativen
„Clusteranalyse” ergeben, dass in der „within-„
oder „cross-case-Richtung” relevante Variablen auftauchen, die
eingangs noch nicht erfasst wurden. Intuition und sich vertiefende Sachkenntnis
des Untersuchers können zur Entdeckung neuer Zusammenhänge im
Material führen, was das Verfahren für die
„Suchmethodik” der „induktiven Schleife” besonders
geeignet macht. An inhaltliche Voraussetzungen, z. B. theoretischer Art,
ist die kombinatorische Methodik nicht gebunden. Themenrelevante theoretische
Kenntnisse aus Medizin, Psychologie oder Sozialwissenschaften können beim
Muster-Erkennen zwar helfen, bieten aber von sich aus keine Garantie, die
relevanten Strukturen im Fallmaterial herauszufinden.
In dieser Untersuchung erwiesen sich 5
Merkmalskonstellationen als geeignet, übereinstimmende Muster im Verlauf
von Traumaverarbeitung und Symptomentwicklung vorherzusagen. Die folgende
Abbildung vom Typ einer „fallgeordneten
Vorhersage-Ergebnis-Matrix” nach Miles & Huberman führt in
ihrer zweiten Spalte die 5 Konstellationen an, die sich als geeignet für
die Vorhersage von Verlauf und Symptombildung (Spalte 7) erwiesen haben. In den
Spalten 3 bis 6 sind Faktoren aufgeführt, die das Störungsbild zu
unterschiedlichen Zeitabschnitten im Lebenslauf positiv oder negativ
beeinflusst haben (das Kürzel PF steht für „protektive
Faktoren”, PTBS ist die Abkürzung für die Psychotraumatische
Belastungsstörung). Die inhaltliche Darstellung der
Untersuchungsergebnisse erfolgt weiter unten.
Tabelle 1: Fallgeordnete
Vorhersage-Ergebnis-Matrix mit Einflussfaktoren auf den Krankheitsverlauf bei
N = 16 Probanden. Nähere Erläuterung im Text.
Fallnummer |
Ausgangslage
( = Traumasituation 1) |
1.
Veränderung beeinflussender Faktor
|
2. Veränderung
beeinflussender Faktor
|
3.Veränderung beeinflussender
Faktor
|
4.Veränderung beeinflussender
Faktor
|
Symptomatik bei
Behandlungsaufnahme Auslöser
|
1 |
PTBS-Vermeidung,
Dissoziation |
Dissoziation,
Essstörung,
weitere
Traumasituation
|
|
|
|
Dissoziation,
Essstörung,
Ablösungswunsch
|
2 |
workaholic,
Dissoziation |
pschogene Schmerzen,
workaholic, Dissoziation,
weitere
Traumasituation, Wegfall PF
|
|
|
|
psychogene Schmerzen,
Dissoziation, Ängste,
Überforderung
im Beruf, Erschöpfung
|
3 |
Dissoziation |
Dissoziation, in Erlebniszustände (switchen),
weitere Traumasituation
|
switchen, Alkoholabusus,
selbstschädigendes + dissoziales Verhalten, suizidal,
weitere Traumasituation, Wegfall PF
|
Switchen,
neuer PF
|
switchen,
psychogene Schmerzen, suizidal,
Überforderungen in Beruf und Familie
|
psychogene Schmerzen,
switchen, selbstschädigendes Verhalten,
weitere Traumasituation
|
4 |
workaholic,
Dissoziation |
workaholic,
Dissoziation, ständige Beziehungswechsel,
weitere Traumasituation
|
PTBS,
Alkoholabusus,
weitere
Traumasituation
|
|
|
psychogene Schmerzen,
depressiv,
weitere Traumasituation, Wegfall
PF, Erschöpfung
|
5 |
neurotische
Konfliktverarbeitung |
|
|
|
|
somatisierte
Angst,
weitere Traumasituation,
Retraumatisierung
|
6 |
workaholic, extreme
Religiosität |
PTBS,
Dissoziation,
weitere Traumasituation,
Wegfall PF
|
psychogene Schmerzen,
suizidal, depressiv, workaholic,
weitere
Traumasituation
|
Workaholic,
psychogene Schmerzen,
neuer PF
|
|
psychogene Schmerzen,
suizidal, depressiv,
Erschöpfung
|
7 |
PTBS-Vermeidung |
PTBS,
Dissoziation,
weitere Traumasituation,
Wegfall PF
|
Tablettensucht,
sich kumulierende
subtraumatische Belastungen
|
|
|
somatisierte Angst,
Erschöpfung
|
8 |
Dissoziation,
switchen |
switchen, dissoziales
Verhalten, depressiv, Alkohol-/ Drogenabusus,
weitere Traumasituation
|
|
|
|
switchen, depressiv,
weitere Traumasituation,
Retraumatisierung
|
9 |
workaholic,
Dissoziation |
workaholic,
Dissoziation, Essstörung,
weitere
Traumasituation
|
|
|
|
Essstörung,
depressiv, Dissoziation,
Erschöpfung
|
10 |
aggressive
Ausbrüche mit Dissoziation |
Endometriose Essstörung, Dissoziation, aggressive
Ausbrüche,
weitere
Traumasituation
|
PTBS,
Dissoziation Essstörung, Endometriose, aggressive
Ausbrüche,
weitere
Traumasituation
|
|
|
Endometriose,
Essstörung, suzidial, Dissoziation,
weitere Traumasituation
|
11 |
Dissoziation,
aggressive Ausbrüche, depressiv |
Dissoziation, depressiv, Unfälle,
weitere Traumasituation
|
Dissoziation depressiv, Unfälle, Drogen-, Alkoholabusus,
Magengeschwüre,
weitere
Traumasituation
|
|
|
depressiv,
Dissoziation psychogene Schmerzen,
Erschöpfung
|
12 |
neurotische
Konfliktverarbeitung |
PTBS, Tabletten-/
Sportsucht, workaholic,
weitere
Traumasituation
|
|
|
|
depressiv,
