Psychotraumatologie 2001; 2(4): 21
DOI: 10.1055/s-2001-18452
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Hurra, ich lebe wieder!

Arbeit mit einem Selbsthilfemanual in der Psychotherapie chronifizierter TraumatisierungGaby  Angenendt, Gottfried Fischer
Further Information
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Autoren:

Prof. Dr. Gottfried Fischer

Gottfried Fischer, Dipl.-Psych., Prof. Dr. phil. ist Direktor des Instituts

für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln.



Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpischer Straße 45

50923 Köln

Phone: Tel.: 0221/ 470 4805/ 5809

Fax: Fax: 0221/ 470 5034

Email: e-mail: gottfried.fischer@uni-koeln.de

Dipl.-Psych. Gaby Angenendt

Psychotherapeutische Praxis

Römerstr. 10

52428 Jülich

Gaby Angenendt arbeitet als Diplom-Psychologin und Psychologische

Psychotherapeutin in Düren in freier Praxis.

Publication History

Publication Date:
20 December 2001 (online)

 
Table of Contents #

Zusammenfassung

Es wird der 31-stündige Therapieverlauf einer 25-jährigen Patientin dargestellt, die zu Therapiebeginn Symptome einer protrahierten Anpassungsstörung zeigt und zugleich die wesentlichen Kriterien des Psychotraumatischen Belastungssyndroms (PTBS) erfüllt. In die Therapie wurde die Lektüre eines Selbsthilfemanuals für akute traumatische Reaktionen integriert. Nachdem die Patientin schon einen längeren stationären Aufenthalt hinter sich hatte, der ihrer Auffassung nach keine Besserung erbracht hatte, ergibt sich jetzt ein positiver Verlauf und ein erfreuliches Behandlungsergebnis, das sich u. a. in der Reduktion verschiedener Traumaskalen niederschlägt. Die wichtigsten Ergebnisse und Veränderungsschritte werden unter psychodynamischen Gesichtspunkten diskutiert. Die „bibliotherapeutische” Arbeit mit einer geeigneten Anleitung zur Selbsthilfe scheint den traumatisch bedingten Kontrollverlust zu überwinden und dem erhöhten Bedürfnis nach Eigenkontrolle bei traumatisierten Patienten entgegen zu kommen. Bei dieser Patientin verbindet sich die akute Anpassungsproblematik mit einer adoleszenten Ablösungskrise von der Ursprungsfamilie. Das Angebot von Eigenaktivität, das die Broschüre eröffnet, wirkt sich hier besonders günstig aus. Überlegungen zur differentiellen Indikation des Selbsthilfemanuals bei Traumapatienten werden entwickelt.

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Abstract

This article presents the therapy of a 25-year old female patient, extending over 31 one-hour sessions. At the start of her therapy, she showed symptoms of a protracted adjustment disorder and also met the essential criteria of Psychotraumatic Stress Disorder (PTSD). A self-help manual for acute traumatic reactions was integrated into the therapy. The patient had already had a long in-patient hospitalisation, which in her view did not result in any improvement. Now psychotherapy has produced a positive development. The results have been pleasing and have become manifest as a reduction of relevant trauma measures, among other criteria. The most important results and the stages of the change process are discussed here from a psychodynamic point of view. Apparently, „active bibliotherapy” by means of a self-help guideline proved effective. This aided the patient to overcome the feelings of loss of control that were induced by the trauma. It also helped her to meet her need for self-control, which had been exacerbated by her recent struggle for separation from her parental family. Differential indications for integrating this brochure into traumatherapy are discussed.

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Entstehung des Selbsthilfemanuals

Das Selbsthilfemanual „Neue Wege nach dem Trauma - Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen” (im Folgenden NEUE WEGE) [1] entstand aus verschiedenen regionalen und überregionalen Projekten zur psychologischen Soforthilfe bei akuter Traumatisierung, welche das Deutsche Institut für Psychotraumatologie, Köln (DIPT) seit seiner Gründung im Jahre 1991 durchgeführt hat. So betraute die Deutsche Bahn AG das DIPT mit der Nachsorge für die Opfer der schweren Bahnunglücke von Eschede (3. Juni 1998) und Brühl (6. Februar 2000). Auch die Opfer des Schwebebahnunglücks in Wuppertal (12. April 1999) und die Hinterbliebenen des Concorde-Absturzes in Paris (25. Juli 2000) wurden betreut sowie überregional die Opfer von Banküberfällen. Ein weiterer Arbeitsbereich war und ist das Opferhilfe Modellprojekt NRW, in dem das Institut seit 1995 bestrebt ist, die Lage von Verbrechensopfern institutionell und therapeutisch zu verbessern. Während zunächst nur eine kurze Informationsbroschüre vergeben wurde, wurde uns der Wunsch der Betroffenen zunehmend deutlicher, umfassendere Informationen zu bekommen und etwas „in der Hand zu haben”, woran sie sich zum Beispiel auch zwischen den Beratungs- oder Therapiestunden orientieren konnten. Aus diesen Erfahrungen heraus entstand NEUE WEGE. Der differentielle Umgang mit der Broschüre wird gegenwärtig erforscht. Inzwischen lässt sich sagen, dass die Schrift auf gute Akzeptanz bei der Zielgruppe trifft.

Bei der Arbeit mit akut schwer belasteten Populationen hat sich immer wieder gezeigt, dass wir es bei näherer Betrachtung mit 3 sehr unterschiedlichen Gruppierungen zu tun haben, die wir als Risikogruppe, als „Wechslergruppe” und als Selbsterholungsgruppe bezeichnen. Die Hochrisikogruppe für Trauma-Langzeitfolgen umfasst ca. ¿ bis manchmal auch ein Drittel der Betroffenen. Die übrigen Gruppierungen machen grob ebenfalls etwa ein Drittel einer Katastrophenpopulation aus. Die Angehörigen der Wechselgruppe sind vor allem im postexpositorischen Zeitraum gefährdet. Treffen sie dort auf unterstützende soziale Beziehungen, werden sie zu Selbsterholern, bei zusätzlichen Belastungen, meist durch unempathische soziale Kontakte, wandern sie zur Risikogruppe ab. Über den „Kölner Risikoindex” ist eine frühe Einschätzung der Gruppierungen möglich [2 (S. 310)]. Eine Adaptation dieses Prognoseinstruments speziell für Banküberfälle wurde von Gossmann (2001) entwickelt. Aufgrund des Risikoindex wird die Intervention zielgruppenorientiert nach dem inzwischen entwickelten Konzept der „Zielgruppen-Orientierten-Intervention” (ZGOI), [1] [3 5] durchgeführt.

Bei den einzelnen Zielgruppen hat die Selbsthilfebroschüre eine jeweils unterschiedliche Funktion. Die Selbsterholer äußern sich zufrieden über den psychoedukativen Aspekt und über Informationen, die sie nutzen können. Am deutlichsten scheinen die „Wechsler” zu profitieren. Sie können sich im allgemeinen mit der Broschüre ein Stück weit besser zurechtfinden in der schwierigen Folgezeit nach der Belastung und benötigen ggf. nur wenige Stunden psychotraumatologischer Fachberatung zusätzlich, um sich stabilisieren zu können. Die Risikogruppe findet zumindest Hinweise, wann mit Langzeitfolgen zu rechnen ist, wie man diese erkennt und wann es notwendig ist, sich an Fachleute zu wenden. In diesen klinisch schwierigeren Fällen kann die Broschüre „bibliotherapeutisch” eingesetzt werden [6] [7]. Am folgenden Fallbeispiel soll der bibliotherapeutische Anwendungsmöglichkeit verdeutlicht werden.

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Konzeptueller Hintergrund der Selbsthilfebroschüre

Sie beruht auf Prinzipien, die in der „Mehrdimensionalen Psychodynamischen Traumatherapie, MPTT” [4] näher umschrieben sind, beschränkt sich aber, im Unterschied zum Therapiemanual, auf die Stabilisierungsphase der Traumatherapie. Konzeptuell kann die MPTT als ein „psychodynamisch-behaviorales” Verfahren bezeichnet werden, das Trainingselemente mit Prinzipien psychodynamischer Beziehungsgestaltung verbindet. Im Zentrum steht dabei die psychodynamische Diagnostik des „traumatischen Prozesses”, in dem sich die Patientin befindet. Auf die „traumakompensatorischen” Strategien des Patienten wird die Intervention dann individuell zugeschnitten. NEUE WEGE beruht auf den beiden traumatherapeutischen Prinzipien der Individualität und der Normalität.

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Prinzip der Normalität

Ersteres lässt sich so umschreiben: „Wer Traumasymptome entwickelt, ist nicht verrückt. Er reagiert vielmehr völlig normal auf eine ver-rückte Situation.” In der Vergangenheit wurden Traumapatienten leider oft „pathologisiert”. Das konnte sehr leicht geschehen, da viele Fachleute den Zusammenhang der Symptome mit dem belastenden Erlebnis oft übersahen. Auch den Betroffenen selbst blieb der Zusammenhang in der Regel verborgen, nicht zuletzt deshalb, weil sie im Sinne des psychotraumatischen Belastungssyndroms automatisch alles meiden, was an den Vorfall erinnern könnte.

