PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(4): 315-317
DOI: 10.1055/s-2002-36085
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Lebensphase Adoleszenz

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Publication Date:
11 December 2002 (online)

Beinahe täglich berichten die Medien über beunruhigende und erschreckende Geschichten von Jugendlichen, die Gewalt und kriminelle Handlungen ausüben, gemeinsam von einer Brücke in den Tod springen oder von ganzen Schulklassen von Mädchen, die sich mit Glasscherben die Haut aufschneiden, und von Jungen, deren Selbstfindung immer häufiger in die Psychiatrie führt (Zeit: 8. 8. 2002, S. 9). Gleichzeitig heißt es, dass der Jugend Vorbilder, Perspektiven und Grenzen fehlten. Nie sei Erwachsenwerden komplizierter gewesen als heute (ebenda).

Demgegenüber kommt die Shellstudie 2002 zu ganz anderen Ergebnissen. Danach blickt die Jugend optimistisch in ihre persönliche Zukunft. Sie orientiert sich an konkreten und praktischen Problemen und zeigt ein erhöhtes Maß an persönlicher Leistungsbereitschaft.

Auch Psychotherapeuten entwerfen widersprüchliche Bilder der Adoleszenz: Die einen sehen die Adoleszenz als eine Zeit der Krise, des „Sturm und Drangs”, der Verunsicherung und Labilisierung, die anderen heben die Fähigkeiten des Jugendlichen und seine Bewältigungsstrategien im Umgang mit Veränderungen hervor. Diese verschiedenen Sichtweisen verweisen auf die Vielfalt der Bilder, die Jugendliche bieten - zwischen Schock, Schöpfung und Anpassung.

Da gibt es Jugendliche, die diese Zeitspanne scheinbar ohne jegliche Beunruhigung durchleben. Andere zeigen besondere Fähigkeiten und Begabungen. Und wieder andere werden plötzlich schwierig, orientieren sich an den schrillen Erscheinungen jugendlicher Subkultur, steigen gegebenenfalls aus bisherigen Bezügen aus und werden im extremen Fall zu Grenzgängern der Gesellschaft oder Aussteigern.

Psychoanalytiker und Psychotherapeuten haben sich dieser Lebensphase, die spezifische Verstehenszugänge und besondere therapeutische Techniken erfordert, erst relativ spät zugewendet. Das ist insofern erstaunlich, als Freud (1905) am Beginn seiner psychoanalytischen Tätigkeit mit Jugendlichen (z. B. Dora, 18 Jahre alt) gearbeitet hat. Es fehlten jedoch Konzepte zum Umgang mit dieser Zeitspanne und ihren Besonderheiten ebenso wie therapeutisch-technische Strategien. Ende der 50er-Jahre verhalfen wichtige Beiträge von Anna Freud (1958), Peter Blos (1992), Erik Erikson (1962) und Kurt Eissler (1958) der Psychotherapie Jugendlicher zu einem Durchbruch. Reale Entwicklungsaspekte und damit verbundene Labilisierungen konnten nun in der Psychotherapie berücksichtigt werden.

Die Adoleszenz beginnt mit der körperlichen Reifung im Rahmen der Pubertät und endet in der Regel im Alter von 20 Jahren. Verschiedene Entwicklungsaufgaben hat der Jugendliche zu bewältigen. Corey (1946) nennt fünf: Er muss

mit den körperlichen Veränderungen vom kindlichen zum erwachsenen Körper fertig werden sich von den Eltern loslösen neue Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen und sexuelle Bedürfnisse in die Beziehungen integrieren Selbstvertrauen und ein neues Wertsystem entwickeln sowie eine soziale und berufliche Identität gewinnen.

