Aktuelle Urol 2002; 33(1): 33-35
DOI: 10.1055/s-2002-19983
Editorial
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Divertikel der weiblichen Harnröhre

Diverticle of the Female Urinary TractR.  Hohenfellner1 , L.  Molling1 , J.  Steffens1
  • 1Urologische Universitätsklinik Mainz
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Publication Date:
07 February 2002 (online)

Hintergründe für die seinerzeit moderne „Meatusstenose”, heute eine historische Erkrankung, waren Normvarianten wie z. B. die Meatusweite, problematische Messmethoden, Bougierung des elastischen Meatus aber auch einfache, reproduzierbare Behandlungsverfahren wie die wiederholte Dehnung mit und ohne kommerziellen „Background”. Auch für das blande, durch Ultraschall und NMR nachweisbare „Divertikel” der weiblichen Harnröhre wird bei einer breit gefächerten, keineswegs richtungweisenden Symptomatik häufig die Indikation zur Divertikulektomie gestellt [5] [8].

Divertikel der weiblichen Harnröhre sind seit Beginn der 50er Jahre [2] immer wieder Gegenstand von Publikationen mit unterschiedlichen Klassifikationen [5] und Therapieansätzen [4] [8] [10]. Bereits die Bezeichnung „Divertikel” ist jedoch problematisch, da kongenitale, muskuläre Defekte mit Schleimhautausstülpung wie z. B. Uretermündungsdivertikel in der kindlichen, distalen Harnröhre nicht beobachtet werden. Demgegenüber sind erworbene Defekte im Septum vesicovaginale (Halbansche Faszie, periurethrale Faszie) Folge von vorausgegangenen Eingriffen. Diese besser als „Pseudodivertikel” [5] bezeichneten Ausstülpungen sind Folge vorausgegangener Operationen wie Divertikelektomien, Zysteninzisionen, Inkontinenzoperationen und Kolporraphien. Ein Zusammenhang zwischen der ursprünglichen Divertikelinzidenz von 1,85 % und deren sukzessiver Zunahme [2] mit steigender Anzahl von Inkontinenzeingriffen ist nicht auszuschließen. Immerhin fanden sich im Krankengut von K. Ganabathi [4] in der Hälfte der Fälle derartige Eingriffe in der Vorgeschichte, bei einem Viertel davon erfolglose Divertikeloperationen.

Des Weiteren münden sämtliche urethrale Drüsenausführungsgänge im distalen, nicht funktionellen Teil der weiblichen Urethra. Entzündungen mit temporärem Verschluss der Ausführungsgänge, Abszessbildung und Distension innerhalb des Septum vesicovaginale gelten seit der klassischen Beschreibung durch Routh [9] als Hauptursache für „Divertikelbildungen”. Während somit die blockierten Drüsenausführungsgänge im Stadium der „Divertikelbildung” im distalen Anteil der Urethra liegen, erfolgt die Ausweitung der Sekretretention im lokalen Bindegewebsspalt der periurethralen Faszie, die vom Septum urethrovaginale übergangslos ins Septum vesicovaginale führt.

Unterschiedlich große zystische Ausstülpungen, z. T. multipel und bis zu 10 Zentimeter im Durchmesser subtrigonal reichend, werden durch transvaginalen Ultraschall, MRI und im Miktionszystourethrogramm bzw. durch Punktion und Kontrastmittelfüllung dargestellt. Erst bei sekundärer Perforation in die Urethra entlang dem Ausführungsgang entleert sich spontan bzw. bei „Massage” Pus oder infizierter Urin aus dem Meatus. Harnröhrendivertikel sind im Zystogramm nicht darstellbar, hingegen im Miktionszystourethrogramm bzw. postmiktionell, d. h. sie liegen grundsätzlich infrasphinktär bzw. distal der funktionellen Harnröhre.

Klinisch richtungweisend sind die seltenen Fälle von hoch fieberhaften Abszessbildungen mit Vorwölbung der vorderen Vaginalwand und erschwerter Miktion bis hin zum kompletten Harnverhalt durch distale Urethralkompression. Differentialdiagnostisch spielen Bartholinsche Zysten und die lateral des Meatus gelegenen Retentionen von Skeneschen Zysten eine nicht unerhebliche Rolle. Wesentlich seltener sind die anterior gelegenen Gartnerschen Gangzysten. Demgegenüber entziehen sich weniger dramatische Vorwölbungen der vorderen Vaginalwand zwischen Meatus und dem inneren Blasenmund so lange der Verdachtsdiagnose, als bei Massage nicht purulentes Sekret oder infizierter Urin aus dem Meatus austritt [4].