Essstörung, somatisierte Angst, psychogene Schmerzen,
weitere
Traumasituation, Retraumatisierung
|
13 |
neurotische
Konfliktverarbeitung |
PTBS,
Dissoziation, Alkoholabusus
weitere
Traumasituation
|
PTBS,
Dissoziation,
weitere Traumasituation,
Retraumatisierung
|
|
|
somatisierte Angst,
Dissoziation Schlafstörung,
weitere
Traumasituation, Retraumatisierung
|
14 |
Dissoziation,
psychogene Magenschmerzen, workaholic |
Dissoziation,
psychogene Magenschmerzen, workaholic, Alkoholabusus,
weitere Traumasituation
|
|
|
|
psychogene
Magenschmerzen, Dissoziation, somatisierte Angst,
weitere Traumasituation, Erschöpfung
|
15 |
neurotische
Konfliktverarbeitung |
PTBS,
psychogene Magenschmerzen, Dissoziation,
weitere Traumasituation
|
workaholic,
Sportsucht, Essstörung, Alkoholabusus, Dissoziation,
weitere Traumasituation
|
|
|
Essstörung,
Wundheilungsstörung, Dissoziation,
weitere Traumasituation, Retraumatisierung
|
16 |
Verführerisch-Sein, (Rollen), Dissoziation, aggressive
Ausbrüche |
Verführerisch-Sein, (Rollen), abhauen,
weitere Traumasituation, Wegfall PF
|
Dissoziation Drogenabusus,
weitere
Traumasituation
|
|
|
psychogene
Anfälle mit dissoziativer Amnesie,
weitere Traumasituation,
Ablösungskonflikte
|
Beispiele für Techniken des Schlussfolgerns und
Hypothesengenerierens auf unterschiedlichen Inferenzniveaus sind „Muster
und Themen (von Variablen und Prozessen) erkennen”,
„Plausibilität (Sinn/Glaubhaftigkeit) erkennen”,
„Clustern” ( = Kategorienbildung),
„Auszählen von Phänomenen”,
„Gegensätze/Vergleiche herausarbeiten”, „Variablen
trennen”, „Faktorieren” (Faktoren finden, die beobachtbare
Variablen erklärbar machen), „Beziehungen zwischen Variablen
erkennen” (Wie verhalten sich die gefundenen Variablen zueinander?),
„intervenierende Variablen finden” (Gibt es dritte Variablen,
welche die Beziehung zweier Variablen mit beeinflussen?), eine „logische
Beweiskette herstellen” (Variablen werden in vermutete
Zusammenhänge gestellt, Überprüfung durch Bildung von
„wenn-dann”-Sätzen), „theoretische/konzeptuelle
Zusammenhänge bilden” (Einordnung der gefundenen Ergebnisse in
vorhandene Theorien). Vor allem über Herausarbeiten von Gegensätzen
und schließlich durch Faktorieren kristallisierten sich in dieser
Untersuchung schrittweise die 5 „Verlaufstypen” als
Verabeitungsformen psychischer Traumatisierung heraus.
Hat man auf diese Weise einen Satz von Hypothesen über das
empirische Material aufgestellt, wendet man Techniken zur Testung der Annahmen
an, um die Hypothesen besser abzusichern. Denn häufig treten durch
Vorlieben und Neigungen des Forschers Fehler bei der Interpretation auf, welche
die Ergebnisse abschwächen oder sogar invalide machen können. Miles
& Huberman nennen als die 3 häufigsten Fehlerquellen 1. den
holistischen Trugschluss (zu starke Vereinheitlichung) 2. den Elite-Trugschluss
(Überbewertung der Daten von überdurchschnittlichen -
hinsichtlich Bildung und sozialem Status - Probanden) und 3. das
Einheimisch-Werden (Fähigkeit des Perspektivwechsels verlieren, sich in
den Daten verlieren). Um diese Fehler möglichst weit zu reduzieren, bedarf
es, so Lee (1991), grundsätzlich der Verbindung von 3 unterschiedlichen
Verständnisebenen, nämlich 1. der Sinngebung und Interpretation
unserer Probanden, 2. unserer eigenen Interpretationen dieser Bedeutungen und
3. unserer überprüfenden, theoriebasierten Arbeitsweise
[27].
Beispiele für Techniken der Testung und Bestätigung von
Befunden sind Überprüfung der Repräsentativität (der
Stichprobe), Überprüfung der Forscher-Effekte (Einfluss des Forschers
auf die Probanden und vice versa), Triangulierung (Vergleich der Befunde mit
Aussagen anderer Fälle, Theorien, Methoden, Datenquellen etc.), Beweise
gewichten (Qualität unterschiedlicher Daten beachten),
Überprüfung der Bedeutung von Ausreißern und Extremfällen
(um Hinweise auf Negativfälle zu bekommen), Überraschungen nachgehen
(gibt Hinweise auf implizite Theorien des Forschers), Suche nach Gegenbeweisen
(um Hinweise auf Negativfälle zu bekommen), Wenn-Dann-Tests
durchführen, Ausschließen von Pseudo-Beziehungen, Ergebnisse
replizieren und Ausschließen von konkurrierenden Erklärungen. Dieses
Vorgehen kann Interpretationsfehler minimieren und Interpretationen
intersubjektiv nachvollziehbar machen. So wird ein beständiger Austausch
zwischen dem empirischen Fallmaterial und den entwickelten Hypothesen
vollzogen. Auf diese Weise bleiben die individuellen Fallkonstellationen
erhalten und gehen in die fortschreitende Modell- und Theoriebildung ein.