Diese Entwicklungsaufgaben, die durch die psychobiologischen Reifungsprozesse am Beginn der Adoleszenz eingeleitet werden, gehen mit Umstrukturierungen und Entwicklungen der Persönlichkeit einher, die Ablösung, Individuation und neue Beziehungsformen ermöglichen sollen. Die Zeitspanne wird in der Regel in eine frühe, mittlere und späte Adoleszenz unterteilt mit je spezifischen Merkmalen: In der frühen Adoleszenz werden Eltern plötzlich mit Veränderungen im Verhalten ihres Kindes konfrontiert, die sie meist irritieren. Der bisher unauffällige Sohn oder die Tochter ziehen sich zurück, haben Heimlichkeiten oder verhalten sich ruppig und provozierend. Eltern sollen jetzt nicht mehr alles wissen und erfahren. Ursprüngliche Übereinkünfte des Latenzkindes mit sich selbst und seinen Eltern, die von einem Bedürfnis nach einer Welt geteilter Bedeutungen getragen sind, werden infrage gestellt. Ein „Wir-Gefühl”, das sich beim Latenzkind im Alter von sechs bis etwa zwölf Jahren auf die Eltern und auf die Familie und deren Weltsicht bezieht, löst sich allmählich auf. Die Einheit im Denken, Fühlen und Handeln zerbricht. Bisherige Fähigkeiten des Denkens, das sich an konkreten und aktuellen Feststellungen orientiert hat (Piaget u. Inhelder 1977, vgl. Flammer in diesem Heft), werden durch den Ausbau von übergeordneten affektiv-kognitiven Strukturen erweitert, so dass umfassendere und eigenständige Betrachtungen in Bezug auf sich selbst und die Umwelt möglich werden. Diese veränderten Anschauungen von sich selbst und der Umwelt führen zu Verunsicherungen und Infragestellungen. Die Erfahrung, anderen und sich selbst fremd zu sein und auf bisherige Bewältigungsformen nicht mehr zurückgreifen zu können, geht mit Beschämungsgefühlen und -ängsten einher. Schamgefühle haben in der Selbstdifferenzierung eine wichtige Funktion (Brouchek 1991). Sie werden zumeist von Mädchen und Jungen unterschiedlich verarbeitet.

Die zunehmende Ablösung von den Eltern und ihre innere Entmachtung in der mittleren Adoleszenz führen zu einer vorübergehenden Phase des gesteigerten Narzissmus (Blos 1962), der als Wegbereiter zu einer eigenen und abgegrenzten Identität dient. Dieser physiologische Narzissmus zeigt sich z. B. darin, dass Jugendliche unausgeglichen sind, zu Stimmungsschwankungen zwischen „himmelhochjauchzend” und „zu Tode betrübt” neigen und leicht kränkbar sind, zu Schwarz-Weiß-Malereien neigen und zwischen Selbstüberschätzung, Selbstvergrößerung und Gefühlen von Unzulänglichkeit hin und her pendeln können (Blos 1962). Diese adoleszenzspezifischen Verhaltensweisen haben zu heftigen Kontroversen Anlass gegeben - so wurde u. a. die Meinung vertreten, die Jugend werde insgesamt narzisstischer (Ziehe 1975). Auch Fragen diagnostischer Einschätzung, was unter normaler Adoleszenz zu verstehen und was pathologisch ist, wurden diskutiert. Das borderlineähnliche Verhalten mancher Jugendlicher (Giovacchini 1978) wurde allzu schnell als Borderlinestörung klassifiziert, ebenso psychosenahes Verhalten als bleibende Psychose, ohne dass den Folgen der Umstrukturierungsprozesse ausreichend Gewicht beigemessen wurde (Laufer u. Laufer 1984).

Schöpfungs-, Rettungs- und Größenfantasien (vgl. Erdheim in diesem Heft), die Ausgleich für real erlebte Unzulänglichkeiten sind und das Selbstsystem stabilisieren, dienen in der Adoleszenz als Entwicklungsprogramm zum Großwerden (Chasseguet-Smirgel 1981). Diese Fantasien wirken sich indessen nur so lange entwicklungsfördernd aus, wie nicht die Hoffnung aktiviert wird, die Spanne zwischen dem Ich und den idealen Vorstellungen auf einem anderen Weg als dem der Entwicklung überbrücken zu können (Chasseguet-Smirgel 1981).