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Prinzip der Individualität

Gegen das zweite Prinzip einer Traumatherapie, das der „Individualität”, wird immer dann verstoßen, wenn die Betroffenen Standardratschläge erhalten, mit denen sie ihr Trauma bewältigen sollen. Hierzu gehören zum Beispiel auch Coping- und Bewältigungstechniken, die normativ vorgeschrieben und antrainiert werden. Natürlich ist es wichtig, entsprechende Übungen in standardisierter Form anzubieten. Zum Konzept von NEUE WEGE gehört jedoch eine größtmögliche Wahlfreiheit der Patientin. Sie kann sich aussuchen, welche Übungsangebote zu ihrem individuellen Bewältigungsstil passen und kann andere ablehnen, was oft auch entschieden geäußert wird.

Da die Patientin sich die Übungen selbst auswählen kann, ist die Therapeutin aus einer „Beziehungsfalle” heraus, die ja immer dann entstehen kann, wenn die Patientin ihren Arbeitsvorschlag zurückweist oder später feststellt, dass dieser „nichts gebracht hat”. Es werden also einerseits strukturierte Übungen angeboten in einer Weise, wie sie eher von der Verhaltenstherapie her bekannt ist. Durch die Möglichkeit der Patientin, sich Übungen souverän auszuwählen oder sie abzulehnen, wird ein „offener therapeutischer Prozess” gefördert, wie wir ihn eher von der psychodynamischen Therapierichtung oder von humanistischen Verfahren her kennen.

Ein Therapiebericht sollte so ausführlich sein, dass er alternative Interpretationen ermöglicht. Beim Bericht von Beispielfällen muss einmal natürlich eine Balance gefunden werden zwischen Ausführlichkeit und dem Zeitbudget des Lesers. Wenn irgend möglich, sollte eine etwas ausführlichere Darstellung bevorzugt werden. So kann sich der Leser ein Bild vom therapeutischen Verlauf machen und alternative Hypothesen zu Prozessverlauf und Wirkungsmechanismen der Therapie bilden und diese am Bericht überprüfen. Dazu ist es auch notwendig, wichtige Therapieabschnitte in wörtlicher Rede zu berichten.

Entsprechend der Zielsetzung dieses Beitrags wird schwerpunktmäßig berichtet, welchen Gebrauch die Patientin von NEUE WEGE machte. Auch soll die Beziehungsdynamik näher beleuchtet werden, die durch ein bibliotherapeutisches Instrument dieser Art hervorgerufen wird.

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Der Therapiebericht

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Instruktion bei Einführung des Selbsthilfe-Manuals

Es handelt sich um eine 25-jährige Patientin mit der Diagnose einer protrahierten Anpasssungstörung und zugleich den Anzeichen einer eher komplexen psychotraumatischen Belastungsreaktion (kPTBS). Beginnend nach der Datenenerhebungsphase (also der 5 prob. Sitzung) und einer ersten Stabilisierung (5 Sitzungen) arbeitete die Patientin mit NEUE WEGE. In einigen Sitzungen wurde die Patientin mit verhaltenstherapeutisch orientierten Interventionen unterstützt.

Die Instruktion bei Einführung des Selbsthilfe-Manuals lautete:

„ Lesen Sie sich bitte - so wie sie Zeit haben und sich in der Lage dazu fühlen - das x.. Kapitel in dieser Broschüre durch. Notieren Sie sich bitte alle Fragen, die Ihnen dabei in den Sinn kommen. Notieren Sie bitte auch, welche Informationen oder Übungen hilfreich waren und welche sie als weniger hilfreich empfunden haben”.

In den folgenden Stunden - orientierend am persönlichen Tempo der Patientin - wurden die Notizen dann besprochen.

Im Durchschnitt konnte sie sich nach jeder 2.-4. Stunde einem weiteren Thema des Manuals zur Bearbeitung zuwenden.

Ergebnis:

Nach der 31sten Stunde wurde eine Überprüfung der Schwere der PTSD anhand verschiedener Diagnose-Instrumente erhoben, die schon eingangs zur Symptombestimmung und Diagnostik verwandt worden waren (s. u.).

Es zeigte sich eine Reduzierung der Symptomatik in allen wesentlichen Bereichen.

Es zeigte sich zudem, dass es der Patientin gelungen ist, das traumatische Ereignis in ihren Lebensentwurf zu integrieren (s. 32 Sitzung).

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Stunde 1 - 5 (Datenerhebung)/ Anamnese

Im April 1999 (zu dieser Zeit war die Patientin gerade zu ihrem Freund gezogen) habe die Mutter der Patientin wegen starker Zahnschmerzen einen Zahnarzt besucht. Die Mutter sei dann einige Zeit später nach Hause gekommen. Sie habe erzählt, dass der Arzt ihr geraten habe, einen Knoten in der Zunge genauer untersuchen zu lassen. „Das hab ich erst gar nicht für wichtig gehalten”.

Einige Tage später habe sie (die Patientin) zusammen mit dem Bruder ihre Mutter in die Praxis eines Allgemeinmediziners begleitet. Sie selbst habe vor der Praxistür gewartet und auf den Hund der Eltern aufgepasst. Nach einiger Zeit seien der Bruder und die Mutter wiedergekommen. Die Mutter habe auf den Boden geschaut, sich das Gesicht gehalten und sei zu einer Mauer gegangen, an die sie sich gelehnt habe. Sie (die Patientin) habe die Mutter erschrocken gefragt, was denn sei. Diese habe daraufhin geantwortet, sie habe Krebs. „Als sie das gesagt hatte, dachte ich nur, oh Gott, Onkel Herbert ist an Krebs gestorben (da hab ich gekotzt), Oma ist jämmerlich an Krebs gestorben und jetzt auch noch meine Mutter.”

Sie habe „nicht gewusst, ob ich lachen oder weinen sollte, es war einfach unfassbar, einfach nicht wahr”. Sie seien dann „irgendwie ins Auto”. „Ich hatte kein Gefühl in mir, es war, als wäre ich in Watte gepackt, ganz unwirklich, so als würde ich träumen”.

Sie habe dann vom Elternhaus ihre Freundin angerufen und dann „richtig geweint”. Anschließend habe sie mit ihrem Lebensgefährten telefoniert und wiederum geweint „aber der hat mich nicht getröstet sondern nur gesagt `das wird schon nicht so schlimm sein`”. Auch der Vater sei „völlig fertig” gewesen und habe sie nicht trösten können.

Sie habe die darauf folgende Woche wie im „Trance” erlebt, tagelang nur geweint und „immer nur darüber nachgedacht, dass Mama sterben muss”. Sie seien dann alle drei zum Aufnahmetermin in die Klinik gefahren (1 Woche nach Befundmitteilung) „da hatte ich morgens schon ein Lämpchen angemacht, das sollte helfen, dass es nicht so schlimm wird”. Die Eltern seien dann „nach endlosem Warten, ich hab fast zuviel gekriegt” mit dem Prof. auf den Flur getreten und hätten sie darüber informiert, „dass der Knoten nur ein Teil war. Die Zunge musste weg und die Lymphdrüsen. Da dachte ich, die Welt geht unter”. Das „Wattegefühl” sei wiedergekommen und sie habe sich gefühlt wie in der Situation vor der Arztpraxis.

Die Mutter sei kurze Zeit später operiert worden und habe sich dann recht schnell erholt.

Später habe dann ihr Lebensgefährte Geburtstag gefeiert. Währenddessen wurde u. a. die Krebserkrankung der Mutter thematisiert. Nachdem die Gäste sich verabschiedet hatten, hätten sie und ihr Lebensgefährte den Abwasch erledigt. „M. sagte plötzlich zu mir: `Wer weiß was in diesem Jahr noch alles passiert`, seitdem wurde es immer schlimmer.

Ich bekam Herzrasen, Zittern und mir wurde schlecht. Das unwirkliche Gefühl kam wieder und ich hatte sehr oft am Tag Phasen, da glaube ich, ich bin nicht mehr ich.” Sie habe am Folgetag das Gefühl gehabt, „als ob es spukt”, als würde jemand hinter mir steh`n und mich beobachten.” Ihren Eltern, speziell der Mutter gegenüber habe sie das Gefühl gehabt „ als wäre ich ganz weit entfernt von ihr”. Sie habe gedacht „ ich sei böse und ich hasse meine Eltern”. Sie spüre der Mutter gegenüber „kein gutes Gefühl mehr” und würde gern so was sagen wie: „Du alte Kuh, du blöde Sau, und ähnliches”. Gleichzeitig habe sie Alpträume, in denen sie immer wieder vom Tod der Mutter träume, oder dass sie (die Patientin) „jemanden absteche. Ich dachte sogar schon daran, meinen Hund abzustechen, den ich so lieb hab”. Ständig hab ich so „Psychogedanken”, dass ich jemandem was antue, oder ich denke `Was ist eigentlich ein Mensch, wie funktioniert eine Hand, wie funktioniert mein Auge u. s. w.”. Ich habe den Zwang jedem vom Schicksal meiner Mutter zu erzählen und wenn ich es tue, habe ich mich immer wieder selbst reden gehört, als wäre ich jemand anders. Ich habe Angst in den Spiegel zu sehen, weil ich denke, das bin ich dann gar nicht. Ich habe das Gefühl, als hätte ich keine Vergangenheit, als gäbe es mich erst seit jetzt, ich weiß in diesen Augenblicken nichts mehr von früher”.