Insbesondere die fortlaufende Berücksichtigung von Negativfällen ist
ein wichtiger Bestandteil dieser Analysetechnik, der die Qualität der
Interpretation gewährleistet. Wieweit all diese Kriterien in einer
Untersuchung eingehalten wurden, ist für die Qualität der Studie
natürlich von großer Bedeutung [26]
[28]
[21]. Wer sich eines
ausgearbeiteten Verfahrens, wie etwa der Miles & Huberman-Methodik bedient,
kann einen gewissen „Vertrauensschutz” genießen.
Mittelfristig sollte jedoch eine standardisierte, möglichst einfache Form
der Mitteilung erarbeitet werden, welche den Prozess der qualitativen
Erkenntnisgewinnung in seinen wichtigsten Etappen nachvollziehbar macht, um die
Reproduzierbarkeit qualitativer Studien fortlaufend zu verbessern.
Wünschenswert erscheint die Unterstützung der
„Matrizenrotation” durch eine relationale Datenbank mit
beliebigen „Querabfragen” über Fälle und Variablen
hinweg. Für das Dokumentationssystem KÖDOPS [21] ist eine entsprechende Extension zu
Forschungszwecken Vorbereitung. Eine online-Zeitschrift wie PSYCHOTRAUMATOLOGIE
bietet erweiterte Möglichkeiten für Datenaustausch und kommunikative
Validierung, die systematisch genutzt werden sollten.
Ergebnisse
Ergebnisse
In der Einzelfallanalyse zeigte sich die Notwendigkeit, zum
Verständnis der gegenwärtigen Symptome nicht nur die PTBS-Symptomatik
zu berücksichtigen, die ursprünglich in der Lebensgeschichte
aufgetrat, sondern auch persönlichkeitstypische
Kompensationsbemühungen, um die positiven Traumasymptome möglichst
unter Kontrolle zu bringen. Viele Symptome lassen sich so als dynamische
Balance zwischen der ursprünglichen Traumasymptomatik, vor allem den
„positiven”, intrusiven Symptomen einerseits und andererseits den
Kontrollbemühungen der Persönlichkeit verstehen, ihrem
traumakompensatorischen Repertoire. Wir werden diesen klinisch relevanten
Zusammenhang an Fallbeispielen in einem späteren Beitrag detaillierter
darlegen, wollen uns im folgenden jedoch auf Muster beschränken, die sich
in der cross-case-Perspektive abzeichneten. Die Schwierigkeit der
fallvergleichenden Erkenntnisoperation besteht darin, durch systematische
Bedingungsvariation „latente Strukturen” herauszufinden, die
mehrere Verläufe miteinander verbinden. Um einen Überblick über
den Traumaverlauf in einer Lebenszeit-Perspektive zu gewinnen, wurde für
alle Probanden die Symptomentwicklung in Kindheit, Jugendzeit und
Erwachsenenalter aufgelistet (vgl. Tab. [1]),
wie sie im Interview erhoben wurde, ergänzt durch Mitteilungen der
Therapeuten.
In der vergleichenden Fallanalyse zeichneten sich einige kausale
Variablen ab, die bei mehreren Fällen in jeweils vergleichbarer Weise
wirksam wurden. Sie können zu „Verlaufstypen”
zusammengefasst werden, die den Zusammenhang zwischen der PTBS-Symptomatik und
der Einweisungsdiagnose bzw. - problematik verständlich machen. Im
einzelnen handelt es sich um eine leistungskompensatorische
Form der Traumaverarbeitung (Typ workaholic), fortbestehende Angst- bzw.
Vermeidungsverhalten ( PTBS-Vermeidungs-Typ),
Vorwiegen dissoziativer Verarbeitungsformen
(Dissoziationstyp), Suchtentwicklung als
Traumakompensation (Sucht-Typ) sowie ein kontrastierender Mangel an
dissoziativen Phantasien als Kompensationsform („dissoziationsarmer Verlaufstyp” mit Traumatisierung
im Erwachsenenalter, bei überwiegend neurotischer Konfliktverarbeitung in
der Kindheit).
-
Der leistungskompensatorische
Verlaufstyp („workaholic”) ist durch ein Muster der
Traumaverarbeitung durch übermäßiges Arbeiten gekennzeichnet,
das meist schon in der Kindheit beginnt. Diese Kompensationsform hat den
Vorteil, sozial anerkannt zu sein, und wird so häufig über Jahrzehnte
aufrechterhalten. Parallel zur übertriebenen Arbeitsbereitschaft treten
früh in der Entwicklung psychosomatische Symptome auf, die vor allem die
schmerzlichen Aspekte des Traumas vertreten, vorrangig in Form psychogener
Schmerzen und depressiver Verstimmungen. Männer und Frauen scheinen
annähernd gleich häufig dieses Kompensationsmuster zu entwickeln. Von
der Art der Traumatisierung her scheinen Gewalterfahrungen zu überwiegen,
bei den Frauen auch sexuelle Gewalt, sowohl in der Ursprungsfamilie wie auch
in
späteren Lebensabschnitten. Durchgängig kommen Verlusterlebnisse vor,
seien dies die Eltern, nahe Bezugspersonen oder die Heimat. Auffällig im
Vergleich zu den übrigen Verlaufsstrukturen ist das Fehlen
peritraumatischer Dissoziation (Depersonalisation, Derealisation usf.)
während der traumatischen Erfahrung. Anscheinend steht dieser Faktor in
negativer Beziehung zu anderen Verlaufsmustern, wie zum Beispiel zu offenem
PTBS. Hier könnte eine zirkulär-kausale Beziehung vorliegen: die
intrusiven Symptome im PTBS behindern meist eine erfolgreiche
Arbeitsorientierung. Wer andererseits erfolgreich durch Arbeit zu kompensieren
und sich „abzulenken” vermag, besitzt einen gewissen Schutz gegen
die intrusiven Phänomene des PTBS.
