Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(16): 857-858
DOI: 10.1055/s-2003-38699
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Nicht nur beobachten, auch publizieren

Neues Potenzial für die alte AWBTo observe is good, to publish is betterM. Middeke
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Publication Date:
16 April 2003 (online)

Die Anwendungsbeobachtung (AWB), auch etwas vornehmer als „postmarketing surveillance study” bezeichnet, hat bei uns allgemein keinen guten Ruf. Die Kritiker sehen in der AWB ein reines Marketinginstrument ohne wissenschaftlichen Nutzen. Tatsächlich wird von der Industrie viel Geld für AWBs ausgegeben. Für die beteiligten Ärzte in der Praxis oder Assistenzärzte in der Klinik bedeutet die Teilnahme an einer AWB ein willkommenes Zusatzhonorar. Ob sich die Investition AWB für die Pharmaindustrie unter dem reinen Marketingaspekt wirklich rechnet, ist allerdings sehr fraglich. Andererseits ist die AWB vom Gesetzgeber vorgesehen, um u. a. Erkenntnisse zu bisher unbekannten oder seltenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen und zur Wirksamkeit unter Routinebedingungen in der Praxis zu vertiefen [1]. Es kann also nicht darum gehen, die AWB als wissenschaftlich sinnlos abzutun und abzuschaffen, vielmehr muss die Qualität der AWB verbessert werden. Hierzu gibt es in letzter Zeit sehr gute und interessante Vorschläge [2] [3]. Die Bemühungen um eine bessere Definition und Durchführung der AWB sind sehr zu begrüßen. Damit steigt auch die Chance, dass AWBs publiziert werden. Erfreulicherweise hat sich auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) im Rahmen der Herbsttagung 2002 des Vorstandes zusammen mit den Korporativen Mitgliedern der DGIM (Vertreter aus Pharmaindustrie und Fachverlagen) mit der AWB im Spannungsfeld von Wissenschaft und Marketing beschäftigt. Wir haben einen Bericht über die Tagung Anfang des Jahres veröffentlicht [3].

Ein Kernproblem der AWB ist die Zuverlässigkeit der Daten. Die Datenqualität der AWB kann durch adäquate Kontrollen (sog. Audits) deutlich erhöht werden [4]. Bei den beteiligten Ärzten kommen die Bemühungen zur Qualitätskontrolle übrigens sehr gut an. Die AWB kann wichtige praxisrelevante Fragen untersuchen, die eine kontrollierte Studie nicht beantworten kann. Der ursprüngliche Kernauftrag der AWB zur Erfassung seltener und bisher unbekannter unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) wurde nicht erfüllt: Bekannte UAWs werden in AWBs seltener berichtet als in Zulassungsstudien, und ganz seltene oder neue UAWs werden so gut wie gar nicht berichtet [5]. Die AWB ist als Instrument aber dennoch geeignet, wichtige andere Fragestellungen zu beantworten. Die Fragen müssen aber vorab gestellt und formuliert werden. Sehr interessante Ausführungen hierzu, zum potenziellen Stellenwert und den Möglichkeiten der AWB von W. Meister finden Sie in dieser Ausgabe (s. S. 859). Besonders bemerkenswert ist darin der Aspekt der „kollektiven Weisheit der behandelnden Ärzte”. Viele Ärzte haben großes Interesse, sich an praktischer Forschung aktiv zu beteiligen.

Damit eröffnen sich weitere und andere Perspektiven. Die stärkere Beteiligung der Ärzte eröffnet neue Potenziale. Es wird ja gerade in letzter Zeit beklagt, dass die Erkenntnisse aus kontrollierten Studien in der Praxis nicht ausreichend umgesetzt werden, z. B. bei der Behandlung der Herzinsuffizienz [6]. Es klafft ein sehr großer Graben zwischen Leitlinien und praktischer Medizin. Dies gilt nicht nur für die Behandlungsqualität in Deutschland, sondern ist international zu beobachten. AWBs könnten dazu beitragen, den Graben zu verkleinern, wenn sie intelligent auf die Praxissituation zugeschnitten sind. Die AWB könnte sogar eine wichtige Lücke in der Versorgungsforschung schließen. Die aktuelle Diskussion betrifft die Diskrepanz zwischen der nachgewiesenen Wirkung eines Wirkprinzips in kontrollierten Studien der Phase 3 (efficacy), der Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness) und der Effizienz im (pharma-)ökonomischen Sinn (efficiency). Die akademische Medizin ist mit dem Konzept der evidence based medicine noch zu stark auf den Aspekt efficacy fixiert.

