Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2002; 12(4): 187-189
DOI: 10.1055/s-2002-33902
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prävention, Physikalische Medizin und Implikationen der Internationalen Klassifikation der Funktionen, Fähigkeitsstörungen und Gesundheit (ICF)

Prevention, physical medicine and implications of the International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)Chr. Gutenbrunner
Further Information

Publication History

Eingegangen: 4. Juni 2002

Angenommen: 20. Juni 2002

Publication Date:
06 September 2002 (online)

Die Prävention ist seit vielen Jahrhunderten ein zentrales Anliegen von Ärzten und anderen in der Gesellschaft Verantwortung tragenden Berufsgruppen. Dabei haben sich in der Geschichte Ziele und Herangehensweisen vielfach verändert und dem verfügbaren Wissen sowie den aktuellen epidemiologischen Gegebenheiten angepasst. So stand z. B. nach der Entdeckung der Bakterien als Krankheitserreger die Hygiene im Mittelpunkt der präventiven Bemühungen, während der Fortschritt der Immunologie später die Impfungen zu einer zentralen Aufgabe der Prävention werden ließ. Nicht zu vergessen ist, dass im 19. Jahrhundert Untersuchungen über Zusammenhänge von sozialem Status und Erkrankungen zu der Idee einer Sozialprävention geführt haben. Eine Folge hiervon sind auch die ergonomischen und arbeitsmedizinischen Bemühungen der Prävention berufsbedingter Krankheiten und Schädigungen. Die Verfeinerung der diagnostischen Möglichkeiten hat eine Reihe von Krankheitsfrüherkennungsprogrammen nach sich gezogen. Schließlich hat die Identifikation von Risikofaktoren für die Entstehung bestimmter Krankheiten zu dem heute weit verbreiteten Risikofaktorenmodell der Prävention geführt.

Heute wird allgemein zwischen der Primärprävention, also der eigentlichen Vorbeugung von Erkrankungen und Unfallschäden, der Sekundärprävention, dem Verhindern schwerer Krankheitsstadien, und der Tertiärprävention zur Vermeidung von Komplikationen und Rezidiven unterschieden. Hierzu gehört konsequenterweise auch das Vermeiden von Krankheitsfolgen im Sinne des Rehabilitationsmodells. Während sich die Primärprävention im Wesentlichen auf die Krankheitsfrüherkennung und die Beeinflussung von bereits eingetretenen Risikokonstellationen konzentriert, wird die Stärkung gesunder Ressourcen heute als Gesundheitsförderung bezeichnet. Als weitere Begriffe in diesem Bereich sind die Prophylaxe als gezielte Abwehr bestimmter Erkrankungen (z. B. durch Impfungen, medikamentöse Malariaprophylaxe etc.) und die Metaphylaxe zu erwähnen, die darauf abzielt, das Wiederauftreten eines Krankheitsschubes oder -rezidivs zu verhindern (z. B. Harnsteinmetaphylaxe).

Diese Aufzählung zeigt, wie heterogen die präventiven Ansätze heute sind. Dadurch wird auch eine Positionsbestimmung der Physikalischen Medizin in der Prävention erschwert. Ein Mangel an durchdachten physikalisch-medizinischen Präventionskonzepten führt aber dazu, dass den Menschen wichtige präventive Maßnahmen aus dem Fachgebiet der Physikalischen Medizin und Rehabilitation vorenthalten bleiben.

Eine Voraussetzung für die Erarbeitung von Präventionskonzepten im Sinne einer Physikalischen Medizin [2] ist die Definition von Präventionszielen und der hierfür notwendigen Wirkungsmechanismen. Im Sinne einer Gesundheitsförderung bieten sich hierzu zunächst zwei Modelle an:

Das Modell der Hygiogenese 3 geht davon aus, dass fast alle chronischen Erkrankungen als Regulationsstörungen in verschiedenen Funktionssystemen beginnen. Ihr Grundprinzip dieses Modells ist die Steigerung der Regulationsfähigkeit vegetativ gesteuerter Funktionen durch funktionelle Adaptationen, die durch eine serielle Applikation therapeutische Reize induziert werden können. Voraussetzungen hierfür sind eine geeignete Reizqualität, wie sie physikalisch-therapeutische Anwendungen nachweislich darstellen können, eine Reizintensität, die die individuell gewohnte Regulationskapazität übersteigt, und eine ausreichende Reaktionsfähigkeit des behandelten Organismus. Die Reaktionen werden über das Hypophysen-Nebennierenrinden-System gesteuert und sind durch eine zirkaseptanperiodische Gliederung, eine adaptive Normalisierung sowie durch positive Kreuzadaptationen in nicht direkt betroffenen Funktionssystemen gekennzeichnet 4. Das Modell der Salutogenese 5 geht davon aus, dass das Individuum Kräfte besitzt, die ihm helfen, Gesundheit zu entwickeln 6. Hierbei handelt es sich in erster Linie um psychische Fähigkeiten, die unter dem Begriff des „Sense of Coherence” (Kohärenzgefühl) zusammengefasst werden. Die Fähigkeit, mit Belastungen kreativ und erfolgreich umzugehen, wird dabei durch die Faktoren Verstehbarkeit (Comprehensibility) [„Ereignisse im Leben sind strukturiert und erklärbar”], die Handhabbarkeit (Manageability) [„Ressourcen, den Anforderungen gerecht zu werden, sind verfügbar”] und Bedeutsamkeit (Meaningfulness) [„Anforderungen sind Herausforderungen, die das Engagement lohnen”] bestimmt.