Sie habe seit März 2000 verschiedene Ärzte konsultiert. Ein Psychiater habe ihr ein Antidepressivum verschrieben und sie dann in eine psychosomatische Klinik überwiesen.

Dort sei sie ca. 3 Monate gewesen. Sie sei froh, dass sie aus der Klinik entlassen sei, da ihr der Aufenthalt ihrer Meinung nach „nichts gebracht” habe. (Anm: Diagnose im Entlassungsbericht der Psychosomatischen Klinik: Ängstlich-depressive Entwicklung F41.2 mit Somatisierung (F45.0) bei selbstunsicherer Persönlichkeit (F60.8)). Die Medikation wurde in der Klinik abgesetzt.

Traumarelevante Lebensereignisse der Patientin chronologisch aufgeführt:

Jahr Alter Ereignis Reaktion Protektiv Faktoren

1 9806Verkehrunfall d. VatersAngst-Weinen-Schock
Angst-Hilflosigleit
Hilflosigkeit, Selbstabwertung, Traurigkeit
Angst -Weinen-Übelkeit-Erbrechen
Stabile Bindung zur Mutter, Trost,
1 9817Verkehrsunfall mit Schwerstverletzten-als erste am UnfallortAngst-Weinen-Schock
Vater und Mutter trösten, stabile Bindungen zu Eltern und Großeltern
1 99117Tod des Onkels an KrebsAngst -Weinen-Übelkeit-ErbrechenGute Einbindung in soziales Netz
1 99218Herzerkrankung d. Vaters mit Bypass-OPPanikattacken,Gefühl der Hilflosigkeit, Nicht-wahr-haben-wollen
s. o.
1 99218Tod der geliebten Oma an Krebs (nach langem Siechtum)Angst vor Tod
Gefühl der Hilflosigkeit,Nicht-wahr-haben-wollen, Magenschmerzen, Kopfschmerzen
gute Unterstützung durch Eltern
1 99925Tod des Opas und des SchwiegervatersNicht-wahr-haben-wollens. o.
1 99925Erkrankung der Mutter an KrebsAngst vor Tod der Mutter, Alleinsein, Krebs- Erkrankung, Gefühl des Ausgeliefert-Sein
s. o.
(korrektiv)
Freundinnen unterstützen mit Gesprächen und Trost
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Testergebnisse bei Beginn der ambulanten Behandlung

1. Posttraumatic- Symptom-Scale (PTSS-10), [8] -

Punktwert von 46 = Verdacht auf schwere posttraumatische Belastungsreaktion

2. Impact of Event-Scale (IES, S. 24 Materialsammlung), [5] [9] [10]

Punktwert von 53 = schwere posttraumatische Symptomatik

3. Peritraumatic Dissociative Experience Questionaire PDEQ [5] [11]

Punktwert von 43 = hohes Ausmaß an peritraumatischen Dissoziationen

4. DESNOS (Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified) (S. 48 Materialband), [5]

Skala 1: Veränderung in Affektregulation und Impulssteuerung (zutreffend)

Skala 2: Veränderungen der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins (zutreffend)

Skala 3: Veränderungen in der Selbstwahrnehmung (zutreffend)

Skala 4: Veränderung in der Wahrnehmung des Täters (keine Relevanz)

Skala 5.Veränderungen in der Beziehung zu anderen ( zutreffend)

Skala 6: Somatisierung ( zutreffend)

Skala 7: Veränderungen von Grundüberzeugungen (zutreffend)

Nach von der Kolk kann somit die Diagnose komplexe Posttraumatische Belastungsreaktion (kPTBR) vergeben werden.

Im Kölner-Risiko-Index-Version 2.0 /99 [2] [3] wurde der Patientin ein Punktwert von 8 zugewiesen, sie hat demnach ein erhöhtes Risiko (> 6.4), an PTBS zu erkranken.

Nach der Datenerhebungsphase in den ersten 5 Sitzungen wurde die Diagnose komplexe Psychotraumatische Belastungsreaktion (kPTBR) gestellt.

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5. bis 31. Sitzung

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5.-10 Sitzung : (Termine 1x wöchentlich)

Die Patientin wirkt hilflos und aufgeregt, sie spricht mal ganz leise, dann wieder laut und weint zwischendurch immer wieder, wenn sie von der Erkrankung der Mutter und der Erkrankung des Vaters spricht. Sie verbalisiert das Bedürfnis, zu jeder Zeit und mit allen Menschen über die Erkrankung der Mutter reden zu müssen. Außerdem habe sie „Angst, verrückt zu werden, weil ich immer von mir weggehe”.

Intervention: Erzählen-lassen, teilnehmendes Zuhören, freundlich zugewandte Haltung, jedoch zwischendurch Entlastung durch Unterbrechungen und Informationen. Erklärung des „Drehbühnenmodells” [2], Erläuterung des Störungsmodells der psychischen Traumatisierung in für die Patientin nachvollziehbarer Weise, immer wieder Bestätigung: „Was Sie im Augenblick an sich erleben, ist eine Schutzreaktion der Psyche. Es ist nicht gefährlich, es kann Ihnen dabei nichts schlimmes widerfahren und vor allem, Sie werden keinesfalls verrückt. Wenn sie von sich weggehen und Angst bekommen, nehmen Sie sich Photos von früher auf denen sie abgebildet sind und schauen Sie diese an. Sagen Sie sich laut vor: ” Das bin ich, das Photo wurde gemacht von... Damals waren wir in.. und haben ..unternommen.

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11. Sitzung: Einführung des Selbsthilfemanuals

Die Instruktion lautete: „ Lesen Sie sich bitte - so wie sie Zeit haben und sich in der Lage dazu fühlen - das ... Kapitel in dieser Broschüre durch. Notieren Sie sich bitte alle Fragen, die Ihnen dabei in den Sinn kommen. Notieren Sie bitte auch, welche Informationen oder Übungen hilfreich waren und welche sie als weniger hilfreich empfunden haben.

Reaktion der Patientin: Dankbarkeit darüber, das sie „endlich zuhause allein an mir arbeiten kann, so wie ich will. Irgendwie hab ich auch zuhause immer das Bedürfnis, noch mehr zu tun, das es mir besser geht”. Sie habe schon angefangen sich Photos von früher rauszusuchen und merke, das ihr das Ansehen derselben helfe, „wieder zu spüren, dass ich die K... bin.”

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12. Sitzung:

Was habe ich gelesen, was spricht mich an, welche Übung könnte mir helfen? Was hat sich durch die Arbeit mit der Broschüre positiv/negativ verändert?

(Beginn - S. 31)

Die Patientin packte sofort nach Ankommen in der Praxis die Broschüre aus. Sie erklärte, „froh” zu sein, „dass ich das jetzt mit Ihnen besprechen kann”. Sie habe zuhause „sofort angefangen zu lesen”, damit es endlich voran gehe mit Ihrer Heilung. Sie habe sich entschlossen „die Kapitel nach und nach” zu lesen, „das gibt mehr Sicherheit und ich hab’s dann besser unter Kontrolle”.

Sie wisse nach dem ersten Abschnitt (von der Patientin selbst definiert) „endlich, das es auch andere Menschen gibt, denen es ähnlich geht wie mir”. Diese Seiten der Broschüre habe sie sich immer wieder durchgelesen, weil sie sich damit „immer wieder” habe beruhigen können.

Intervention: Mit der Patientin noch mal die für sie wichtigen Stellen durchgehen, nachfragen was hat sich durch das Lesen verändert? Erläuterung der Patientin hierzu:„ Ich habe jetzt mehr Kontrolle, kann wenn ich unsicher werde, nachlesen und kann mich daran festhalten, weiß jetzt, das ich nicht verrückt bin und kann Symptome in anderem Licht sehen”.

Sie erlebe es nach wie vor noch als „schlimm, wenn ich von mir weggehe oder meine Psychogedanken kommen”, jedoch habe sie jetzt nicht mehr soviel Angst davor. „Ich hab jetzt gesehen, das Sie Recht haben mit dem was sie mir gesagt haben und wenn ich oft von mir weggehe, sind das Selbstheilungsversuche meiner Psyche”.

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13. Sitzung:

Kurze Nachbesprechung der letzten Sitzung. Was hat sich seitdem positiv verändert?

Was habe ich gelesen, was spricht mich an, welche Übung könnte mir helfen

Die Patientin erklärt, dass sie froh sei, endlich zuhause aktiv etwas an ihrem Zustand verbessern zu können. Sie spreche auch mit dem Lebensgefährten und der Mutter darüber. Auch die Mutter sei froh, dass sie (die Patientin) durch das Manual eine Hilfe bekommen habe. Sie beklagt, dass ihr Lebensgefährte „sich im Grunde gar nicht dafür interessiert, wie es mir geht”. Auch während der Zeit zwischen Beginn der Symptomatik und während der Klinikzeit „hat der mich im Grunde mit meinen Problemen allein gelassen.”