-
Beim PTBS-Vermeidungs-Typ besteht die
zentrale Verarbeitung in unterschiedlichen Formen von Vermeidungsverhalten,
um
Angstzuständen zu entgehen. Die Angst entspricht dem intrusiven Anteil des
PTBS, welcher durch Vermeiden meist latent gehalten werden kann. Der
Vermeidungsflügel des PTBS (das C-Kriterium) bestimmt jedoch
Persönlichkeitsentwicklung und Symptombild. Regelmäßig lassen
sich beim PTBS-Vermeidungs-Typ die 3 Kernsymptome des PTBS in unterschiedlicher
Ausprägung, je nach Patient und Zeitpunkt des traumatischen
Verlaufsprozesses, finden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme einer psychosomatischen
Behandlung lautet die Diagnose „somatisierte Angst”. Die
Verbindung von Trauma und Angstsymptomen ist jedoch für den Betroffenen
nicht mehr nachvollziehbar, besonders weil die Angstsymptome in Form von
somatisierter Angst auftreten. Für diese Patienten stellen sich die
Symptome als unverständlich, „aus heiterem Himmel kommend”
dar, weil der intrusive Anteil des PTBS mit der Zeit so unkenntlich geworden
ist, dass ein Bezug zu den traumatischen Ereignissen subjektiv schwer
nachvollziehbar ist. Vermeidung als Form der Kontrolle wird zeitweise auch
durch Suchtmittelmissbrauch unterstützt, als Kontrollmaßnahme gegen
die Intrusionen. Psychosomatische Symptome sind erst spät im Verlauf des
traumatischen Prozesses zu beobachten, meist ausgelöst durch
Retraumatisierung oder weitere traumatische Situationen. Die
Dissoziationsneigung, erfasst über den FDS, scheint eher gering zu sein
mit einem Gesamtwert von maximal 12. Neben allgemeinen und sexuellen
Gewalterfahrungen fallen psychisch kranke bzw. gewalttätige primäre
Bezungspersonen in der Vorgeschichte auf.
-
Dissoziations-Typ. Als Leitmerkmal
erwies sich hier ein auffallend hoher Wert im FDS. Der Verlauf ist vorrangig
durch Traumaverarbeitung mittels verschiedener Formen der Dissoziation
gekennzeichnet. Es findet sich psychische Dissoziation, von dissoziativer
Amnesie über Derealisation, Depersonalisation und raschen Wechsel in
unterschiedliche Erlebniszustände („switchen”). Letzteres
entspricht einer „horizontalen Kontrolloperation”, die sich,
bildhaft gesprochen, nach einem „Drehbühnenmodell” verstehen
lässt (S.112), [29]: die Bühne dreht sich,
und es gibt andere Kulissen, ein anderer Akt wird gespielt. Im Extremfall der
„dissoziativen Identitätsstörung” handelt es sich
jeweils um ein anderes Drama mit neuen Akteuren. Dissoziation dient der
Wiedergewinnung von Wahrnehmungs- und Handlungskontrolle und beginnt meist
schon in der Kindheit. Auch die psychosomatischen oder
„somatoformen” Symptome besitzen Kontrollcharakter (im Sinne
eines „minimalen kontrollierten Ausdrucks- oder Handlungsfeldes”)
[29] und treten in dieser Funktion tendenziell schon
früh im traumatischen Prozess in Erscheinung. Im Sinne von
„primärem und sekundärem Krankheitsgewinn”
stabilisieren die Symptome die Persönlichkeit in Situationen, in denen
Dissoziation als Mechanismus, sich einer traumatischen Belastung zu entziehen,
nicht mehr ausreicht. Alkoholkranke Eltern mit den entsprechenden Erfahrungen
von Gewalt und Vernachlässigung sowie Trennungserlebnisse bilden einen
Schwerpunkt im Traumahintergrund dieses Verlaufstyps.
-
Der Sucht-Verlaufstyp ist durch den
Versuch gekennzeichnet, traumatische Angst und intrusive Erinnerungsbilder
durch Suchtmittelmissbrauch unter Kontrolle zu bringen, was sich als eine Form
der Selbstmedikation verstehen lässt. Im Unterschied zum
PTBS-Vermeidungstyp fungiert die Sucht aber nicht als nachgeordnete und
geringgradig ausgeprägte Begleiterscheinung, sondern stellt eine
eigenständige Form der Verarbeitung dar. Dass diese bis zu einem gewissen
Grad ihren Zweck erfüllt, zeigt sich daran, dass in der Regel keine
ausgeprägteren Manifestationen von PTBS im Verlauf des traumatischen
Prozesses zu beobachten sind. Der Suchtmittelkonsum erfolgt dabei über
Jahre und in eher hoher Dosierung. Die Einnahme von Drogen oder Alkohol dient
einmal als Schutz vor intrusiven Erinnerungen - flankiert in der Regel
durch dissoziative Mechanismen - zum anderen stellt sie eine
Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der Umgebung dar, ohne jedoch zu
große und beängstigende Nähe entstehen zu lassen. Die
Suchtmittel werden also im Sinne einer Wiederherstellung von Wahrnehmungs-
und/oder Handlungskontrolle verwendet. „Psychosomatische”
Symptome ergeben sich teils aus dem Suchtmittelgebrauch, teils auch aus
Versuchen, eine Schonhaltung in der Umgebung zu erzeugen. Oft findet sich in
der Familie dieses Verlaufstyps bereits ein Suchthintergrund, der die
Bevorzugung dieser Form der Traumaverarbeitung begünstigt.