Das beste Marketingargument für ein Produkt oder ein Wirkprinzip sind nach wie vor gute Daten, seien sie aus kontrollierten Studien oder einer anspruchsvollen AWB. Nur ein kleiner Teil der mehreren hundert AWBs, die jährlich in Deutschland durchgeführt werden, werden überhaupt veröffentlicht. Das sagt sehr viel über die derzeitige Qualität aus. Hier wird ein großes Potenzial vergeben. Das betrifft nicht nur die Kosten. Mit anspruchsvolleren und qualitativ besseren AWBs könnte auch die viel geschmähte klinische Forschung bei uns bereichert werden.

Die DMW hat in den letzten Jahren nur sehr vereinzelt AWBs veröffentlicht, wenn nach Meinung der Gutachter und aus unserer Sicht ein Erkenntnisgewinn gegeben war [7]. Wenn die Qualität steigt, sind wir bereit, auch mehr AWBs zu veröffentlichen.

Die Publikation einer AWB muss natürlich die Akzeptanz und das Interesse der Leser finden. Dafür sind bestimmte Voraussetzungen notwendig. Die DMW Leser erwarten selbstverständlich die Begutachtung entsprechend dem „peer review”-Verfahren, wie es für unsere anderen Rubriken gilt.

Die Ergebnisse müssen von klinischem Interesse sein und neue wichtige Informationen für die Praxis liefern, sie müssen dementsprechend aufbereitet und dargestellt werden. Ein Fazit für die Praxis muss Bestandteil des Berichts sein. Die DMW bietet hier die entsprechende redaktionelle Unterstützung an.

Für eine Publikation in der DMW muss eine AWB bestimmte Voraussetzungen erfüllen:

Praxisrelevante bzw. klinisch wichtige Fragestellung Kontrolle der Datenqualität Adäquate biometrische Auswertung Klinisch wichtige Erkenntnisse Transparenz aller finanzieller Verbindungen und Einflussnahmen

Es bleibt zu hoffen, dass bereits die Planung der AWBs zukünftig nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten erfolgt. Die stärkere Einbeziehung der praktisch tätigen Ärzte in die klinische Forschung ist sehr zeitgemäß und notwendig. Dies wird von den interessierten und engagierten Ärzten erwartet. Schließlich wollen die beteiligten Ärzte auch lesen, was bei ihrer AWB herausgekommen ist. Sonst war sie vergeblich. In der Wissenschaft gilt: Nicht publiziert = nicht existent!

Literatur

  • 1 Anonym. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinalprodukte .Empfehlungen zur Planung, Durchführung und Auswertung von Anwendungsbeobachtungen. www.bfarm.de/de_ver/arzneimittel/ zulassungen/awbver1.html
  • 2 Victor N, Windeler J, Hasford J, Köpcke W, Linden M, Michaelis J, Röhmel J, Schäfer H. Empfehlungen zur Durchführung von Anwendungsbeobachtungen. http://www.gmds.de/texte/onlinedocs/empfehlungen/empf_anwendungsbeobachtungen.html
  • 3 Götte D. Anwendungsbeobachtungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Marketing.  Dtsch Med Wochenschr. 2003;  128 49-50
  • 4 Gansz A, Lüders S t, Dominiak P, Venneklaas U, Züchner C h, Schrandt G, Schrader J. Improving data quality of observational studies by „on site” monitoring: Interim results from the MARPLE-Project (Microalbuminuria (MAU) as a risk predictor in hypertension: A longterm evaluation with ramipril).  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 (Suppl 1) S5
  • 5 Hasford J, Lamprecht T. Company observational post-marketing studies: drug-risk assessment and drug research in special populations - a study-based analysis.  Eur J Clin Pharmacol. 1998;  53 369-371
  • 6 Böger R H. Wie wird die chronische Herzinsuffizienz heute tatsächlich behandelt?.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 1764-1768
  • 7 Scholze J. Adipositasbehandlung mit Sibutramin unter Praxisbedingungen. Positive Effekte auf metabolische Parameter und Blutdruck.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 606-610

Prof. Dr. med. Martin Middeke

DMW Chefredaktion, Georg Thieme Verlag

Rüdigerstraße 14

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Email: martin.middeke@thieme.de

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