Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2003; 38(5): 331-332
DOI: 10.1055/s-2003-38923
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ethische Herausforderungen in der Notfallmedizin

Ethical Challenges in Emergency MedicineH.  A.  Adams1
  • 1Zentrum Anästhesiologie der Medizinischen Hochschule Hannover
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 April 2003 (online)

Ethik (griechisch éthos: Gewohnheit, Herkommen, Sitte) ist die philosophische Wissenschaft vom Sittlichen, die in der Moraltheologie ihre religionswissenschaftliche Entsprechung findet. Hauptgegenstand der Ethik ist das sittlich begründete Handeln des Menschen unter Einschluss der zugrundeliegenden Werte und Normen, seien diese religiöser oder allgemein humanistischer Natur. Die Entwicklung ethischer Prinzipien ist gesellschaftlichen Einflüssen unterworfen; sie sind daher zunächst und grundsätzlich zeitbezogen und vergänglich. Sie offenbaren ihren Wert durch geschichtliche Stabilität und erlangen fallweise als Rechtsnorm Gesetzeskraft.

Vorrangige und seit Jahrhunderten selbstverständliche Aufgabe des Arztes ist es, Leben zu erhalten, Leiden zu lindern und Sterbenden Beistand zu leisten. Das Wohl des Patienten gilt als allgemeine Leitlinie, die jedoch in den Grenzbereichen von Leben und Tod - am Beginn wie am Ende des Lebens - nicht immer klar zu erkennen ist.

Zu den exemplarischen ethischen Herausforderungen der Notfallmedizin gehört die präklinische Reanimation mit ihrem speziellen Umfeld. Das vorliegende Heft enthält einen Beitrag von M. Mohr et al., der sich mit einer der schwierigsten Entscheidungen in diesem Bereich befasst - der Entscheidung, einen Reanimationsversuch zu unternehmen oder darauf zu verzichten.

Nach meiner Überzeugung ist das Ziel der Reanimation - wie jeder Intensivtherapie überhaupt - das selbstbewusste und möglichst auch selbstbestimmte Leben des Patienten. Diese Definition unterscheidet sich durchaus von der Aussage im genannten Beitrag, die auf „Überleben” und „möglichst selbstbestimmtes Weiterleben” zielt. „Überleben” an sich ist ein zu unscharfes Ziel, das den unglücklichen Überlebenszustand eines bewusstlosen Patienten, etwa mit apallischem Syndrom, einschließt - und dieser wird von niemandem ernstlich angestrebt. Und auch die Selbstbestimmung ist ein relativer Wert, der bei tetraplegischen und dauerbeatmeten Patienten gegen Null gehen kann.

Was hat nun die für die vorliegende Arbeit befragten Notärzte bewogen, auf einen Reanimationsversuch zu verzichten? Ganz überwiegend (85 %) waren es sichere Todeszeichen oder tödliche Verletzungen und damit Kriterien, die eine solche Entscheidung unbestreitbar erlauben. Es bleibt ein Anteil weicher Beweggründe, die in Ergänzung zu der differenzierten Diskussion des Beitrags nochmals angesprochen werden sollen. Um das Finalstadium einer Erkrankung als Unterlassungsmerkmal zu akzeptieren, bedarf es sicherer Informationen über den Patienten, an denen es im Rettungsdienst nur zu oft mangelt. Jedem Klinikarzt ist die „stille Post” bekannt, mit der z. B. geradezu aberwitzige Desinformationen über das tägliche Operationsprogramm befördert werden. Viel mehr noch als in der beschützten und überschaubaren klinischen Atmosphäre besteht aber beim präklinischen Reanimationseinsatz die Gefahr, durch fehlerhafte Informationen in die Irre geführt zu werden. Grundsätzlich gilt dies auch für die Bewertung der Hilfsfrist als Reanimationskriterium, da niemand wissen kann, ob nicht trotz beobachteten Einsetzens der Bewusstlosigkeit ein tachykarder oder bradykarder Minimalkreislauf für eine Restperfusion des Zentralnervensystems gesorgt hat. Insgesamt gilt es, all diese Informationen sehr kritisch zu werten. Und was noch viel wichtiger ist: auf keinen Fall darf Zeit verloren werden, um sich noch vor dem Reanimationsbeginn entsprechende Informationen zu beschaffen. Das ethische Leitprinzip der Notfallmedizin und damit auch der Reanimation ist es, unbedingt und ohne Wenn und Aber die Option für das Leben zu erhalten. Dies bedeutet für den Notarzt, der ja zu Hilfe gerufen wird und in aller Regel auf einen unbekannten Patienten trifft, die Pflicht zum unverzüglichen Behandlungsbeginn. Damit wird die Option für das Leben zunächst erhalten, bis sichere Informationen vorliegen, die dann den wohlüberlegten Verzicht auf weitere Bemühungen erlauben.