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14. Sitzung

Die Patientin erklärt, sie habe über das Gespräch in der letzten Sitzung nachgedacht. Sie weint, als sie erzählt, der Lebensgefährte behandele sie ohnehin nicht gut. Im Grunde wolle sie solch eine Beziehung gar nicht führen, habe aber aus Angst vor dem Allein-Sein für sich noch keine Alternative gefunden. Besonders störe es sie, dass „ich mir zuviel gefallen lasse. Der kann im Prinzip machen was er will, ich sage nie was, aus Angst vor Konflikten”. Sie merke dann, „dass ich wieder von mir weggehe und denke: „Was ist ein Bein, wie funktioniert eine Hand.”

Intervention: Was wäre Ihrer Ansicht nach in Konfliktsituationen ein angemesseneres Verhalten? Bis zur nächsten Sitzung darüber nachdenken und es aufschreiben.

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15. Sitzung

Die Patientin ist sehr aufgeregt und erzählt, sie habe sich mit Ihrem Lebensgefährten „gefetzt ohne Ende”. Sie habe im ersten Moment dann große Angst bekommen und habe gedacht, sie verliere die Kontrolle über sich und tue ihm etwas Schreckliches an. Das sei jedoch nicht passiert und „erstaunlicherweise bin ich gar nicht von mir weggegangen”. Sie lächelt als sie bemerkt: „Eigentlich ging es mir danach richtig gut”.

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16. Sitzung

Sie habe in dem Manual weiter gelesen (S.31 - 37). Sie habe tagsüber keine Erinnerungen mehr, die sich aufdrängten, jedoch habe sie nachts oft Alpträume und träume dann von einer schwarzen Wolke, die auf sie zukomme und sie einhülle. Danach sei sie „immer ganz fertig”. Die Tipps zum Umgang mit flash-backs habe sie in solchen Situationen aufgenommen, sich immer wieder gekniffen. „Davon hab ich aber nur blaue Flecke gekriegt”. Allerdings sei ihr in diesem Zusammenhang klar geworden, das auch die Kopf- und Magenschmerzen so was wie „flash-backs” seien. Die Informationen über „Sicherheit und Beruhigung” (ab S.37 im Manual) hätten ihr jedoch sehr geholfen. Sie habe sich einen „inneren sicheren Ort gebeamt”, den sie sich ausgedacht habe. Das gute daran sei, das sie dies auch einsetzen könne, „wenn ich von mir weggehe. Ich geh dann einfach an meinen sicheren Ort und weiß, dass ich aus diesem Zustand auch wieder rauskomme”.

Auf die „schwarze Wolke” angesprochen meint die Patientin : „Ich nehme an, ich will etwas nicht sehen.”

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17. Sitzung

Die Patientin kommt und weint. Sie erklärt, es belaste sie sehr, dass sie ihrer gegenüber ihrer Mutter immer noch teilnahmslos sei und sie an anderen Tagen „richtig hassen” würde. Sie habe ihre insbesondere die Mutter immer sehr geliebt und könne sich nicht erklären, dass sie plötzlich Hass empfinde. Nachgefragt, was denn am Hass „vorteilhaft” sein könnte, reagierte die Patientin erst ratlos, dachte lange nach. Dann meinte sie: „ Wenn ich sie hasse und ihr passiert dann was, dann tut es mir vielleicht nicht mehr so weh”.

Die Patientin weint, als sie beginnt, über die traumatische Situation zu erzählen. Ich lasse sie erzählen, fordere sie jedoch zwischendurch immer wieder auf, auf ihren Atem zu achten und tief einzuatmen und langsam wieder auszuatmen. Die Patientin hört bald wieder mit Weinen auf, sagt, das bewusste Atmen habe ihr gut getan, weil weniger Angst als bisher beim Erzählen aufgekommen sei.

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18. Sitzung

Die Patientin erzählt, sie habe sich in den vergangenen Wochen „nur noch mit meinem Freund gefetzt”. Sie versuche ständig, ein Gespräch zu führen, wenn ein Problem auftauche, „aber der spricht dann nicht mit mir und am nächsten Tag tut er so, als wäre nichts gewesen”. Sie wird immer wütender, erklärt, sie habe nicht mehr vor, sich „das lange gefallen zu lassen”.

Sie habe im Übrigen in der Broschüre weiter gelesen (S.38 - 45) und „die Atemübung jetzt immer eingesetzt, wenn sie über den Zustand ihrer Mutter gesprochen habe. „Das hat richtig geholfen, ich war dann weniger verzweifelt und hatte mehr Kontrolle über mich. Im Übrigen habe sie festgestellt, dass sie nicht mehr so sehr das Bedürfnis habe, über die Krebserkrankung der Mutter zu sprechen. „Wie es im Manual steht, suche ich mir jetzt die Leute aus, mit denen ich darüber spreche und höre damit auf, wenn’s mir zuviel wird. Das ist eine große Erleichterung”.

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19. Sitzung - Hassgefühle gegen die Mutter

Sie habe über die Hassgefühle gegenüber der Mutter nachgedacht. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass sie sich dadurch vor weiteren seelischen Verletzungen schützen wolle, könne sie diese Gefühle verstehen. Sie habe lange überlegt darüber, ob es nicht sinnvollere Maßnahmen gibt, sich davor zu schützen. Sie habe bemerkt, wie emotional abhängig sie noch von den Eltern sei und glaube, „dass ich mich da mal endlich abnabeln und selbständiger werden muss.” Auch in der Beziehung zu ihrem Freund müsse sich etwas ändern. „Das kann doch nicht sein, das ich mir alles gefallen lasse, wie ein dummes Huhn”.

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20.Sitzung - Erwachsenwerden

Die Patientin wirkt erfreut und glücklich, als sie erzählt, das sie sich „zum ersten Mal seit langem” wieder einige Tage nacheinander so gefühlt habe „wie früher”. „Ich hab mich endlich wieder normal gefühlt und gewusst, dass ich es wirklich schaffen kann, das Trauma zu bewältigen. Ich war wieder die K... von früher, kann mich daran erinnern was ich früher mit wem unternommen habe.” Das ist ein tolles Gefühl. Nicht mehr so abgeschnitten. Auch sei sie weniger „von mir weggegangen und wenn, dann war es nicht mehr so lange”

Nachgefragt, wie es zu dieser doch positiven Veränderung gekommen sei, erklärt die Patientin lächelnd, sie habe den Eindruck, das habe etwas mit ihrem „Erwachsenwerden” zu tun. Mir ist klar geworden, dass ich lernen muss auf eigenen Füßen zu stehen, und nicht immer das tun muss, was andere von mir erwarten.” Auch im Arbeitsbereich habe sie angefangen sich durchzusetzen, den Kolleginnen ihre Meinung zu sagen, „und von meinem Freund lasse ich mir nichts mehr gefallen. Ich muss selbst dafür sorgen, dass es mir gut geht und darum muss ich lernen, nicht mehr vor Konflikten wegzulaufen.”

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21. Sitzung

In der Broschüre habe die Patientin gelesen (S.45), dass es hilfreich sei, Tagesrituale durchzuführen. Dabei sei ihr aufgefallen, das sie dies vor der Erkrankung der Mutter ohnehin immer getan habe. Sie hätte sich jetzt entschlossen, diese wieder einzuführen, was eine große Bereicherung für sie sei. Mit dem im Manual gemachte Vorschlag ein „Superbuch” anzulegen (S.46) könne sie sich jedoch nicht anfreunden. „Ich hab das Gefühl, das bringt mir nichts”. Sie habe jedoch jetzt wieder, so wie früher, Verabredungen mit Freundinnen getroffen und gehe mit Ihnen Kaffeetrinken oder ins Kino.” Das tut mir sehr gut”.

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22. Sitzung

Die Patientin hat sich in der Broschüre die Übung zur Muskelentspannung durchgelesen. Sie könne sich sehr gut vorstellen, dass diese ihr helfe, habe jedoch Angst, sich die Übung aufs Band zu sprechen. „Als es mir noch so schlecht ging, habe ich mich ja immer selbst reden gehört, als sei ich eine Fremde”. Die Übung wurde aus diesem Grund mit der Patientin in der Praxis durchgeführt und von mir auf eine Kassette gesprochen. Unter Zuhilfenahme dieser Kassette wollte die Patientin dann regelmäßig üben, sich zu entspannen und auf den Körper zu achten.

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23. Sitzung

Die Patientin übe regelmäßig die Muskelentspannung. Damit könne sie sich schon recht gut beruhigen. Dies sei auch nötig, denn sie habe „mal ein ernstes Wort mit dem Vater sprechen müssen”. Dieser habe sich der Mutter gegenüber nicht korrekt verhalten und unterstütze sie zu wenig. „Ich hab dem mal richtig meine Meinung gesagt, dass es sich schließlich um seine Frau handele, die krank geworden sei.” Sie hätte noch „nie in meinem Leben so frech mit meinem Vater gesprochen”, er habe sie jedoch ausreden lassen und hinterher sei es ihr „richtig gut gegangen”. Der Vater habe sein Verhalten der Mutter gegenüber dann auch „richtig positiv” verändert. „ Der unterstützt sie jetzt endlich wieder und ist richtig nett mit ihr.”

