Zentralblatt für Kinderchirurgie 2002; 11(3): 121-131
DOI: 10.1055/s-2002-32821
Leitartikel

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erstversorgung schwer verletzter Kinder in der chirurgischen Notaufnahme

Primery care of the multiply injured child in the emergency roomR. Noppens, A. M.  Brambrink
  • Klinik für Anästhesiologie, Klinikum der Johannes- Gutenberg Universität Mainz
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Publication Date:
15 July 2002 (online)

Einführung

In den industrialisierten Ländern gelten schwere Verletzungen als Haupttodesursache bei Kindern unter 14 Jahren [1]. Pro Jahr versterben mehr Kinder an den Folgen von Unfällen als an sämtlichen Erkrankungen im Kindesalter zusammen. In der Gruppe der 1- bis 4-jährigen beträgt der Anteil der traumatischen Todesfälle 40 %, in der Gruppe der 5- bis 19-jährigen sogar 70 % der gesamten Mortalität. Etwa 20 % aller stationären Aufenthalte von Kindern werden aufgrund von Verletzungen notwendig.

Positiv zu vermelden ist in diesem Zusammenhang, dass der Anteil an tödlich endenden kindlichen Verletzungen in den letzten drei Jahrzehnten um etwa 25 % zurück gegangen ist. Im gleichen Zeitraum konnte allerdings der tödliche Verlauf von kindlichen Erkrankungen sogar um 56 % gesenkt werden [9]. Die häufigsten Ursachen für tödliche Verletzungen sind im Straßenverkehr zu finden, wobei im Gegensatz zu Erwachsenen Kinder häufiger als Fußgänger bzw. Radfahrer betroffen sind [2].

Kinder werden häufig von Eltern bzw. Umstehenden ohne Aktivierung des Rettungswesens direkt in die Klinik gebracht, unter Umständen sogar bei Verletzungen, die eine unmittelbare Notfallbehandlung erfordern. So ergab eine kürzlich publizierte Untersuchung aus Großbritannien, dass immerhin 6 von 60 schwer verletzten Kindern durch die Eltern mit dem PKW ins Krankenhaus transportiert worden waren [21]. Umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass nur etwa 20 % der Kinder, die primär am Notfallort durch Mitarbeiter des Rettungsdienstes versorgt werden, tatsächlich von einer schweren Verletzung bzw. Erkrankung betroffen sind [3]. Dienst habende Ärztinnen und Ärzte, wie auch alle ü brigen Mitarbeiter einer chirurgischen Notaufnahme, müssen folglich auch in den industrialisierten Ländern Europas stets auf das unangemeldete Eintreffen eines schwer verletzten und gleichzeitig medizinisch vollständig unversorgten Kindes vorbereitet sein. Dies erfordert von den Verantwortlichen spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten in der Erstversorgung vital bedrohter Kinder sowie das Vorhalten des dazu notwendigen Notfallequipments. Andererseits lässt die Einlieferung eines verletzten Kindes durch den Rettungsdienst bzw. Notarzt nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf den Schweregrad der Verletzungen zu.

Viele Mitarbeiter des Rettungsdienstes äußern Unsicherheiten bei der Behandlung von Kindern und fordern daher vergleichsweise häufiger Notärzte zur prähospitalen Behandlung von Kindern an. Dennoch bleibt die notärztliche Behandlung eines kindlichen Verletzten im Einzelfall - trotz großer praktischer Erfahrung bei der Versorgung polytraumatisierter Erwachsener - oft auf ein Minimum beschränkt. Daher kommt der rationellen Weiterversorgung in einer chirurgischen Notaufnahme durch spezialisierte Chirurgen, Anästhesisten und Radiologen eine große Bedeutung für den weiteren Verlauf zu.

Die Diagnose und Behandlung des kritisch verletzten Kindes erfordert ein systematisches Vorgehen, um sowohl rasche als auch adäquate therapeutische Interventionen zu erlauben. Die Identifizierung und Behandlung von lebensbedrohlichen Zuständen hat absolute Priorität vor einer kompletten Anamneseerhebung sowie speziellen Untersuchungen. In diesen Fällen muss das Kind zunächst stabilisiert werden, bevor die spezifischen therapeutischen Interventionen durchgeführt werden. Die Versorgung von schwer verletzten Kindern setzt die genaue Kenntnis der besonderen anatomischen-, physiologischen- und pathophysiologischen Vorgänge in der jeweiligen Altersgruppe voraus. Für jede Institution in der Kinder mit schweren Verletzungen behandelt werden, sollte ein spezifisches „Schockraumprotokoll” formuliert werden, indem sowohl die Alarmierung der notwendigen Spezialisten (z. B. Kinderchirurgen, Anästhesisten, Radiologen, Neurochirurgen etc.), als auch die notwendigen Untersuchungen, Geräte und Material festgelegt ist. Ein rationeller Handlungsablauf sollte ebenfalls in diesem Protokoll enthalten sein. Entsprechende interdisziplinäre Absprachen können von Einrichtung zu Einrichtung variieren, stellen jedoch eine elementare Voraussetzung für einen optimalen Verlauf der Behandlung vital bedrohter Kinder dar. Eine regelmäßige Konferenz der beteiligten Spezialisten sollte die Einhaltung überwachen und die vereinbarten Algorithmen regelmäßig aktualisieren.

Die folgende Übersicht basiert auf Literaturempfehlungen und formuliert einen systematischen Handlungsablauf in zwei Phasen: von der Erkennung und Behandlung vital bedrohlicher Störungen („primary survey”) zur systematischen körperlichen Untersuchung, Anamneseerhebung („secondary survey”), an deren Ende die Festlegung der individuellen Behandlungspriorität steht.

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Dr. med. Ansgar M. Brambrink

Klinik für Anästhesiologie

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