-
Der dissoziationsarme Typ mit neurotischer
Konfliktverarbeitung ist im Sinne einer Leitvariablen durch weitgehendes
Fehlen von Dissoziation bei der Traumaverarbeitung gekennzeichnet, obwohl
„peritraumatische Dissoziation” in der traumatischen Situation
selbst durchaus berichtet wurde. In der Kindheit finden sich meist keine
traumatischen Verarbeitungsmuster, sondern neurotische Formen der
Konfliktverarbeitung, die in belastenden Beziehungen entstehen. Erst im Jugend-
oder Erwachsenenalter werden traumatische Ereignisse erlebt. Dann kann es zu
einem offenen PTBS kommen oder zu Angstentwicklung und Verarbeitungsformen,
wie
sie der Vermeidungs-Typ aufweist. Psychosomatische Störungen werden erst
spät im traumatischen Prozess entwickelt, in Form vor allem von
somatisierter Angst. Der Unterschied zum PTBS-Vermeidungstyp besteht
pathogenetisch wohl vor allem darin, dass die traumatische Erfahrung erst im
Erwachsenenalter oder in der Adoleszenz eintritt. Als Erklärungshypothese
bietet sich die Annahme an, dass die „phantasiebestimmten”
dissoziativen Verarbeitungsmechanismen sich vor allem in relativ frühen
Phasen der kindlichen Entwicklung herausbilden, in den
„präoperationalen” oder frühen „operationalen
Stadien”, während Dissoziation, zumindest als
persönlichkeitstypischer „Kontrollstil”, bei Traumatisierung
in einem späteren Entwicklungsalter nicht mehr dominant wird. Als
„peritraumatische Dissoziation” kommt dieser psychotraumatische
Abwehrmechanismus dennoch vor.
Im Einzelfall kann ein Patient Kennzeichen mehrerer Verlaufstypen
aufweisen, wie auch aus Tab. [1] zu entnehmen
ist. Letztlich ließen sich die Patienten der Untersuchungsgruppe aber
zwanglos einem dominanten Verlaufstyp zuordnen. Das mag in dem Umstand
begründet sein, dass sich die kompensatorischen Strategien ab einem
gewissen Intensitätsgrad gegenseitig ausschließen, wie z. B.
Leistungskompensation und ein exzessiver Suchtmittelgebrauch.
Von theoretischem wie auch klinischem Interesse sind weiterhin
Faktoren, die den traumatischen Verlaufsprozess beeinflussen, sei es indem sie
zur Dekompensation führen und eine Behandlung erforderlich machen oder
indem sie die Traumakompensation festigen und unterstützen. Im einzelnen
wurden folgende 7 Faktoren entdeckt:
-
Weitere traumatische Situationen
-
Wegfall bisheriger protektiver Faktoren
-
neue protektive Faktoren
-
Retraumatisierungen durch Aktualisierung früherer
traumatischer Situationen
-
Erschöpfungserscheinungen und damit verbundenes Scheitern
bisheriger traumakompensatorischer Mechanismen (vor allem beim
leistungskompensatorischen und dem Sucht-Verlauf)
-
zusätzliche Konfliktsituationen neurotischer Art
-
zusätzliche sich kumulierende subtraumatische
Belastungen.
Mit Abstand am häufigsten war Faktor ,1 „weitere
traumatische Situationen”, an Veränderungen des traumatischen
Prozesses beteiligt, und man kann wohl davon ausgehen, dass er der wichtigste
Einflussfaktor ist. Ebenfalls häufig traten die Faktoren „Wegfall
bisheriger protektiver Faktoren” sowie
„Erschöpfungserscheinungen” auf, hiernach der Faktor
„Retraumatisierung”. Die anderen Faktoren waren etwas weniger
häufig zu beobachten und sind in Bezug auf ihren Einfluss als stärker
fallspezifisch, weniger allgemeingültig anzusehen. In Einzelfällen
können sie aber erhebliches Gewicht erlangen.
Eine durchgängige Beobachtung, die aus der vergleichenden
Einzelfallanalyse resultierte, bestand darin, dass die Patienten dieser
Stichprobe überwiegend langjährige Beziehungstraumen erlitten hatten.
So überwogen eindeutig Typ-II-Traumata [30],
also langdauernde, sich wiederholende Erfahrungen. Und es zeigte sich, dass die
traumatisierenden Personen in der Regel nahe Bezugspersonen waren, von denen
die Patienten abhängig waren. Dagegen spielten Typ-I-Traumata (one
single-blow) und Traumatisierung durch Naturkatastrophen oder fremde Personen
eine nachgeordnete Rolle. Sie traten bei einigen Fällen als
zusätzliche traumatische Ereignisse auf, hatten dann aber im subjektiven
Erleben der Betroffenen geringeren Einfluss auf ihr Befinden als die
erstgenannten Formen der Traumatisierung. Somit kann man, zumindest was
Ergebnisse dieser Untersuchung betrifft, das Vorliegen eines Beziehungstraumas
als konstituierenden G-Faktor psychosomatischer Störungen ansehen.
Individuelle Unterschiede wiederum ergeben sich aus der Zuordnung zu den
unterschiedlichen Verlaufstypen.