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24. Sitzung

Die Patientin wirkt unsicher. Sie habe im Manual die Übung „ das Trauma wegpacken” (S.56 - 57) gelesen und frage sich, ob es sinnvoll für sie sei, diese Übung selbst durchzuführen. „Ich hab das versucht, mich in Ruhe auf einen Stuhl gesetzt, aber irgendwie ging das nicht”. Die Patientin bittet mich, die Übung zuerst einmal mit ihr zusammen durchzuführen, danach könne sie es sicherlich alleine.

Ich führe mit ihr die Übung durch. Ich bitte sie, sich bequem auf den Stuhl zu setzen, da es mir nicht sinnvoll erscheint (Kontrollbedürfnis der Patientin) die Übung im Liegen durchzuführen. Während der Übung beginnt die Patientin kurz zu weinen. Sie beruhigt sich unmittelbar wieder und atmet in Folge tief ein und langsam wieder aus. Wir führen die Übung zu Ende. Im Anschluss daran öffnet die Patientin die Augen und lächelt. Sie erzählt, sie habe sich die Situation damals vor der Arztpraxis vorgestellt, und die Situation „wo die Mama im Bett lag, nach der OP”. Dies sei zuerst belastend gewesen, sie habe sich jedoch diese Bilder ausgesucht, weil sie am Anfang ihrer Erkrankung „immer wieder die Bilder gesehen” habe. Sie habe „die Bilder jetzt in den Tresor gesperrt und den Schlüssel unter den Teppich gelegt. Da ist er sicher und ich allein kontrolliere, wie ich mit den Bildern umgehe”. Sie fühle sich ruhig und erleichtert und habe „ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass so was funktionieren kann”.

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25. Sitzung

Die Patientin erklärt, die Übung in der letzten Stunde sei „das Beste gewesen, was mir passieren konnte”. Sie sei ja zuerst skeptisch gewesen, ob so etwas überhaupt wirken könne. Jetzt sei sie überzeugt. Sie habe sich zuhause in Ruhephasen gelegentlich in die Übung zurückversetzt „und geguckt, ob der Schlüssel noch da ist”. Das habe sie sehr beruhigt. Sie habe die Bilder nicht vergessen, jedoch habe sie auch keine Angst mehr vor ihnen. „Die sind irgendwie unwichtig geworden. Es geht mir seitdem viel besser und ich merke, dass ich überhaupt keine Angst mehr vor meiner Aggression habe. Manchmal schreie ich rum, nur weil es mir Spaß macht und es mir danach besser geht. Ich glaube, wenn ich meine Gefühle, insbesondere die aggressiven oder ängstlichen unterdrücke, gehe ich von mir weg. Ich will das nicht mehr, sondern will lernen, besser darauf zu achten, was gut für mich ist.”

Auch habe sie keine Magen- oder Kopfschmerzen mehr. Grundsätzlich seien die Schmerzen schon weniger geworden, seit sie mit dem Buch arbeite und auch die Übungen zur Entspannung mache.

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26. Sitzung

Nach einer erheblichen Auseinandersetzung mit Ihrem Lebensgefährten hat die Patientin sich entschlossen, sich erst einmal von ihm zu trennen. Sie habe sich dazu entschlossen, da sie bemerkt habe, „dass ich ganz gut selbst für mich sorgen kann und so ¿ne Beziehung will ich nicht haben”. Sie sei vorübergehend zu den Eltern gezogen, habe jedoch zum 1. des nächsten Monats eine eigene Wohnung. Sie schließe nicht aus, dass sie mit ihrem Freund noch mal zusammenziehe, „aber dann unter meinen Bedingungen.” Sie habe in den letzten Tagen sehr geweint, da sie ihren Freund im Grunde ja liebe, „aber das kann nicht sein, dass wir uns gegenseitig fertig machen”. Sie sei erstaunlich ruhig und gelassen und wisse, dass sie Schwierigkeiten, die evtl. auf sie zukämen, auch meistern könne. Sie habe fast keine Symptomatik mehr, schlafe lediglich schlecht, „aber das ist ja klar, wo ich jetzt ausgezogen bin”. Auch habe sie festgestellt, dass sie der Mutter gegenüber wieder liebevolle Gefühle zulassen könne. „Ich kann jetzt besser damit umgehen, dass ich beides in mir habe, auch die aggressiven Anteile sind o. k.”.

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27. Sitzung

Die Patientin habe die Mutter zu einer Nachsorgeuntersuchung begleitet. Sie (die Patientin) habe Angst gehabt, dass der Krebs noch da sei, und sie sei „wieder von mir weg gegangen”. Dieser Zustand sei jedoch weniger heftig gewesen als sie es sonst gekannt habe. Sie habe es ganz gut hinbekommen, sich zu beruhigen. Dazu habe ihr auch die Übung „der sichere Ort” (S.60 - 62) verholfen.

Intervention: Informatorisches (realistisches) Gespräch über die Erkrankung der Mutter und die möglichen Konsequenzen, Auftrag an die Patientin: Wenn die Mutter ein Rezidiv bekommt, wie kann ich sie unterstützen.

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28. Sitzung

Patientin erklärte, dass sie über das Gespräch der vergangenen Sitzung oft nachgedacht habe. Seit sie mehr Informationen über den Verlauf von Krebserkrankung habe, habe sie „trotz allem weniger Angst”. Sie wisse nun, wie sie ihre Mutter im Falle einer Neuerkrankung unterstützen könne. Dies gebe ihr Sicherheit. Gleichzeitig habe sie weniger Angst, auch an Krebs zu erkranken. „ Es müssen ja nicht immer gleich Katastrophen passieren”. Sie habe in der Broschüre weiter gelesen, die Übung „Ablenkung durch Rechnen” und die Übung „Sinnlosigkeit” seien ihr „zu blöd” gewesen. Damit habe sie nichts anfangen können. Stattdessen habe sie die Lichtstromübung durchgeführt, „das tut mir gut, meine Farbe war gelb wie die Sonne”. Die Schmerzwaage brauche sie nicht mehr, da sie fast keine Schmerzen mehr habe und es ihr insgesamt recht gut gehe. „Ich kann jetzt wieder lachen, fühle mich richtig befreit, ich weiß wieder wer ich bin und hab mein altes Selbstbewusstsein wieder. Ich lasse mir nichts mehr erzählen, treffe meine Entscheidungen jetzt selbst. Das tut richtig gut, zu sehen, dass ich das kann.”

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29. Sitzung

Die Patientin ist einigermaßen ratlos. Sie habe in der Broschüre weiter gelesen und sei über das Thema Selbstschutz-Maßnahmen gestolpert. Sie könne ja schließlich nicht verhindern, dass Ihre Mutter wieder erkranke. Um Ihre seelischen Verletzungen zu heilen, müsse sie sich wichtiger nehmen und besser auf sich aufpassen, damit habe sie ja schon angefangen. Sie habe auch gelernt, dass sie unabhängig von den Eltern ihr Leben leben muss, sich abnabeln und lernen muss, ihr Leben aktiv und unabhängiger zu gestalten. Um einer eigenen Erkrankung vorzubeugen, könne sie entsprechende Lebensweisen bevorzugen. Mit der Frage, wer das Geschehen verursacht habe, könne sie nichts anfangen, aber das treffe ja wohl nur zu, wenn man anderweitig Opfer wäre.

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30. Sitzung

Die Patientin erzählt, dass sie sich sehr wohl fühle. Sie könne das gar nicht verstehen, sie habe immer gedacht, dass sie ohne ihren Freund nicht leben könne. Es störe sie ein wenig, noch im Haus der Eltern zu wohnen, sie könne jedoch demnächst in ein eigenes Appartement ziehen, worüber sie sich sehr freue. Die Wachsamkeitsübung (S.80) habe ihr gut gefallen, sie habe sie jedoch für sich „umgewandelt”. Nun wisse sie endlich, woher ihre Symptome gekommen seien. Sie habe erkannt, dass „wenn ich von mir weggehe” eine jetzt nicht mehr effektive Selbstschutzmaßnahme sei. Viel besser wäre es, das Leben aktiv und aufmerksam selbst zu gestalten. Zum nächsten Thema „Wie lässt sich ein Trauma heilen” merkt die Patientin lächelnd an, dass sie gemerkt habe, das alles seine Zeit brauche. „Das geht nicht von heut auf morgen. Wenn mich die Angst mal wieder einholt, weil ich mir Katastrophengedanken mache, sag ich mir „STOP” und höre auf damit, mich jeck zu machen”. Manchmal lasse sie sich „von den Ängsten durchschütteln und danach geht’s mir besser”. Zudem habe sie gelernt, dass ihre Gefühle o. k. seien und sie die auch zulassen dürfe.

