Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2003; 38(3): 196-197
DOI: 10.1055/s-2003-37781
Mini-Symposium
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Präklinische Polytraumaversorgung: Eilen oder Verweilen?

Preclinical Care of Polytrauma: Rush or Stay?G.  Geldner1 , U.  Schwarz1
  • 1Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie der Philipps Universität Marburg, Marburg
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Publication Date:
12 March 2003 (online)

Die von Trunkey [1] und Tscherne [2] gegebene Definition spricht bei dem Vorliegen einer schweren Verletzung mehrerer Köperregionen und Organsysteme, wobei wenigstens eine Verletzung oder die Kombination derer lebensbedrohlich ist von einem Polytrauma. In über 60 Prozent ist an diesem Krankheitsbild ein Schädelhirntrauma, in ca. 40 Prozent ein Thoraxtrauma, in ca. 40 Prozent ein Extremitätentrauma beteiligt (Abb. [1]) [3].

Hierbei ist die Letalitätskurve drei gipflig mit dem ersten Gipfel sofort bzw. wenige Minuten nach dem Trauma, dem zweiten nach einer Stunde und dem letzten Tage bis Wochen nach dem Trauma. Verbesserungen im Fahrzeugbau und der allgemeinen Verkehrssicherheit konnten die Sofortletalität, welche meist durch massivste Schädelhirntraumata bestimmt wurde, in den letzten beiden Dekaden deutlich senken. Das im gleichen Zeitraum entstandene Konzept der Golden Hour of Shock [1] [2] mit verzahnter präklinischer Therapie, weg von der „Scoop and Run”-Strategie, und Schockraumversorgung konnte ebenfalls eine deutliche Senkung der Letalität bewirken, so dass das konsekutive Multiorganversagen der führende Letalitätsfaktor polytraumatisierter Patienten wurde. Auch auf dem letzten Gebiet wurde durch vermehrten Einsatz von Organersatztherapieverfahren enorme Fortschritte gemacht. Trotzdem bleibt das Multiorganversagen die häufigste Todesursache bei polytraumatisierten Patienten.

Das schon oben erwähnte präklinische Behandlungskonzept der „Stay and Play”-Strategie besteht aus gegebenenfalls Reanimation, der Stabilisierung und Immobilisation, der Intubation und Beatmung und der großzügigen Volumenzufuhr (> 2500 ml) mittels zwei bis drei großlumiger Venenverweilkanülen bei polytraumatisierten Patienten [3] [4] [5]. Mehrere amerikanische wie auch deutsche Studien stellen insbesondere die hohe Volumenzufuhr mit dem damit verbundenen Zeitaufwand zur Schaffung ausreichender venöser Zugangswege in Frage [4] [5], da für sie eine möglichst kurze primäre Rettungszeit die oberste Priorität hat [6]. Die 1994 veröffentliche Studie von Bickell et al. [7] stellte den Sinn der präklinischen Volumengabe insbesondere für penetrierende Verletzungen gänzlich in Frage. Es konnte hier bei über 500 Patienten gezeigt werden, dass bei penetrierenden offenen Thoraxverletzungen eine verzögerte Volumenzufuhr, welche erst mit gleichzeitigem Operationsbeginn einsetzte, die Letalität wie auch die Entwicklung eines Multiorganversagens signifikant senken konnte [7]. In einer Übersichtsarbeit warnte Pepe [8] nicht nur vor einer verfrühten Volumengabe sondern auch vor einer Intubation mit ihren negativen Folgen für die Zirkulation bei polytraumatisierten Patienten und beschrieb dies mit der „amerikanischen Betrachtungsweise”. Diese Sicht wurde von vielen europäischen Studien kritisiert [4] [5], wenn gleich auch hier die Frage aufkam: „Muss der verunfallte Patient vor dem Notarzt geschützt werden” [9]. Neben der Ausbildung wurde in der von diesem Editorial begleiteten Arbeit auch auf die enorme Wichtigkeit einer kurzen Rettungs- und Versorgungszeit hingewiesen [5].