Eine überlappende Symptomatik von vermehrtem Harndrang, schmerzhafter Miktion und Dyspareunien sowie Nachträufeln, für unspezifische Harnwegsinfektionen und spezifische Urethritiden gleichermaßen charakteristisch, erschwert die Diagnostik, wenn das Leitsymptom des „Ausmelkens” bei verschlossenen Ausführungsgängen fehlt. Darüber hinaus ist die temporäre Blockade charakteristisch für wechselnde Befunde, die später der mangelnden Sorgfalt des Erstuntersuchenden zugeordnet werden [1]. Auch daraus erklären sich die wechselnden Befunde, z. T. über Jahre hinaus bei Ultraschalluntersuchungen, Miktionszystourethrogramm, Doppelballondarstellung NMR mit Gadolinium [8], bei denen die Differenzialdiagnose zur Zystozele misslang. Demgegenüber entziehen sich solide Raumforderungen bei sekundärer Tumorbildung bzw. Steinformation auch in Form von so genannten Tropfsteinhöhlen nach Voroperationen der oben genannten bildgebenden Diagnostik nicht.

Zu den umstrittensten, richtungweisenden Untersuchungen zählt die Endoskopie [4] [10], wobei die Gründe einleuchtend sind. Eine „Entfaltung” der Urethra misslingt im Rahmen der Panurethroskopie und kleinere Divertikeleingänge verbergen sich zwischen den irisförmigen Schleimhautfalten. Demgegenüber sind pädiatrische Endoskope Charr. 6 - 14 in Verbindung mit der Kondomendoskopie hilfreich. Diese ermöglichen die Identifizierung enger, verschwollener Drüsenausführungsgänge, deren Lokalisation im Bereich der distalen Urethra und danach die Inspektion des Pseudodivertikels.

Zu den aufgeführten Problemen der Diagnostik gesellen sich die der Therapie. „In der Literatur herrscht Übereinstimmung darüber, dass die chirurgische Divertikelexzision die Methode der Wahl ist”, schreiben H. Davies u. Mitarb. 1958 [2]. Dennoch, 21 % der operierten Patientinnen waren postoperativ weiterhin symptomatisch und 12 % hatten ein Rezidiv. 42 Jahre später dämpft L. J. Romanzi [8] diesen Optimismus durch das Statement: „... die chirurgische Exzision birgt für die Patienten das signifikante Risiko der Harninkontinenz bzw. der Urethrovaginalfistel”. Im Krankengut von Ganabathi [4] wurde von insgesamt 63 Patientinnen nur die Hälfte einer alleinigen Divertikelexstirpation zugeführt und 48 % einer zusätzlichen Blasenhalssuspension. Auch im Krankengut von Romanzi et al. wurde bei 35 Patienten eine zusätzliche Meatusflap-Technik angewandt, mit und ohne einer Inkontinenzoperation. Eine Übersicht über 703 Patienten mit Divertikelexstirpation zwischen 1956 und 1994 ergab eine Inzidenz von Urethrovaginalfisteln zwischen 0,9 - 8,3 % sowie von Rezidivdivertikeln zwischen 1 und 30 %. Nur in 4 der größeren Serien waren jedoch Nachuntersuchungen über einen längeren Zeitraum verfügbar [4]. Andererseits sind Patientinnen mit distalen Urethralfisteln bzw. einer Wunddehiszenz nach Divertikelexstirpation weitgehend beschwerdefrei und daher „telefonische Nachfragen” zur Beurteilung des Operationsergebnisses problematisch.

1970 beschrieben H. Spence und J. Duckett [10] die so genannten „Saucerisation” (Marsupialisation), d. h. die Divertikellängsspaltung durch antegrade, vertikale Kolpotomie mit Adaptation des Divertikelrandes und der Vaginalschleimhaut durch Catgutnähte. Das in der Folge eher seltene, meist bei Versagen nach Divertikelexstirpation angewandte Verfahren - technisch einfach und reproduzierbar - erwies sich auch bei den eingangs erwähnten Fällen von Urosepsis mit und ohne komplette Harnretention als hoch effizient [6]. Die postoperative Inkontinenzrate lag trotz der danach hypospaden Harnröhrenmündung unter 1 % [3] [7] [10]. Unabhängig von der Divertikelausdehnung innerhalb des Septum urethrovaginale und ungeachtet der Lokalisation des Divertikeleingangs auch bei scheinbar proximaler Lage, erwies sich diese Technik als anwendbar. Nach Inzision des Meatus und Verlängerung der Kolpotomie auf eine Strecke von 5 - 6 cm schrumpft im postoperativen Verlauf der entstandene Hohlraum zu einer flachen, epithelisierten Mulde und zwar auch bei weit subtrigonal reichenden Ausstülpungen.