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31. Sitzung

Die Patientin berichtet von ihrem Umzug, sie sei richtig glücklich, jetzt eine eigene Wohnung zu haben. Ihr ehemaliger Lebensgefährte habe wieder Kontakt zu ihr aufgenommen und das schmeichele ihr sehr. „Aber jetzt geht alles nach meinen Bedingungen oder gar nicht”. Sie erklärt, das sie durchaus zu Kompromissen bereit sei, „aber jetzt will ich erst mal das Alleinsein genießen”. Sie habe in der Broschüre weiter gelesen, besonders gefalle ihr der Abschnitt „die Welt wieder sehen lernen”(91 - 101). Sie gehe oft durch die Natur spazieren, meistens Wege, die sie von früher kennt. Dies habe eine sehr beruhigende Wirkung auf sie, und sie fühle sich dann sicher. Sie habe sich angewöhnt, sich Details anzusehen und dann auf das Gesamtbild „umzuschalten”. Mit den „rhythmischen Augenbewegungen” komme sie nicht klar und dies sei für sie „keine gute Übung”. An den Fragen am Ende der Broschüre habe sie noch einmal festgestellt, dass es viele Menschen gibt, denen es genau so ergeht wie ihr selbst. Die lese sie sich immer mal wieder durch und lerne „immer noch was dazu”. Sie habe den Eindruck, dass sie das Trauma einigermaßen bewältigt habe, „und ich weiß, wenn die Symptome noch mal kommen, wie ich mit ihnen umgehen muss”.

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Nacherhebung (2 Monate nach Therapieende)

Durchführung des PTSS-10

Patientin erreicht einen Wert von 15 (zu Beginn der Behandlung 46), dies entspricht einer milden Symptomatik. Hierbei gibt sie an, zurzeit wieder gelegentlich unter Schlafproblemen zu leiden (weil ich umgezogen bin) (4v.6).

Sie habe keine Alpträume mehr, sei nicht mehr depressiv verstimmt, habe keine Angst mehr vor Stellen, die sie an das Ereignis erinnern könnten. Sie sei manchmal schreckhaft (2 v. 6) habe gelegentlich das Bedürfnis sich zurückzuziehen (2 v. 6) und sei manchmal gereizt. Sie habe schon mal Stimmungsschwankungen (2 v. 6) oder leichte Muskelverspannungen(2 v. 6)

Die Werte in der IES (Impact of Event Scale) lagen bei 2 Punkten (vorher 54 Punkte)

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Katamnestisches Interview

Frau S. erklärte, dass es „mein größtes Glück war, dass ich hier bei Ihnen gelandet bin”. Sie habe, bevor Sie diesen Therapieplatz bekommen hätte, schon verschiedene Ärzte konsultiert, diese hätten sie jedoch „anfangs nur mit Medikamenten voll gestopft. Und je mehr ich nehmen sollte, desto schlimmer wurden meine Symptome”. Auch in der psychosomatischen Klinik habe man „scheinbar nicht erkannt, dass sie traumatisiert gewesen sei. „Die haben mich verrückt gemacht, weil sie mir nichts erklärt haben. Ich war hilflos und verzweifelt, weil ich dachte, ich wäre verrückt. Ich hab ja gemerkt, das irgendwas mit mir nicht stimmt.”

Das wichtigste zu Beginn der Therapie sei gewesen, dass sie erfahren habe, „dass ich nicht verrückt bin, sondern meine Symptome eine normale Reaktion auf eine verrückte Anforderung von außen darstellen. Das hat mich sehr erleichtert und ich hatte wieder Hoffnung und konnte mich daran festhalten. Als ich dann das Selbsthilfemanual bekam, habe ich sofort angefangen zu lesen und hab mir alles markiert, was auf mich zutrifft. Ich sah, so was haben andere Leute auch, da stand es schwarz auf weiß. Und ich sah, dass meine „verrückten” Symptome aufgetreten waren, weil sich meine Psyche selber versucht zu heilen. Das war der erste Schritt in Richtung Heilung. Ich hab die jeweiligen Kapitel dann oft mehrmals durchgelesen und immer wieder was gefunden und angestrichen, was mir weiterhalf. Es gab mir Kraft, die Zeit bis zur nächsten Therapiestunde zu überstehen und sie sogar noch sinnvoll zu nutzen.

Die beste Übung war für mich die, in der ich das Trauma wegpacken konnte. Danach fing ich wieder an zu leben und dachte: Du schaffst es. Das war auch ungefähr die Zeit, wo die Kopf - und Magenschmerzen nachließen. Weiter zurückgegangen sind sie dann, als ich regelmäßig die Entspannungsübungen oder „den sicheren Ort” geübt habe. Heut habe ich fast keine Schmerzen mehr. Ich leide gelegentlich noch unter Schlaflosigkeit, aber das liegt eher an meiner neuen Wohnsituation, glaube ich.”

Nachgefragt, ob sich außer den Symptomen noch anderes verändert habe, erklärt die Patientin:

„Ich weiß jetzt: was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann es nicht rückgängig machen. Was sich verändert hat ist, ich denke jetzt, es ist vorbei, ich hab’s geschafft. Ich kann mir die Kassette jederzeit wieder rausholen und mir den Film ansehen, aber es ist nicht mein Lebensinhalt. Ich weiß, was geschehen ist, aber es überflutet mich nicht mehr. So hart wie es sich anhört, denke ich, jeder muss mal sterben, auch meine Eltern sind da keine Ausnahme. Aber das Sterben gehört zum Leben dazu. Diese Gedanken kann ich jetzt zulassen, ohne dass ich Symptome bekomme. Klar bin ich dann etwas traurig und es wäre schwer für mich, wenn den Eltern was passieren würde. Aber meine Einstellung hat sich verändert von „allein bin ich hilflos” in „ich kann mein Leben alleine schaffen”. Ich plane nicht mehr so weit vor, wie ich das vor dem Ereignis getan habe. Was kommt das kommt. Ich werde es schaffen, damit umzugehen. Es ist ein anderer Umgang und ein neues Selbstbewusstsein. Ich bin froh, dass ich sagen kann: „Hurra, ich lebe wieder”!

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Kommentar

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Diagnostik

Neben der aktuellen Anpassungskrise an die Krebsnachricht liegen verschiedene psychosomatische Beschwerden wie z. B. Kopfschmerzen vor, die zum Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik führten. Die Nachricht von der Krebserkrankung der Mutter mag man vielleicht nicht als hinreichend schweres Ereignis im Sinne des A-Kriteriums beim PTBS betrachten. Auf dem Hintergrund der bereits voraufgegangenen Verluste und Belastungen der Patientin verbinden sich jedoch dauerhaft belastende Umstände, z. B. im Zusammenhang mit der Erkrankung des Vaters, mit diesem punktuellen Ereignis. Ein solcher Kontext, in dem ein Ereignis steht, sollte in der Praxis stärker berücksichtigt werden, längerfristig natürlich auch in den diagnostischen Manualen. Formen einer „kumulativen” oder „sequentiellen” Traumatisierung [2] können ebenfalls das A-Kriterium des PTBS erfüllen.

Entwicklungspsychologisch ist zu berücksichtigen, dass das Ereignis in die adoleszente Ablösungskrise der Patientin fällt und die damit verbundene Ambivalenz verstärkt. Aus dieser „Ambivalenzfalle” hatte jedenfalls wohl auch der stationäre Aufenthalt der Patientin nicht herausgeführt. Er mag dennoch vielleicht auf die ambulante Therapie vorbereitet haben. Die Ablösungskrise wird in fataler Weise unterbrochen durch die Nachricht, dass die Mutter sich in einer möglicherweise sogar lebensbedrohlichen Lage befindet.

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Dynamik der Beziehungsgestaltung

Wie befreit, greift die Patientin die Broschüre auf, da sie einen Haltepunkt außerhalb der therapeutischen Beziehung zu bieten verspricht, die in Gefahr ist, durch die starken Ambivalenzen ebenfalls verzerrt zu werden. So wäre erneut der „schützende Raum” verloren, den Adoleszente benötigen, um ihrer eigenen Wege gehen zu können. Indem die Therapeutin die Arbeit mit der Broschüre nicht nur unterstützt, sondern sie auch offen gestaltet, ohne die Patientin auf bestimmte Übungen oder eine Reihenfolge der Übungen festzulegen, scheint sie die „optimale Differenz” (im Sinne der MPTT) zwischen Arbeitsbündnis und Übertragungserwartung der Patientin zu verwirklichen. Die Eigenarbeit der Patientin wird positiv anerkannt und gefördert und die altersgemäße Tendenz, selbständig zu werden, damit unterstützt. Die Therapeutin gibt nur die notwendigen, minimalen Hilfen. Diese Haltung scheint den phasengerechten Wünschen der Patientin nach Verselbständigung optimal zu entsprechen. Die Arbeit mit der Broschüre, bei der die Patientin die Führung übernimmt, eröffnet einen triadischen Raum, eine gemeinsame „Dritte Sache”, welche die aufgrund der Erkrankung von Ängsten und Ambivalenzen bestimmte Ablösungskrise der Patientin neutralisiert.

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NEUE WEGE im Zusammenhang der einzelnen Veränderungsschritte

Im folgenden fassen wir die einzelnen Veränderungsschritte zusammen, soweit der Umgang mit NEUE WEGE hierin eine Rolle spielte.

