NOTARZT 2002; 18(2): 58-59
DOI: 10.1055/s-2002-25247
Fortbildung
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Familienessen

F.  Martens1
  • 1Charité, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin Berlin (Direktor: Prof. Dr. Ulrich Frei)
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Publication Date:
22 April 2002 (online)

Der Fall

Die Notärztin wird am frühen Morgen in ein 1-Familien-Haus gerufen, wo mehrere Personen mit Durchfall, Erbrechen und starken Bauchschmerzen erkrankt sind. Ein 2Œ-jähriges Mädchen hatte nachts bereits mehrfach erbrochen. Bei ihrem 7-jährigen Bruder begannen zwei Stunden danach ebenfalls Erbrechen und Durchfall. Noch während der Versorgung der akut erkrankten Kinder entwickelte auch die Mutter heftige Leibschmerzen und erbrach mehrfach. Alle Personen waren ansprechbar, das Kleinkind jedoch sehr schläfrig. Alle klagten über Bauchschmerzen, die durch Palpation verstärkt wurden.

Die notärztliche Vermutung einer durch Lebensmittel ausgelösten Gastroenteritis wurde durch ein gemeinsames Abendessen aller betroffenen Personen am Vorabend bei den Großeltern gestützt. Als wesentlicher Bestandteil dieser Mahlzeit konnten selbstgesammelte Pilze ermittelt werden. Ein Anruf bei den Großeltern ergab, dass inzwischen auch der 70-jährige Großvater mehrfach erbrochen hatte und unter Durchfall litt.

Die Notärztin veranlasste nun bei Verdacht auf Pilzvergiftung die Einweisung der Mutter mit ihren beiden Kindern sowie deren Großeltern in eine nahe gelegene Klinik. Die Rettungssanitäter wurden aufgefordert, eventuelle Pilzreste von den Großeltern mitzubringen.

In der Klinik wurden alle Patienten erneut untersucht und erhielten venöse Verweilkanülen zum Volumenersatz. Die Großmutter war asymptomatisch; überdies hatte sie von dem Pilzgericht nichts gegessen. Bei Großvater, Tochter und deren beiden Kindern wurde jeweils eine ausgiebige Magenspülung durchgeführt, bei der jedoch keine Nahrungsreste mehr zutage gefördert werden konnten. Danach wurden die großlumigen Magenschläuche durch nasogastrale Sonden ersetzt und darüber bei den Kindern jeweils 25 g, bei den Erwachsenen jeweils 100 g Aktivkohle instilliert. Zwischenzeitlich immer wieder auftretende starke Übelkeit konnte durch Metoclopramidgaben beherrscht werden. Wegen des Verdachts einer Vergiftung mit Knollenblätterpilzen wurde von allen Patienten Urin zur toxikologischen Analyse auf Amanitin versandt. Die von den Rettungssanitätern aus dem Mülleimer gesammelten Pilzreste wurden mit polizeilicher Hilfe zu einem Pilzexperten transportiert. Dessen Untersuchung ergab zweifelsfrei, dass Knollenblätterpilze ein Bestandteil des Essens gewesen sein mussten. Inzwischen wurde in der Klinik mit der Zufuhr von Silibinin begonnen und Volumenersatz mit Ringer-Laktat-Lösung durchgeführt. Drei Stunden nach Aufnahme der Patienten im Krankenhaus bestätigte das toxikologische Labor den Nachweis von Amanitin bei allen symptomatischen Personen; bei der Großmutter konnte hingegen kein Amanitin nachgewiesen werden. Da innerhalb weniger Stunden die Transaminasen beim Großvater und dessen beiden Enkelkindern deutlich anstiegen, erfolgte die Verlegung der vier Personen in die Universitätsklinik wegen des drohenden Leberausfalles und der nur dort vorhandenen Möglichkeiten zur Lebertransplantation.

Unter Fortführung großzügiger Volumensubstitution, weiterer Silibinin- und Aktivkohlegaben sowie Keimreduktion des Darmes mittels Neomycin und Laktulose verbesserte sich der klinische Zustand aller Patienten in den nachfolgenden Tagen. Bei der Mutter kam es nur zu einem geringen Transaminasenanstieg, die Blutgerinnung und das Kreatinin blieben im Normalbereich, so dass sie nach drei Tagen entlassen werden konnte. Bei ihrem Vater trat eine transiente Hyperbilirubinämie von 2,3 mg/dl und ein Abfall der Thromboplastinzeit auf 61 % auf, die sich jeweils ohne spezifische Maßnahmen wieder normalisierten. Er konnte sieben Tage nach der Mahlzeit entlassen werden. Lediglich die beiden Kinder mussten über 14 Tage behandelt werden, konnten glücklicherweise aber ebenfalls ohne eingreifendere Maßnahmen wieder nach Hause zurückkehren.

Priv.-Doz. Dr. Frank Martens

Charité, Campus Virchow Klinikum · Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin · Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Email: frank.martens@charite.de

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