Zusammenfassend sollte die Nomenklatur des so genannten „Urethraldivertikels” neu überdacht werden, ebenso wie sich die Diagnostik und Therapie in den zurückliegenden 50 Jahren in einer Reihe von Punkten schrittweise veränderten. Entzündungsvorgänge in paraurethralen Drüsen mit Sekretretention und pseudozystischer Ausdehnung im Septum urethrovaginale sind von Pseudodivertikeln als Folge chirurgischer Fasziendefekte nach Voroperation abzugrenzen. In der bildgebenden Diagnostik ist neben dem transvaginalen Ultraschall die Kernspinuntersuchung am aussagekräftigsten. Die Kondomurethroskopie mit pädiatrischem Instrumentarium ermöglicht auch bei engen „Divertikeleingängen” die Divertikuloskopie. Die Differenzialdiagnose zwischen Bartholinschen Zysten, Skeneschen Zysten, Gartnerschen Gangzysten, Steinbildungen und Karzinomen wird dadurch erleichtert. Das transurethrale „Unroofing” mittels eines Kinderresektoskops ist bei flachen Divertikeln gefahrlos.

Für die Akutsituation des vereiterten Urethraldivertikels ist das Verfahren der Saucerisation (Marsupialisation) nach H. Spence ebenso Verfahren der Wahl wie bei ausgedehnten, chronisch infizierten Divertikeln, ungeachtet der Ausdehnung und Lokalisation des Divertikeleingangs. Pseudodivertikel nach erfolglosen Voroperationen mit und ohne Fremdmaterial und Steinbildung bedürfen ebenso wie Urethrovaginalfisteln der komplexen Urethralrekonstruktion und weichen damit operationstechnisch nicht von der chirurgischen Versorgung von Urethraldefekten ab. Das Prinzip besteht in der medianen Kolpotomie, der Mobilisation der periurethralen Faszie, dem Verschluss des Defektes, der Interposition mittels eines Martius-Fettlappens bzw. freiem Peritonealinterponates und pubovaginaler Schlinge vor Verschluss der Kolpotomie. Der Versuch einer ausgedehnten Mobilisation des gesamten „Divertikelsackes” innerhalb des Septum vesicovaginale bis subtrigonal beinhaltet das Risiko von Harnröhrenverletzungen mit sekundärer Urethrovaginalfistel im funktionellen, proximalen Harnröhrensegment. Über eine „wait and see”-Strategie bei kleinen Divertikeln mit gelegentlicher, intermittierender Symptomatik unter konservativer Therapie gibt es keine verlässlichen Daten. Große Fallzahlen sprechen bei vergleichsweise geringer Inzidenz für eine großzügige Indikationsstellung bei überlappender Symptomatik und verbesserter bildgebender Diagnostik im Sinne von Zufallsbefunden.

Literatur

  • 1 Davis B L, Robinson D G. Diverticula of the female urethra: assay of 120 cases.  J Urol. 1970;  104 850-853
  • 2 Davis H J, Telinde R W. Urethral diverticula: an assay of 121 cases.  J Urol. 1958;  80 34-39
  • 3 Drutz H P. Urethral diverticula.  Obst Gynec Clin N America. 1989;  16 923
  • 4 Ganabathi K , Leach G E, Zimmern P E, Dmochowski R. Experience with the management of urethral diverticulum in 63 women.  J Urol. 1994;  152 1445-1452
  • 5 Leng W W, McGuire E J. Management of female urethral diverticula: a new classification.  J Urol. 1998;  160 1297-1300
  • 6 Fritz Th, Müller S C, Hohenfellner R. Operationen an der weiblichen Harnröhre: Meatusstenose, Urethralkarunkel, Harnröhrenprolaps und Urethraldivertikel. In: Ausgewählte urologische OP-Techniken, 2. Auflage: 5.75 - 5.85. Herausgegeben von Hohenfellner R. Stuttgart · New York: Georg Thieme Verlag 1997
  • 7 Robertson J R. Urethral diverticula. In: Gynecologic Urology and Urodynamics: Theory and Practice, 2nd ed. Edited by D. R. Ostergard Baltimore: Williams & Wilkins 1985 chapt 27: 329-338
  • 8 Romanzi L J, Groutz A, Blavais J G. Urethral diverticulum in women: diverse presentations resulting in diagnostic delay and mismanagement.  J Urol. 2000;  164 428-433
  • 9 Routh A. Brit Med J. 1890;  1 361
  • 10 Spence H M, Duckett Jr J W. Diverticulum of the female urethra: clinical aspects and presentation of a simple operative technique for cure.  J Urol. 1970;  104 432-437

R. Hohenfellner

Urologische Universitätsklinik

Langenbeckstr. 1

55131 Mainz

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