Eine Wertung der Lebensumstände steht dem Arzt dabei nicht zu. Der Begriff „lebenswert” impliziert die gegenteilige Bezeichnung „lebensunwert” und ist fehl am Platz und nur zu leicht zu missbrauchen. „Lebensqualität” ist nur vom Betroffenen selbst in der präsenten Situation zu beurteilen; sie kann weder im vorhinein noch von anderen bewertet werden. Daraus folgt auch, dass eine starre Altersgrenze als alleiniges Kriterium der Reanimation abzulehnen ist. Es kommt stets auf die Gesamtbewertung der Lebensumstände an, zu der das Alter nur einen Teil beiträgt. Und auch ein Patiententestament, das dem Notarzt kaum jemals vor Behandlungsbeginn bekannt wird, ist kritisch zu würdigen. Es ist nicht selten, dass der Patient selbst die im vorhinein erfolgte Festlegung nachträglich verwirft. Unterlassene ärztliche Hilfe beraubt ihn dieser Möglichkeit und ist daher nur vorstellbar, wenn Patient und Angehörige am Ende eines langen und wohlüberlegten Prozesses angekommen sind und dem Arzt ihren Entschluss rechtzeitig zur Kenntnis bringen.

Aus persönlicher Erfahrung will ich noch eine weitere, besonders problematische Facette erwähnen. Selbst bei Vorliegen sicherer Todeszeichen kann es sein, dass verzweifelte und überforderte Angehörige ein Unterlassen des Reanimationsversuchs nicht verstehen würden. Das beschwörende „Versuchen Sie doch alles, Herr Doktor” eines betagten Ehegatten kann nicht mit einer pathophysiologisch noch so korrekten Aussage beantwortet werden. Es kann in diesem Fall menschlicher sein, einen demonstrativen Reanimationsversuch zu unternehmen und den Angehörigen nach kurzer Zeit durch einen Helfer hinaus begleiten zu lassen, um ihm so die Gewissheit zu vermitteln, dass alles versucht worden ist. Manche Gewissensnot, sei es nur wegen des rechtzeitigen Telefonierens, kann damit vermieden oder gelindert werden. Hier gibt es kein Patentrezept und es gilt, dem eigenen Herzen zu folgen.

Die Entscheidung über Beginn oder Unterlassung der Reanimation ist nur eine der vielfältigen ethischen Herausforderungen in der Notfallmedizin. Als weitere Aspekte seien nur der Umgang mit suizidalen Patienten, Drogenabhängigen oder Menschen in psychiatrischen und sonstigen Ausnahmesituationen, die Frage der Sichtung, das Verhalten bei der Übergabe im Krankenhaus oder das „Abmelden” stationärer Kapazitäten genannt. In diesem anspruchsvollen Umfeld agieren die jungen Notärztinnen und Notärze auf sich allein und in eine Verantwortung gestellt, die im offenkundigen Gegensatz zu ihrer Position in der innerklinischen Hierarchie steht. Sie haben ein Recht auf Respekt und Unterstützung - und auf die weitere wissenschaftliche Durchdringung ihrer Arbeit, wofür den Autoren des nachstehenden Beitrags ausrücklich gedankt sei.

Literatur

  • 1 Adams H A. Ethische Aspekte der Notfallmedizin. In: Hempelmann G, Adams HA, Sefrin P (Hrsg) Notfallmedizin. Stuttgart; Thieme 1999: 15-18

Prof. Dr. H. A. Adams

Zentrum Anästhesiologie der Medizinischen Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

    >