Obwohl die Modelle der Hygiogenese und der Salutogenese unabhängig voneinander entwickelt worden sind, scheinen Kohärenzgefühl und vegetative Regulationen nicht unabhängig voneinander zu sein. So beschreiben Rimann u. Udris [7] enge Korrelationen des Sense of Coherence mit verschiedenen vegetativen Beschwerden und vegetativ beeinflussten Krankheitsparametern. Gleichzeitig ist durch zahlreiche Studien belegt, dass physikalisch-medizinische und balneologisch-klimatologische Behandlungsserien, die im Sinne der funktionellen Adaptation eine Verbesserung der vegetativen Regulation bewirken, auch psychische Auswirkungen haben können. Ob diese das Kohärenzgefühl direkt betreffen, ist bislang allerdings nicht untersucht.

Für die Planung von gesundheitsfördernden Interventionskonzepten in der Physikalischen Medizin und Rehabilitation und deren wissenschaftliche Evaluation bedeutet dies, dass sowohl die somatische (vegetativ-regulative) Ebene als auch die psychische und kognitive Dimension einzubeziehen sind. Präventionsprogramme müssen also geeignet sein, sowohl körperliche gesundheitsfördernde und -erhaltende Funktionen zu stärken und gleichzeitig das Kohärenzgefühl zu steigern.

Es besteht heute kein Zweifel, dass physikalische Therapiekonzepte, insbesondere bewegungstherapeutische Interventionen präventive Effekte haben können. So ist z. B. die allgemeine körperliche Aktivität negativ mit den Erkrankungshäufigkeiten für KHK, Schlaganfall, kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs sowie die Gesamtmortalität korreliert [8]. Bewegungsaktivität vermindert darüber hinaus das Risiko von kognitiven Störungen und Demenz bei Menschen im Alter über 65 Lebensjahre [9] sowie das Risiko für das Auftreten eines Schlaganfalls [10]. Untersuchungen über präventive Einflüsse der Bewegungstherapie auf die Knochendichte zeigen eindeutig, dass der Abnahme der Knochendichte durch gezielte Bewegungsprogramme wirksam entgegengewirkt werden kann und dass Bewegungsaktivität das Risiko für Schenkelhalsfrakturen signifikant reduzieren kann [11]. In den meisten dieser Untersuchungen wird aber der Qualität der Bewegung und anderen Bewegungsfunktionen außer der kardiopulmonalen und Stoffwechselbelastung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Einige Studien zeigen immerhin, dass auch Prävention in anderen Funktionen, wie der Qualität motorischer Abläufe und von mentalen und anderen ZNS-Funktionen möglich ist.

Die bisherigen Präventionskonzepte zielen durchweg auf die Verhütung von Krankheiten im Sinne von ICD-Diagnosen. Die Verabschiedung der neuen Internationalen Klassifikation der Funktionen, Fähigkeitsstörungen und Gesundheit (ICF) durch die World Health Assembly im Mai 2001 [1] dürfte aber auch die Entwicklung von Präventionskonzepten in Zukunft wesentlich beeinflussen und die Rolle der Physikalischen Medizin für die Prävention verstärken. Das Modell des ICF geht davon aus, dass sich Störungen von Strukturen und Funktionen (structures and functions), die Aktivitäten[1] und die Teilhabe[2] am sozialen Leben (activities and participation) gegenseitig bedingen, wobei das Modell von vielfältigen Wechselwirkungen ausgeht. Darüber hinaus werden Kontextfaktoren[3] (contextual factors) benannt, die die genannten Funktionsbereiche als weitere Faktoren mitbeeinflussen. Dabei wird im Bereich der Aktivitäten und der Partizipation von einem Kontinuum zwischen Limitierungen und fehlenden Einschränkungen ausgegangen. Für die Kontextfaktoren wird zwischen hemmenden (barriers) und fördernden Faktoren (facilitators) unterschieden.