Die Gleichaltrigengruppe hat für Jugendliche die Funktion einer Brücke, eines Übergangsraumes zwischen Familie und Gesellschaft. Gleichaltrige Freunde werden zu äußeren Quellen von Selbstwert, wie zuvor die Eltern es waren. Sie übernehmen stützende Funktionen. Je nachdem, welche Bedeutung der Gruppe im Ablösungsprozess von den Eltern zukommt und welchen Kompromiss zwischen regressiven und progressiven Strebungen sie ermöglicht, hat sie als Experimentierfeld entwicklungshemmende bzw. -schädigende oder entwicklungsförderliche Wirkung. Gruppen etwa mit okkultistischen Praktiken, Jugendsekten und Drogenkulturen haben häufig entwicklungsschädigenden Einfluss, weil sie zu einem Abbau von Ich-Fähigkeiten und -fertigkeiten führen und den Rückzug in Traumwelten unterstützen. Eine solche Gruppe ist dann für Jugendliche nicht mehr Übergangs- und Entwicklungsraum auf dem Weg der Ablösung, sondern sie wird zur neuen Heimat. Der Weg in die Individuation ist versperrt, stattdessen wird als Ausdruck eines regressiven Prozesses die Verwirklichung einer infantilen Rettungs- und Vollkommenheitsfantasie in der Gruppe gesucht.

In der späten Adoleszenz kommt es in der Regel zu einer Aussöhnung mit den realen und infantilen Elternbildern und zur Konsolidierung der Persönlichkeit. Aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen und der Notwendigkeit offener und flexibler Lebensgestaltung wird das Ende der Adoleszenz immer unschärfer.

Wie die Adoleszenz verläuft, hängt davon ab, ob die Ablösungs- und Differenzierungsschritte zu einer besseren Organisationstätigkeit des Ichs mit Ausbildung von reifen inneren Steuerungsinstanzen - Übernahme der Werte und Normen der Gesellschaft - führen oder ob der Jugendliche diese Schritte vermeidet. Die weitere Entwicklung wird beeinflusst von bereits entwickelten inneren Strukturen des Jugendlichen, aber auch durch die aktuellen Lebensbedingungen. Im günstigen Fall kann die Adoleszenz zu einer „zweiten Chance” (Eissler1958) für die Entwicklung werden. Andererseits gibt es in der Adoleszenz eine Reihe von Versuchungen, progressive Entwicklungen zu vermeiden, z. B. Sofort- und Ersatzbefriedigungen, die zur Folge haben, dass der Jugendliche in seiner Entwicklung stagniert oder auf frühere Stufen zurückfällt. Drogen, Alkohol, Gewalt oder selbstverletzendes Verhalten können hier als primäre Regulatoren (bei mangelhafter Selbstregulation) und Organisatoren von Identität angesehen werden.

Orientiert an einem charakteristischen Verlauf der Adoleszenz, lassen sich verschiedene pathologische Fixierungen beschreiben:

die verweigerte oder blockierte Adoleszenz (Peter-Pan-Syndrom oder Dornröschenschlaf), der wir in der frühen Adoleszenz begegnen, z. B. in der Magersucht oder in schweren Angststörungen die Adoleszenz als eine unendliche Geschichte, wenn Ablösung und Individuation misslingen und von anhaltendem adoleszentären Agieren bestimmt sind oder die zerbrochene oder zerstörte Adoleszenz: bei jenen Jugendlichen, die infolge von Drogen, Gewalt und Kriminalität aus ihren sozialen Bezügen aussteigen. Es sind Jugendliche, die mit Beginn der Adoleszenz in einen existenziellen Notstand geraten und mit ihrem erschütterten Selbst in der Adoleszenz gleichsam nach Plomben suchen, die ihre anhaltend erfahrenen Defizite und Unzulänglichkeiten verdecken sollen.

Eine Umfrage aus dem Jahr 1998 unter den Gutachtern für analytische orientierte Psychotherapie im Kindes und Jugendalter zu ambulanten Psychotherapien hat ergeben, dass etwa ein Drittel der Anträge für Jugendliche gestellt werden, davon waren wiederum zwei Drittel weibliche Jugendliche. Heute dürfte der Anteil höher liegen, weil Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten jetzt Patienten bis zum 21. Lebensjahr behandeln können und nach Einführung des Psychotherapeutengesetzes viele tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zugelassen wurden.