Kritische Diskussion der Ergebnisse
Dem Ergebnis dieser Studie kommt ein heuristischer Stellenwert im
Hinblick auf Modellbildung und -entwicklung in der Psychotraumatologie
zu. Auch für die klinische Praxis besitzt es einen heuristischen Wert, der
sich am Einzelfall und bei der Erstellung einer individuellen Fall- bzw.
Behandlungskonzeption bewähren muss. Über die „induktive
Schleife empirischer Forschung” [1] (dort
Graphik 1) kann die Studie zur Modellentwicklung und weiteren Theorienbildung
beitragen. Hier geht es ja zunächst darum, ein möglichst breites
Spektrum von Phänomenen aufzugreifen, es systematisch zu strukturieren und
Wirkungszusammenhänge herauszufinden.
Das „Aufspüren” von Regelhaftigkeiten im
Fallmaterial scheint in der vorliegenden Untersuchung in einer Weise gelungen
zu sein, die einen gewissen Grad an Plausibilität für sich in
Anspruch nehmen kann. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse wird allerdings
von 2 Seiten her begrenzt. Einmal durch die Eigenart der Stichprobe und den
Selektionsfaktor „psychosomatische Station”. Von daher kann nicht
erwartet werden, alle denkbaren bzw. real vorhandenen Verlaufsmuster der
Traumaverarbeitung zu erfassen. Zum anderen durch die Untersuchungsmethode
selbst, die zwar ein systematisches und prinzipiell reproduzierbares Vorgehen
impliziert, jedoch gleichzeitig auch in einem erheblichen Ausmaß auf
Intuition beruht. Durch systematische Variation des in Frage kommenden
Variablenbestandes allein, durch „trial and error” lässt
sich - im Unterschied zu automatischen Klassifikationsverfahren -
noch keine „kreative” Reduktion des Datenmaterials erreichen.
Hier muss sich der aus der Einzelfallanalyse gewonnene Eindruck über die
„cross-case-Kombinatorik” zu einer „Gestalt”
verbinden. Die intuitive Komponente beim Mustererkennen belastet zwar die
Reproduzierbarkeit von Studien dieser Art, stellt aber andererseits auch eine
Erkenntnischance innerhalb der „induktiven Schleife” dar. Es wird
wohl noch einige Zeit vergehen, bis Programme der „künstlichen
Intelligenz” in der Lage sind, jene komplexen Strukturen
„emotionaler Intelligenz” zu erfassen, die den Gegenstand
klinischer Forschung bilden (S. 683 ff.) [31].
Verfahren der „automatischen Datenklassifikation” setzen
„klinisches Mustererkennen” schon voraus. Ihr Erkenntniswert ist
durch die Natur der Variablen begrenzt, die in die Rechenoperation Eingang
finden.
Mit diesen Vorbehalten kann ein Gütekriterium aus der
qualitativen Forschung Anwendung finden, die Frage nämlich, ob und wieweit
die gefundene Kategorienbildung das Spektrum aller theoretisch zu erwartenden
Phänomene abbildet [28]. Das scheint bis zu
einem gewissen Grad der Fall zu sein, trotz der relativ geringen
Stichprobengröße (für qualitative Studien dieser Art hat sich
nach Miles & Huberman ein Stichprobenumfang von N = 20
bewährt) [26]. Wer infolge von
Kindheitstraumatisierung ein psychotraumatisches Belastungssyndrom entwickelt,
hat im Laufe seines späteren Lebens vermutlich nur eine begrenzte Zahl von
Optionen zur Verfügung, um einen modus vivendi
mit dem Syndrom zu finden und seine schädlichsten Folgen zu kompensieren.
Da steht einmal die Option „Ablenken durch Aktivität und
Arbeit” offen. Sie gehört in unserer Gesellschaft zu den
akzeptierten und geförderten Bewältigungsformen und ist nach
klinischer Erfahrung relativ gut geeignet, intrusives Wiedererleben zu
unterdrücken. Dann die Vermeidungsstrategie. Sie ist ihrerseits
Bestandteil des psychotraumatischen Belastungssyndroms und erfordert lediglich
einen „Ausbau” der ohnehin vorhandenen psychotraumatischen
Abwehr. Beim „Dissoziationstyp” wird der spontane
Abwehrmechanismus „peritraumatische Dissoziation”, meist auf der
Grundlage entwicklungsspezifischer Verarbeitungsmöglichkeiten, zu einer
langfristigen, persönlichkeitstypischen Bewältigungsstratagie
ausgebaut. Dies wird durch Traumata begünstigt, die in eine Phase von
präoperationalem, „magischem Denken” (im Sinne von Jean
Piaget) fallen, in der das Kind nur begrenzt zwischen Denken und Handeln zu
unterscheiden vermag. Fällt das Trauma in einen späteren
Lebensabschnitt, ist wird dieser Verarbeitungsstil weniger wahrscheinlich
(dissoziationsarmer Typ). Plausibel erscheint weiterhin, dass die Verwendung
von Suchtmitteln einen besonderen Stil der Traumaverarbeitung prägt, mit
spezifischen Verarbeitungsmöglichkeiten wie auch besonderen Risiken
für eine spätere Dekompensation.
Weshalb tritt kein chronifizierter, offener PTBS-Verlauf in dieser
Stichprobe auf? Das könnte einmal auf die Begrenzung des
Stichprobenumfangs zurückgehen, zum anderen auf den Filter
„psychosomatische Station”. Klinisch ist bekannt, dass solche
Verläufe existieren, auch nach Kindheitstrauma. Möglicherweise werden
sie aber unter anderen Diagnosen geführt und erreichen nicht jenes
Kompensatonsniveau, das Voraussetzung dafür ist, erst im Erwachsenenalter
zu dekompensieren und eine psychosomatische Klinik zu belegen. Eine weitere
Erklärungsmöglichkeit für das Fehlen von offenem PTBS ist in dem
Umstand begründet, dass dieses Störungsbild, schon aus
physiologischen Gründen, nach irgendeiner Form der Kompensation verlangt,
da das Vollbild, in seinem B-Kriterium des intrusiven Wiedererlebens, einer
permanenten Retraumatisierung gleichkommt.