Diese interkontinentalen Unterschiede in der Polytraumaversorgung können zum Teil durch strukturelle und kulturelle Unterschiede erklärt werden. In der Studie von Bickell kann als Kritik angeführt werden, dass die sofort mit Volumen behandelten Patienten mit für europäische Begriffe sehr wenig Volumen (807 ± 667 ml) versorgt wurden, wie auch einen späteren Operationszeitpunkt hatten. Insgesamt besteht das Patientengut in den Vereinigten Staaten häufiger aus offenen Verletzungen mit nicht stillbaren Blutungen verursacht durch Schuss- und Stichverletzungen (immerhin ca. 1000 in 3 Jahren in der Bikell-Studie in einem 2 Millioneneinwohnergebiet). Während in Europa Verkehrsunfälle in ca. 60 - 70 % Ursache eines Polytraumas sind. Transatlantisch werden auch nahezu keine kolloidalen Volumenersatzmittel verwendet wie auch der Rettungsdienst meist von Paramedicis versorgt wird, welche bei venöser Kanülierungen und insbesondere bei zentral venösen Zugängen Übungsdefizite haben dürften. Auch sind deutlich größere Entfernungen zu Trauma Centern Level I zurück zulegen, welche fast exklusiv die Versorgung von Polytraumatisierten durchführen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks konnten Schüttler et al. [4] einen positiven Einfluss des „europäischen Versorgungskonzepts” allerdings statistisch signifikant auch nur für Schädelhirntraumatisierte zeigen. Bei polytraumatisierten Patienten könnte die Gruppe, welche von der verzögerten Volumengabe in der Bickellstudie profitierte diesen Effekt verringert haben.

Als Synthese aus den Erfahrungen dieser Studien [3] [4] [5] [6] [7] [8] könnte das oben beschriebene Konzept der präklinischen Polytraumaversorgung wie folgt modifiziert werden (Tab. [1]):

Neben einer suffizienten Aus- und insbesondere Weiterbildung von Notärzten in der Versorgung von Polytraumen ist ein zielgerichtetes Handeln ohne Zeitverlust vor Ort der beste Garant für eine optimale Patientenversorgung [6] [9]. Das Polytrauma als die Königsdisziplin [2] [3] der präklinischen Notfallversorgung ist mit unter 5 % der Gesamteinsätze in bodengebunden städtischen Rettungsmittel sehr selten, doch gerade wegen seiner hohen Anforderungen an das ganze Rettungsteam ist gerade hier eine ständige Schulung notwendig. Die Versorgung von penetrierenden nicht stillbaren Blutungen nimmt hierbei eine Sonderstellung ein, da diese abseits von eintrainierten Algorithmen eine diametrale Handlungsweise erfordern und damit besondere Anforderungen an den Notarzt und dessen Erfahrung stellen.

Abschließend kann nur nochmals auf die große Bedeutung einer möglichst kurzen primären Versorgungszeit für die Letalität und die Entwicklung eines Multiorganversagens hingewiesen werden.

Literatur

  • 1 Trunkey D D. Trauma.  Sci Am. 1983;  249 20-28
  • 2 Tscherne H, Regel G, Sturm J A, Friedl H P. Schweregrad und Prioritäten bei Mehrfachverletzungen.  Chirurg. 1987;  53 631-640
  • 3 Nast-Kolb D, Waydhas C, Kastl S, Duswald K H, Schweiberer L. Die Bedeutung von Abdonimalverletzungen im Verlauf von polytraumatisierten Patienten.  Chirurg. 1993;  64 552-559
  • 4 Schüttler J, Schmitz B, Bartsch A C, Fischer M. Untersuchung zur Effizienz der notärztlichen Therapie bei Patienten mit Schädel-Hirn- bzw. Polytrauma.  Anästhesist. 1995;  44 850-858
  • 5 Lehmann U, Grotz M, Regel G, Rudolph , Tscherne H. Hat die Initialversorgung des polytraumatisierten Patienten Einfluss auf die Ausbildung eines multiplen Organversagens?.  Unfallchirurg. 1995;  98 442-444
  • 6 Biewener A, Holch M, Müller U, Veitinger A, Erfurt C, Zwipp H. Einfluss von logistischem und medizinischem Rettungsaufwand auf die Letalität nach schwerem Trauma.  Unfallchirurg. 2000;  103 137-143
  • 7 Bickell W H, Wall M J, Pepe P E, Martin R R, Ginger V F, Allen M K, Mattox K L. Immediate versus delayed Fluid Resucitation for hypotensive Patients with penetrating Torso injuries.  N Engl J Med. 1994;  331 1105-1109
  • 8 Pepe P E. Prehospital interventions for trauma: helpful or harmful?. The American point of view. Cur Op Crit.  Care. 1998;  4 412-416
  • 9 Seekamp A, Tscherne H. Muss verunfallter Patient vor Notarzt geschützt werden?.  Unfallchirurg. 1998;  101 159

Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. G. Geldner

Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie des Klinikums der Philipps Universität Marburg

Baldingerstraße 1

35041 Marburg

Email: geldner@mailer.uni-marburg.de

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