Um Jugendliche behandeln zu können, müsse man - so wird vielfach behauptet - diese Lebensphase selber gut verarbeitet haben, andernfalls bestehe die Gefahr, dass man sich entweder zu sehr mit dem Jugendlichen oder aber mit den Eltern identifiziere. Häufig bleibt diese Lebensphase in der Ausbildung, insbesondere in der Lehranalyse, ausgespart - zu Unrecht, erfolgen in der Adoleszenz doch wesentliche Weichenstellungen in Hinblick auf das eigene Verständnis und die Gestaltung des Lebens vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte. Da die Erinnerungen an die Vergangenheit erst jetzt eine besondere Bedeutung bekommen, kann man davon ausgehen, dass die eigene Lebensgeschichte in dieser Zeit „geschrieben” wird. Darüber hinaus finden neue Bearbeitungen unverarbeiteter Konflikte statt, die über die Generationen hinweg weitergegeben wurden und als Zündstoff für transgenerationale Konflikte und Symptombildungen dienen. Werden die adoleszenzspezifischen Bedingungen wie beispielsweise die Art des Umgangs mit Konflikten, die gehandelten Botschaften, die Einstellungen gegenüber Erwachsenen - auch dem Therapeuten gegenüber -, die Entwicklungsaufgaben usw. nicht genügend berücksichtigt, können Abbrüche und ungünstige Verläufe die Folge sein (Streeck-Fischer 1994, 1998, 2000).

Ursprünglich war geplant, einen Prominenten über seine Adoleszenz zu befragen - ausgehend von der Vorstellung, dass Prominenz etwas damit zu tun haben könne, dass adoleszentäre Größenfantasien in verarbeiteter Form verwirklicht und in besonderer Weise durchlebt werden konnten. Vielleicht war es ja nicht zufällig, dass keiner von vier angefragten Prominenten Zeit dafür fand oder dazu bereit war. Ist Adoleszenz doch eine so schwierige, heikle Zeit, dass man sie am liebsten vergessen und in seiner Biografie aussparen möchte. Andererseits gilt die Adoleszenz nicht zu Unrecht als Zeit der Avantgarde der Gesellschaft, indem sie mit neuen Lösungen gesellschaftliche Umwälzungen in Gang bringt.

Die folgenden Beiträge erlauben mit ihren je unterschiedlichen Verstehens- und Behandlungsansätzen einen guten Einblick in die Arbeit mit Jugendlichen und vermitteln hoffentlich, dass es bei allen Schwierigkeiten Freude bereitet und befriedigend ist, mit jungen Menschen in dieser Lebensphase zu arbeiten.

Annette Streeck-Fischer, Göttingen

Literatur

  • 1 Blos P. Adoleszenz, 1962. Stuttgart; Klett 1973
  • 2 Brouchek F J. Shame and the Self. New York; The Guilford Press 1991
  • 3 Chasseguet-Smirgel I. Das Ichideal. Frankfurt; Suhrkamp 1981
  • 4 Corey S M. Development Tasks of Youth. In: John Devey Social Yearbook. New York; Harper 1946
  • 5 Eissler K R. Bemerkungen zur Technik der psychoanalytischen Behandlung Pubertierender nebst einigen Überlegungen zum Problem der Perversion, 1958.  Psyche. 1966;  20 837-852
  • 6 Erikson E H. Reality and actuality.  J Am Psa Ass. 1962;  10 451-474
  • 7 Freud A. Probleme der Pubertät, 1958. In: Freud A (Hrsg) Die Schriften der Anna Freud, Bd. 6 München; 1980: 1739-1769
  • 8 Freud S. Bruchstück einer Hysterieanalyse. GW V 1905: 161-286
  • 9 Giovacchini P. The Borderline Aspects of Adolescence and the Borderline State. In: Feinstein S, Giovacchini P Adolescence psychiatry. Chicago; 1978: 320-338
  • 10 Laufer M, Laufer M E. Adoleszenz und Entwicklungskrise, 1984. Klett Cotta 1989
  • 11 Piaget J, Inhelder B. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt; Fischer 1977
  • 12 Streeck-Fischer A. Entwicklungslinien der Adoleszenz.  Psyche. 1994;  48 509-528
  • 13 Streeck-Fischer A. Adoleszenz und Trauma. Vandenhoeck 1998
  • 14 Streeck-Fischer A. Adoleszenz - Wege, Irrwege, Auswege.  Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. 2000;  105 55-70
  • 15 Ziehe T h. Pubertät und Narzissmus. Frankfurt; EVA 1975
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