Ein weiteres Register von Kompensationsmöglichkeiten für
Kindheits- und Beziehungstrauma schließlich liegt im Bereich dissozialer
Verhaltensweisen, bisweilen mit einem Endstadium in Strafvollzug oder Forensik.
Der institutionelle Filter der vorliegenden Studie schließt diesen
Verlauf weitgehend aus. Hypothetisch lässt sich unter Einbezug von offenem
PTBS und dissozialer Entwicklung die Anzahl der Verlaufstypen auf die Zahl 7
erweitern. Es ist aber keineswegs auszuschließen, dass noch weitere
Verlaufsmuster gefunden werden.
Modellentwicklung: Aus der
„induktive Schleife” der empirischen Forschung kann sich ein
Schritt der Modellentwicklung ergeben. Die Ergebnisse können in ein Modell
integriert werden, das einerseits die Theorien bereichert, andererseits als
Heuristik dient, um weitere empirische Forschung (induktiver oder deduktiver
Art) anzuregen. Wir hatten eingangs das Modell oder vielleicht eher
„Konstrukt” „somatoforme Dissoziation”
erwähnt. Dieses erfährt in der vorliegenden Untersuchung eine
Bestätigung, ist allerdings nur für einen Verlaufstyp relevant. Die
dissoziative psychische Symptomatik wird nicht selten von somatoformen
Störungen begleitet, wobei beides auf den „dissoziativen
Verlaufstyp” zutrifft. Es handelt sich um eines der möglichen
„Langzeitschicksale” von PTBS.
Ein weiteres Modell zum Verständnis psychotraumatischer
Langzeitverläufe wurde von Fischer & Riedesser entwickelt, das
sogenannte „Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung” mit den
Phasen „traumatische Situation - traumatische Reaktion -
traumatischer Prozess” (Abschnitt 2) [29]. In
seinem dritten Term beruht es auf der Annahme, dass die Phänomene des
„traumatischen Prozesses”, also die Langzeitfolgen psychischer
Traumatisierung, aus einer dynamischen Balance zwischen den unmittelbaren
Traumafolgen (meist PTBS der Kindheit oder des Erwachsenenalters) und den
persönlichkeitstypischen Kompensationsformen entstehen. Dieses Modell
scheint sich bei der Diskussion der vorliegenden Untersuchungsergebnisse
heuristisch zu bewähren. Einen Sonderfall würde der erwähnte
Verlaufstyp „chronifiziertes, offenes PTBS” darstellen. Hier
wäre vom Modell her ein Versagen des traumakompensatorischen Systems der
Persönlichkeit festzustellen. Die übrigen Verlaufstypen lassen sich
dagegen aus einem bestimmten quantitativen und qualitativen Verhältnis
zwischen fortwirkender traumatischer Reaktion und traumakompensatorischen
Operationen ableiten.
Der „workaholic-Typ” hat
eine zugleich intrapsychisch wirksame und sozial angepasste Kompensationsform
entwickelt, die langfristig vor allem durch den, sich eben daraus ergebenden,
Erschöpfungszustand in Frage gestellt wird. Wegen dieser relativ gut
gelungenen, sozial erwünschten Anpassung an das Trauma waren
lebensgeschichtliche Episoden mit offenem PTBS in dieser Gruppe nicht zu
beobachten. Der Vermeidungstyp knüpft in seinem
„traumakompensatorischen Schema” (MPTT), [1] direkt am Vermeidungsflügel des PTBS an und baut
diesen „präventiven” Aspekt seiner Traumakompensation
systematisch aus. Er dekompensiert, verständlicherweise, wenn sich erneute
Gefahrensituationen ergeben, denen nun nicht länger ausgewichen werden
kann, oder wenn er eine Form von Retraumatisierung erfährt. Der
„Dissoziationstyp” entwickelt seine
alterstypischen kognitiv-emotionalen Verarbeitungsmuster langfristig zu einem
Persönlichkeitsstil, im Umgang vor allem mit weiteren belastenden
Erlebnissen. Er dekompensiert bei Retraumatisierung oder in Situationen, die
sich durch Dissoziation (seine persönlichkeitstypische Form der
Wahrnehmungsveränderung) nicht mehr bewältigen lassen. Der
Sucht-Typ dekompensiert durch
Erschöpfungszustände - eine Langzeitfolge, die aus seiner
Kompensationsstrategie resultiert. Beim „dissoziationsarmen Verlaufstyp” mit
„neurotischen” Verarbeitungsmechanismen und „vertikalen
Kontrolloperationen” (S.112), [29] kann
besonders eine erneute Traumatisierung zum Zusammenbruch führen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden,
dass ein Verständnis der Langzeitfolgen psychischer Traumatisierung das
Verständnis von und die weitere Erforschung der traumakompensatorischen
Bemühungen einer Persönlichkeit und deren Schicksal im Lebenslauf
verlangt. Das traumakompensatorische System weist teilweise Strukturen auf, die
durch die Entwicklungsphasen geprägt sind, in denen der traumatische
Einfluss wirksam wurde. Der wechselhafte Verlauf des traumatischen Prozesses
erklärt sich andererseits aus Bedingungen eines (förderlichen oder
hinderlichen) sozialen Umfelds (wie z. B. bei der
leistungskompensatorischen Verarbeitung). Bei Untersuchung individueller
Verläufe sollten 7 Faktoren berücksichtigt werden, die Einfluss auf
den Prozessverlauf nehmen können: Weitere traumatische Situationen,
Wegfall bisheriger protektiver Faktoren, neue protektive Faktoren,
Retraumatisierung durch Aktualisierung früherer traumatischer Situationen,
Erschöpfungserscheinungen und damit verbundenes Scheitern
traumakompensatorischer Mechanismen (vor allem beim leistungskompensatorischen
Verlauf und bei Kompensation durch Sucht), zusätzliche
Konfliktsituationen, zusätzliche, sich kumulierende subtraumatische
Belastungen.