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Stabilisierung

In der 11. Sitzung wurde die Broschüre eingeführt, nachdem zuvor schon eine Übung gemacht wurde (Anschauen von Photos in verschiedenen Lebensaltern), worauf die Patientin positiv reagiert hatte. Die Broschüre greift nimmt sie dankbar auf, da sie so endlich an sich weiterarbeiten könne. Behandelt werden zuerst die psychoedukativen Abschnitte, in denen u. a. Traumasymptome als Selbstheilungsversuch beschrieben werden (S. 31 ff.). Besonders dieser Aspekt und das Prinzip der Normalität (s. o.) entlasten die Patientin. Auch die Mutter sei froh gewesen, dass sie (die Patientin) durch das Manual Hilfe bekam (Sitzung 13).

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Abgrenzung und Selbstbehauptung

Nach der Anregung der Therapeutin, über Selbstbehauptung nachzudenken, erfolgt eine erste Abgrenzung gegenüber dem Lebenspartner (15. und 16. Sitzung). In Sitzung 16 verwendet die Patientin NEUE WEGE für eine Einschätzung ihrer Trauma-Symptomatik (S.31 - 37). Sie habe tagsüber keine sich aufdrängenden Erinnerungen mehr, jedoch abends und nachts dann oft Alpträume. Sie entwickelt die Idee, dass auch die Kopf -und Magenschmerzen „flash-backs” seien. Die Informationen über „Sicherheit und Beruhigung” (ab S.37 im Manual) halfen dann weiter: Sie habe sich an einen „inneren sicheren Ort gebeamt” und könne mit dieser Vorstellung auch ihre Erlebnisse von Selbstentfremdung verhindern („innerlich von sich weggehen”). Die Atemübung hilft, mit überwältigenden Affekten besser umzugehen und Gespräche über ihr Trauma besser zu steuern: „Wie es im Manual steht, suche ich mir jetzt die Leute aus, mit denen ich darüber spreche und höre damit auf, wenn’s mir zuviel wird. Das ist eine große Erleichterung” (18. Sitzung).

In Sitzungen 18 und 19 setzt sich die Abgrenzungsbewegung gegenüber dem Lebensgefährten fort und greift - zunächst innerlich - auch auf die Mutter über. Ein Gefühl von Befreiung kommt auf und die Zuversicht, das Trauma bewältigen zu können. Die in der Broschüre empfohlenen Tagesrituale nimmt die Patientin wieder auf (21), lehnt aber den Vorschlag, ein „Superbuch” anzulegen (S.46) ab, was eine erste Abgrenzung auch gegenüber NEUE WEGE bedeutet. Die Übung zur Muskelentspannung wählt sie dagegen aus und kann sie mit Hilfe der Therapeutin erfolgreich anwenden (22,23). Jetzt greift die Abgrenzungsbewegung auch auf den Vater über.

Wendepunkt. Eine Art Wendepunkt kommt in der 24. Sitzung zustande, als die Patientin mit Hilfe der Therapeutin die Übung „ das Trauma wegpacken” (S.56 - 57) ausführen kann. Alleine hatte sie sich die Übung nicht zugetraut.

Nachdem es ihr gelungen ist, die intrusiven Bilder von der Diagnosemitteilung zu „verpacken”, kann sie jetzt liebevoller mit der Mutter umgehen. Die Übung „der sichere Ort” (S.60 - 62) hilft ihr dabei, die Mutter bei einer Nachsorgeuntersuchung zu begleiten.

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Festigung der Veränderung und Integration des Traumas

Sie verwirft die Übungen „Ablenkung durch Rechnen” und „Sinnlosigkeit”, verwendet aber die Lichtstromübung. So benutzt sie das Manual immer stärker ihren Bedürfnissen entsprechend, sucht sich schließlich die Wachsamkeitsübung (S.80) heraus, wandelt sie aber für sich ab - was ebenfalls für einen autonomeren Umgang mit der Broschüre spricht. Besonders gefallen habe ihr jetzt der Abschnitt „die Welt wieder sehen lernen” (91 - 101). Sie gehe oft durch die Natur spazieren, meistens Wege, die sie von früher kenne. An den Fragen am Ende der Broschüre habe sie noch einmal festgestellt, dass es viele Menschen gibt, denen es genau so ergeht wie ihr selbst. Die Antworten lese sie sich immer mal wieder durch und lerne „immer noch was dazu”. Sie habe den Eindruck, dass sie das Trauma einigermaßen bewältigt habe, „und ich weiß, wenn die Symptome noch mal kommen, wie ich mit ihnen umgehen muss”. Die beste Übung sei für sie gewesen, das Trauma wegpacken zu können. Danach fing ich wieder an zu leben und dachte:„ Du schaffst es”. Jetzt könne sie sich die imaginäre Kassette jederzeit ansehen, aber es überflute sie nicht mehr.

Das Ziel der Traumatherapie, die Rückverwandlung traumatisch-überflutender Erinnerungen in gewöhnliche Erinnerung, scheint erreicht zu sein.

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Dialektik der Veränderung - Übersicht über die einzelnen Veränderungsschritte

Traumatherapien lassen sich in die Phasen Stabilisierung, Traumabearbeitung und Integration des Traumas sowie Re-Integration der traumatisierten Persönlichkeit in ihr soziales Umfeld unterteilen. Traumabearbeitung und Integration folgen dabei einer zirkulären Logik, die sich als dialektisches Wechselspiel von „Konstruktion” und „Rekonstruktion” beschreiben lässt [4] [12]. Dieser klassische Verlauf wird hier überlagert durch die altersgemäßen Ablösungstendenzen von der Ursprungsfamilie, die durch die Diagnosemitteilung der Mutter behindert wurden. Parallel zur Traumabewältigung konnte jedoch auch dieser Entwicklungsschritt wesentlich gefördert werden.

In den einzelnen Phasen nutzt die Patientin intuitiv, aber zielsicher die Übungsangebote und Informationen der Broschüre in jeweils unterschiedlicher Weise. Psychoedukative Informationen bringen Entlastung in der Stabilisierungsphase und helfen wohl auch, wie oben erwähnt, die therapeutische Beziehung zu „triangulieren” und zu entlasten. Durchgängig verwendet die Patientin die psychoedukativen Informationen für ihr Selbst-Monitoring, die Selbsteinschätzung ihrer Symptomatik und den Stand, den sie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Therapie bereits erreicht hat.

Als Hilfe in ihrer Abgrenzungsphase wählte die Patientin die Übung „sicherer Ort”. Zusätzlich zur haltenden und unterstützenden therapeutischen Beziehung belebte diese Übung offenbar gute „innere Objekte” und trug dazu bei, die Abgrenzungskrise zu überwinden.

Als Unterstützung für den entscheidenden Wendepunkt, die dialektische Konstruktionsleistung, wählt die Patientin die Übung „das Trauma wegpacken” mit der Bildschirmtechnik. Psychodynamisch ist hier die Frage, ob es ihr gewissermaßen erlaubt sein kann, das Leiden der Mutter „wegzupacken” und in einem Safe zu verschließen, auch wenn der Film dort später wieder herausgeholt werden kann. Es ist geradezu rührend, wie die Patientin in der Übertragung die Therapeutin um ihre Unterstützung, gewissermaßen ihre „Erlaubnis” für diesen Schritt anfragt. Mit Hilfe der Therapeutin wird der Weg dann frei für diesen entscheidenden „Konstruktionsschritt”, der die bisher unlösbaren Gegensätze von Leben und Tod dialektisch „aufhebt”. In den Worte der Patientin: „Der Tod ist ein Teil des Lebens”. Diese dialektische Wahrheit wurde nun allerdings der Patientin nicht „antrainiert” in einer Weise, wie bisweilen Techniken des sog. „reframing” verwendet werden. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines emotionalen Entwicklungsprozesses, der durch die Broschüre unterstützt, aber nicht vorgezeichnet wurde.

Von dieser „Konstruktion” aus kann die traumatische Erfahrung dann „durchgearbeitet” und schrittweise in den Lebensentwurf der Patientin integriert werden. Bei diesem zirkulären Wechselspiel von Konstruktion und Rekonstruktion (durcharbeiten) half einmal die „Lichstromübung”, die den „Neugebinn” (Balint) und die damit verbundene Hoffnung verstärkt. Zum anderen die „Wachsamkeitsübung” sowie weitere psychoedukative Information über Trauma und Traumaverarbeitung aus der Broschüre, die jetzt, nachdem das eigene Trauma verarbeitet und der Entwicklungskonflikt gelöst ist, intellektuell besser aufgenommen werden als zu Therapiebeginn.

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Kommentar der Therapeutin über die Arbeit mit dem Selbsthilfemanual

„Wie schon weiter oben berichtet, treten in der Therapie traumatisierter Menschen häufig Probleme auf, die das therapeutische Setting und die Beziehungsgestaltung belasten können. Ein hohes Mass an Kontrollbedürfnis und Sicherheit , welches dem Entwurf eines traumakompensatorischen Schemas entspringt, sowie der dringende Wunsch des Patienten, sein Leben wieder selbst zu gestalten, lassen den Therapeuten oft in „Beziehungsfallen” tappen, die eine optimale Differenz in der Beziehungsgestaltung erschweren, oftmals verhindern.