Das der ICF zugrunde liegende Modell erweitert den Aufgabenbereich in der Prävention, so dass das Ziel der Verhinderung von Krankheiten um die Vermeidung von Funktionseinschränkungen und Beeinträchtigungen der Teilhabe erweitert werden muss. Unter diesem Blickwinkel wird sich zeigen, dass gerade der Physikalischen Medizin, die ja definitionsgemäß das Erkennen und Behandeln von Funktionsstörungen zum Ziel hat, sowie ihr handlungsorientierter Ansatz, der z. B. in der Ergotherapie besonders zum Ausdruck kommt, in Präventionskonzepten der Zukunft eine zentrale Rolle zukommen muss. Das Fachgebiet der Physikalischen Medizin und Rehabilitation wird diesbezüglich auch insofern eine größere Bedeutung erlangen, als die in der für die Rehabilitation entwickelten interdisziplinären und multiprofessionellen Teamstrukturen beste Voraussetzungen für eine sinnvolle Prävention schaffen und die rehabilitativen Assessments auch zur Früherkennung von Funktionseinschränkungen und Aktivitätsstörungen verwendet werden können. Dies schließt auch die bereits in der Rehabilitation erprobten multiprofessionellen Schulungsmaßnahmen zur Verhaltensänderung mit ein.

Der Ansatz, die Dimensionen des ICF auch auf die Prävention anzuwenden, stellt eine große Herausforderung an die Physikalische Medizin und Rehabilitation dar und wird zahlreiche Forschungsprojekte nach sich ziehen müssen. Es ist aber zu erwarten, dass hierdurch den nicht zuletzt im Sozialgesetzbuch IX [12] definierten allgemeingültigen Zielsetzungen einer größtmöglichen Unabhängigkeit der Menschen in unserer Gesellschaft wesentlicher Vorschub geleistet werden kann. Nicht nur unter dem Aspekt der individuellen Lebensqualität, sondern auch unter Kostengesichtspunkten ist eine größtmögliche Selbständigkeit auch im Alter ein wichtiges gesellschaftspolitisches Ziel, das durch geeignete präventive Maßnahmen gefördert werden kann.

Literatur

  • 1 WHO .International Classification of Functioning, Disability and Health. Geneva; World Health Organization 2001
  • 2 Konsensuskonferenz 1998 Konsensuskonferenz Physikalische und Rehabilitative Medizin .Fachgebiet Physikalische und Rehabilitative Medizin - Begriffe und Definitionen. Hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation, dem Berufsverband der Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin und der Arbeitsgemeinschaft Physikalische Medizin und Rehabilitation. Bad Kösen; GFBB-Verlag 1998
  • 3 Hildebrandt G. Physiologische Grundlagen (Therapeutische Physiologie). In: Amelung W, Hildebrandt G (Hrsg) Balneologie und medizinische Klimatologie. Berlin, Heidelberg, New York; Springer-Verlag 1985 Band I: 4-108
  • 4 Gutenbrunner C, Hildebrandt G. Handbuch der Balneologie und medizinischen Klimatologie. Berlin, Heidelberg, New York, Barcelona, Budapest, Hongkong, London, Mailand, Paris, Santa Clara, Singapur, Tokyo; Springer-Verlag 1998
  • 5 Antonovsky A. Health, Stress, and Coping: New Perspectives on Mental and Physical Well-Being. San Francisco, London; Josseey-Bass Publ 1979
  • 6 Schüffel W, Brucks U, Johnen K, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U. Einführung. In: Schüffel W, Brucks U, Johnen K, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U (Hrsg) Handbuch der Salutogenese. Wiesbaden; Ullstein Medical 1998: 1-7
  • 7 Rimann M, Udris I. „Kohärenzerleben” (Sense of Coherence): Zentraler Bestandteil von Gesundheit und Gesundheitsressource?. In: Schüffel W, Brucks U, Johnen K, Köllner V, Lamprecht F, Schnyder U (Hrsg) Handbuch der Salutogenese. Wiesbaden; Ullstein Medical 1998: 351-364
  • 8 Blair S N, Cheng Y, Holder J S. Is physical activity or physical fitness more important in defining health benefits?.  Med Sci Sports Exerc. 2001;  33 S379-399
  • 9 Laurin D, Verreault R, Lindsay J, MacPherson K, Rockwood K. Physical activity and risk of cognitive impairment and dementia in elderly persons.  Arch Neurol. 2001;  58 498-504
  • 10 Sacco R L, Gan R, Boden-Albala B, Lin I F, Kargman D E, Hauser W A, Shea S, Paik M C. Leisure-time physical activity and ischemic stroke risk: the Northern Manhattan Stroke Study.  Stroke. 1998;  29 380-387
  • 11 Gregg E W, Cauley J A, Seeley D G, Ensrud K E, Bauer D C. Physical activity and osteoporotic fracture risk in older women. Study of Osteoporotic Fractures Research Group.  Ann Intern Med. 1998;  129 81-88
  • 12 SGB IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Erste Auflage. Beck-Texte, Deutscher Taschenbuch-Verlag 2001

1 Definition der Aktivität (lt. ICF): „Activity is the execution of a task or action by an individual.”

2 Definition der Partizipation (lt. ICF): „Participation is involvement in a life situation.”

3 Definition der Kontextfaktoren (lt. ICF): „Contexual factors represent the complete background of an individual's life and living.”

Univ.-Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner

Institut für Balneologie und Medizinische Klimatologie · Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation · Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

    >