Ausblick und Perspektiven für weitere Forschung
Ausblick und Perspektiven für weitere Forschung
Beim gegenwärtigen Erkenntnisstand erscheint es einmal
sinnvoll, die Studie unter gleichartigen institutionellen Rahmenbedingungen zu
reproduzieren, um Bestätigung, Ergänzung oder eine Modifikation der
gefundenen Verlaufstypen vornehmen zu können. Zum anderen bietet sich eine
qualitativ-fallvergleichende Suche nach verstehbaren Verlaufsgestalten der
Traumaverarbeitung bei anderen „institutionellen Filtern” an: im
Rahmen der psychiatrischen Versorgung, in Strafvollzug und Forensik sowie
innerhalb der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Einer Selektion des
vergleichsweise am stärksten belasteten Drittels aus einem
größeren Kollektiv mit breit gestreuten Diagnosen kommt als
pragmatische Suchstrategie der Traumaforschung eine gewisse Berechtigung zu, da
sie mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit diejenigen Patienten erfasst, bei
denen eine psychotraumatische Ätiologie besonders wirksam wird.
Beim Übergang zur „deduktiven Forschungsschleife”
stellt sich die Aufgabe, die Verlaufstypen weiter zu operationalisieren und
Hypothesen zu prüfen, die sich aus diesem Konstrukt sowie aus dem
„Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung” und anderen
relevanten Modellen ableiten lassen. Das kann sowohl mit qualitativer wie auch
mit quantitativer Methodik geschehen oder über eine Kombination beider
Forschungsstrategien. Besondere Beachtung verdient die Frage, ob und wieweit
Studien mit unterschiedlicher Methodik zu einem inhaltlich vergleichbaren oder
aber zu einem divergenten Ergebnis führen. Allein über
„Intermethoden-Konvergenz” von Forschungsergebnissen (Stichwort
„Konvergenzprinzip” im Sachregister), [29] kann die Alternativinterpretaton
„methodenbedingtes Artefakt” zwingend ausgeschlossen werden.
So erscheint weitere qualitative Erforschung traumatischer Prozesse
sehr wünschenswert. Eine vertiefte Kenntnis „typischer
Verlaufsgestalten” bietet für die Praxis nützliche
Anhaltspunkte und ist methodologisch gesehen nicht zu ersetzen durch eine
wahrscheinlichkeitstheoretisch fundierte Ermittlung von Grenzwerten. Besonders
aussagekräftig sind natürlich Studien, die mit unterschiedlicher
Methodik zu konvergierenden Ergebnissen kommen.
Bei der Gutachtenfrage beispielsweise nach einem eventuell
vorhandenen Kausalzusammenhang zwischen einem traumatischem Ereignis und der
aktuellen Symptomatik des Probanden ist die Kenntnis der typischerweise zu
erwartenden Verlaufsmuster oft ein entscheidendes heuristisches Instrument. Vor
dem Hintergrund typischer Verlaufsmuster lässt sich das individuelle
Schicksal zuverlässiger einschätzen. Von daher erscheint es
wünschenswert, die in den diagnostischen Manualen aufgeführte
„Punktdiagnose” durch eine „Verlaufsdiagnose” zu
ergänzen, ähnlich wie in der somatischen Medizin Informationen
über den typischen Verlauf einer Krankheit ihren eigenen Wert besitzen,
zusätzlich zur symptomatischen oder syndromatischen Aktualdiagnose.
Um die Kausalfrage bei psychischem Trauma beantworten zu
können, muss der Verlauf des traumatischen Prozesses dann natürlich
individuell untersucht und beschrieben werden. Welche
persönlichkeitstypischen Mittel der Traumakompensation verwendet der
Proband? Wie strukturieren diese den Störungsverlauf und die
Symptombildung? Welche internen und externen Faktoren haben jeweils zu
Kompensation bzw. Dekompensation beigetragen? Zeigt sich dieser
persönlichkeitstypische Kontroll und Kompensationsstil auch in der
aktuellen Untersuchungssituation? Um solche Fragen zu entscheiden, sollte der
Gutachter den individuellen traumatischen Prozess „mikroskopisch”
darlegen, ähnlich wie in der organischen Medizin Untersuchungen auf einer
mikroskopischen Ebene notwendig sind, um Qualität und Quantität
schädigender Elemente in ihrem Verhältnis zu den vorhandenen
Immunfaktoren und anderen „Selbstheilungskräften” des
Organismus abschätzen zu können. Auch Anträge auf Übernahme
einer psychotherapeutischen Behandlung durch die Krankenkassen sollten bei
Störungen mit vorwiegend psychotraumatischer Ätiologie auf die
Kernsymptomatik des Traumas und ihre individuellen Verarbeitungsformen im
weiteren Lebenslauf detailliert eingehen. Weitere Ergebnisse qualitativer
Studien zur Mikrostruktur traumatischer Verläufe sind für die
nächsten Ausgaben dieser Zeitschrift vorgesehen.