An dieser Stelle bot mir die Arbeit mit dem Manual einen ebenso einfachen wie hilfreichen Ausweg aus dem Dilemma. Durch mein Angebot an die Patientin, aktiv die Therapie mitzugestalten, fühlte sie sich nicht nur bestärkt darin, ihren eigenen Selbstheilungskräften zu vertrauen, sie erlebte sich gleichzeitig als einen kompetenten und als einen von mir als Fachmann kompetent eingeschätzten Partnerin im Arbeitsbündnis.

Zudem bekam sie ein hohes Maß an Kontrolle über das, was in der Therapie mit ihr „passierte”. So wurde es oftmals für sie überflüssig, mich in der Therapie weiteren „Tests” zu unterziehen, um sich immer wieder des sicheren Rahmens und der sicheren Beziehung, welche das therapeutische Setting in der Behandlung Traumatisierter bieten sollte, zu vergewissern.

Ich bekam mit dem Manual ein Instrument an die Hand, das unterstützend dazu beitrug, den Therapieverlauf zu strukturieren, ohne die Psychodynamik des traumatischen Verlaufs zu unterbrechen.

Die Patientin griff sich zielsicher die Übungen heraus, die in der jeweiligen Phase der Traumaverarbeitung für sie selbst die geeigneten waren.

Meine wichtigsten Aufgaben waren demnach, die Patientin bei ihrer Arbeit mit dem Manual positiv zu verstärken ,wachsam zu sein für die Bitten der Patientin, sie bei der einen oder anderen Übung zu unterstützen und Zurückhaltung in Bezug auf Interventionen zu üben.

Diese Art von Arbeit setzte selbstverständlich voraus, dass ich mich vor Therapiebeginn mit dem Manual vertraut machte und jederzeit auf Fragen und Bitten um Unterstützung seitens der Patientin reagieren konnte. Da das Manual sehr gut strukturiert und gut verständlich geschrieben ist, bedurfte es eines geringen Zeitaufwandes, sich einzulesen.

Es war eine interessante Selbsterfahrung, die ein oder andere Übung an mir selbst einmal auszuprobieren.

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Überlegungen zur differentiellen Indikation

Das Beispiel zeigt, wie mit Unterstützung einer geeigneten Anleitung zur Selbsthilfe ein selbstbestimmter therapeutischer Prozess zustande kommt, der durch strukturierte Übungen nicht behindert wird. Vielmehr suchen sich die Patienten, wenn wir sie nur lassen, intuitiv die Übungen und Informationen heraus, die zu ihrem jeweiligen therapeutischen Entwicklungsschritt passen. Es ist nicht leicht, die für Traumatherapien erforderliche angemessene Balance von strukturierter Information und strukturiertem Vorgehen einerseits und hinreichender Prozessorientierung andererseits zu verwirklichen. Der hier geschilderte Einsatz einer Selbsthilfeanleitung kann dabei eine Hilfe sein. Er setzt voraus, dass ein offener therapeutischer Rahmen geschaffen wird und die Therapeutin sowohl psychodynamische Kenntnisse und Fertigkeiten, etwa im Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung, mitbringt als auch Erfahrungen im verhaltenstherapeutischen Einsatz von Trainingselementen in der Therapie. Besonders geeignet scheinen intellektuell wache und neugierige Patienten zu sein, die ein ausgeprägtes Autonomiebedürfnis haben. Patienten mit stärkeren Abhängigkeitsbedürfnissen binden nach unserer bisherigen Erfahrung ihre Therapeuten zunächst stärker ein.

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Literatur

  • 1 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma - Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen. Vesalius-Verlag Konstanz; 2000 Direktbestellung über www.psychotraumatologie.de
  • 2 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt UTB München; 1998, zweite Aufl. 1999
  • 3 Gossmann D. Zielgruppenorientiert Akutintervention bei Opfern von Banküberfällen. Psychologische Diplomarbeit am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln 2001
  • 4 Fischer G. Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie. MPTT. Asanger Heidelberg; 2000a
  • 5 Fischer G. Kölner Dokumentationssystem für Psychotherapie und Traumabehandlung. KÖDOPS. DIPT-Verlag Köln; 2000b Direktbestellung über www.psychotraumatologie.de
  • 6 Engelhardt D v.. Bibliotherapie - Entwicklung, Situation und Perspektiven. Gerlingen; Bibliotherapie. Arbeitsgespräch der Robert Bosch Stiftung 1985 1987: 3-45
  • 7 Koch H H, Kessler N. Schreiben und Lesen in psychischen Krisen. Gespräche zwischen Wissenschaft und Praxis. Psychiatrie-Verlag Bonn; 1998 1
  • 8 Schade B, Schüffel W, Schunk T. A brief inventory to investigate stress reactions: The Posttraumatic Symptom Scale, 10-items (PTSS-10) - the German Version. Paper auf der Tagung der Gesellschaft für Traumatic Stress Studies ISTSS. Maastricht; 1998
  • 9 Maercker A, Schützwohl M. Erfassung von psychischen Belastungsfolgen: Die Impact of Event Skala - revidierte Version (IES-R).  Diagnostica. 1998;  44 130-141
  • 10 Hütter B O, Fischer G. Clinimetric Evaluation of the German version of the impact of event Scale (IES). Fischer (2000c) 1997: 24
  • 11 Marmar C R, Weiss D S, Metzler T. The peritraumatic dissociative experience questionnaire. Wilson JP , Keane TM Guilford Press New York; Assessing psychological trauma and PTSD: A practitioners handbook 1997: 412-328
  • 12 Fischer G. Dialektik der Veränderung in Psychoanalyse und Psychotherapie. Modell, Theorie und systematische Fallstudie. Asanger Heidelberg; 1989, zweite Aufl. 1996
#

Autoren:

Prof. Dr. Gottfried Fischer

Gottfried Fischer, Dipl.-Psych., Prof. Dr. phil. ist Direktor des Instituts

für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln.



Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpischer Straße 45

50923 Köln

Phone: Tel.: 0221/ 470 4805/ 5809

Fax: Fax: 0221/ 470 5034

Email: e-mail: gottfried.fischer@uni-koeln.de

Dipl.-Psych. Gaby Angenendt

Psychotherapeutische Praxis

Römerstr. 10

52428 Jülich

Gaby Angenendt arbeitet als Diplom-Psychologin und Psychologische

Psychotherapeutin in Düren in freier Praxis.

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Literatur

  • 1 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma - Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen. Vesalius-Verlag Konstanz; 2000 Direktbestellung über www.psychotraumatologie.de
  • 2 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt UTB München; 1998, zweite Aufl. 1999
  • 3 Gossmann D. Zielgruppenorientiert Akutintervention bei Opfern von Banküberfällen. Psychologische Diplomarbeit am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln 2001
  • 4 Fischer G. Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie. MPTT. Asanger Heidelberg; 2000a
  • 5 Fischer G. Kölner Dokumentationssystem für Psychotherapie und Traumabehandlung. KÖDOPS. DIPT-Verlag Köln; 2000b Direktbestellung über www.psychotraumatologie.de
  • 6 Engelhardt D v.. Bibliotherapie - Entwicklung, Situation und Perspektiven. Gerlingen; Bibliotherapie. Arbeitsgespräch der Robert Bosch Stiftung 1985 1987: 3-45
  • 7 Koch H H, Kessler N. Schreiben und Lesen in psychischen Krisen. Gespräche zwischen Wissenschaft und Praxis. Psychiatrie-Verlag Bonn; 1998 1
  • 8 Schade B, Schüffel W, Schunk T. A brief inventory to investigate stress reactions: The Posttraumatic Symptom Scale, 10-items (PTSS-10) - the German Version. Paper auf der Tagung der Gesellschaft für Traumatic Stress Studies ISTSS. Maastricht; 1998
  • 9 Maercker A, Schützwohl M. Erfassung von psychischen Belastungsfolgen: Die Impact of Event Skala - revidierte Version (IES-R).  Diagnostica. 1998;  44 130-141
  • 10 Hütter B O, Fischer G. Clinimetric Evaluation of the German version of the impact of event Scale (IES). Fischer (2000c) 1997: 24
  • 11 Marmar C R, Weiss D S, Metzler T. The peritraumatic dissociative experience questionnaire. Wilson JP , Keane TM Guilford Press New York; Assessing psychological trauma and PTSD: A practitioners handbook 1997: 412-328
  • 12 Fischer G. Dialektik der Veränderung in Psychoanalyse und Psychotherapie. Modell, Theorie und systematische Fallstudie. Asanger Heidelberg; 1989, zweite Aufl. 1996
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Autoren:

Prof. Dr. Gottfried Fischer

Gottfried Fischer, Dipl.-Psych., Prof. Dr. phil. ist Direktor des Instituts

für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln.



Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpischer Straße 45

50923 Köln

Phone: Tel.: 0221/ 470 4805/ 5809

Fax: Fax: 0221/ 470 5034

Email: e-mail: gottfried.fischer@uni-koeln.de

Dipl.-Psych. Gaby Angenendt

Psychotherapeutische Praxis

Römerstr. 10

52428 Jülich

Gaby Angenendt arbeitet als Diplom-Psychologin und Psychologische

Psychotherapeutin in Düren in freier Praxis.