Notfall Medizin 2003; 29(5): 208-212
DOI: 10.1055/s-2003-39620
Fokus

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Problem Todesursache Die Leichenschau in der hausärztlichen Tätigkeit

M. Birkholz1
  • 1Institut für Rechtsmedizin, Zentralkrankenhaus Sankt-Jürgen-Straße, Bremen (Direktor: MD Dr. med. M. Birkholz)
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Anschrift des Verfassers

MD Dr. med. Michael Birkholz

Direktor des Institutes für Rechtsmedizin Zentralkrankenhaus Sankt-Jürgen-Straße

Am Schwarzen Meer 132-134

28205 Bremen

Fax: 04 21/4 97 44 50

Publication History

Publication Date:
30 May 2003 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

In vielen Fällen haben sich die Leichenschaudiagnosen als falsch erwiesen. Die Todesursachenstatistik wird dadurch so fehlerhaft, dass sie wissenschaftlich nicht auswertbar ist. Dabei ist eine große Anzahl von Fehlern bei der Leichenschau nicht nur dem Arzt anzulasten, sondern beruhen auf Fehlern im System. Häufig findet sich der Arzt bei der Leichenschau in einem Widerstreit der Pflichten, beispielsweise, wenn er einen Totenschein ausfüllen soll, ohne die vollständig entkleidete Leiche vorher untersucht haben zu können. Bis heute ist es nicht gelungen, in Deutschland einen ländereinheitlichen Leichenschauschein einzuführen. Der Beitrag zeigt Schwachstellen im System Leichenschau auf und Wege, wie in Bremen versucht wird, diese zu beheben. Dem in der Leichenschau tätigen Arzt wird an mehreren Beispielen aufgezeigt, wie überaus schnell er in einen Konflikt mit seiner Berufspflicht zur sorgfältigen Arbeit geraten kann und welche Lösungsmöglichkeiten sich zumindest in der Großstadt anbieten.

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Summary

The diagnosis established at the first inspection of a corpse has often been shown to be false. As a result, the cause-of-death statistics are so uncertain that they cannot be used for scientific purposes. A considerable number of these erroneous diagnoses are not the fault of the doctor, but are due to shortcomings of the system. When inspecting a corpse, the doctor often finds himself in a dilemma of contradictory obligations, for example when called upon to write out a death certificate before he has been able to inspect the completely unclothed corpse. To date the (German) Länder have not been able to agree on a death certificate procedure acceptable to all. The present article points up the weaknesses in the system, and describes the attempts made in Bremen to overcome them. On the basis of several examples, the physician encountering such a situation is shown how easily he can find himself in conflict with his professional duty of competency, and what options are available - at least in large cities - to resolve such problems.

In seinem Standardwerk „Die Leichenschau” stellte Schneider [1] bereits 1987 fest, dass sich in etwa zwei Dritteln der Fälle die Leichenschaudiagnosen als falsch erweisen. Aus gleichem Grund forderte 1988 die Justizministerkonferenz der Länder die Gesundheitsministerkonferenz auf, Maßnahmen zu ergreifen, die ein Übersehen von nichtnatürlichen Todesfällen erschweren. 1990 bezeichnete der saarländische Gerichtsmediziner Wagner im Deutschen Ärzteblatt [2] die gegenwärtige Leichenschaupraxis als eine Art fatale Hellseherei und Modelmog und Goertchen [3] charakterisierten die Validität der amtlichen Todesursachenstatistik als so fehlerhaft, dass sich eine ernstzunehmende wissenschaftliche Auswertung verbieten würde. Der zwischenzeitliche Versuch, einen ländereinheitlichen Leichenschauschein einzuführen - fünf Bundesländer haben sich an dieser Arbeitsgruppe überhaupt nur beteiligt -, ist gescheitert. Dafür schlagen in regelmäßigen Abständen öffentliche Darstellungen von übersehenen Tötungsdelikten - letztmalig aus Bremerhaven - hohe Wellen, um genau so schnell wieder in Vergessenheit zu geraten. Eine 1998 veröffentlichte Studie aus der Universität Münster [4] postuliert, dass jährlich im Rahmen der ärztlichen Leichenschau zwischen 11000 und 22000 nichtnatürliche Todesfälle als solche nicht erkannt werden, darunter 1200 bis 2400 Tötungsdelikte. Damit bleibt jeder zweite Mord in Deutschland unerkannt. Die Ursachen hierfür werden in dem sehr zu empfehlenden Buch „Tote haben keine Lobby” [5] ausführlich und zudem spannend beschrieben.

Wir sind in unserem Institut der Frage nachgegangen, ob mangelnde Sorgfalt bei der ärztlichen Tätigkeit einzige Ursache dieses Debakels ist und inwieweit nicht auch Umstände, die ihre Ursache in unserem Gesundheits- und Rechtssystem haben, die Misere mitbedingen. Die Antwort vorweg: eine große Anzahl von Fehlern bei der Leichenschau ist nicht nur dem Arzt anzulasten, sondern beruhen auf Fehlern im System. Und: es gibt offensichtlich keine allgemein gültigen Patentlösungen. In der Großstadt wird man viel effektivere Regelungen finden können, als dies auf dem flachen Lande möglich sein wird. Deshalb sollte man Verbesserungsvorschläge auch nicht nur deshalb verwerfen, weil sie in einem dünn besiedelten Gebiet nicht durchsetzbar sind. Die meisten Menschen sterben in den Städten. Dort kann das Verfahren der Leichenschau sehr wohl anders geregelt sein, als auf dem Land. Es sollte sich die Praxis durchsetzen, dass wenigstens dort verbessert wird, wo dies möglich ist. Jeder betroffene Arzt sollte also in seinem Verantwortungsbereich - gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit der KV, dem Amtsarzt und/oder der zuständigen Rechtsmedizin - eigene Regelungen suchen, die ihn sowohl fachlich als auch juristisch auf sichere Füße stellen.

Im Folgenden möchte ich einige Problemkreise anreißen, die dem Leichenschauarzt fachliche und/ oder (berufs-)rechtliche Probleme bereiten können und obendrein Fehlerquellen in Bezug auf die Diagnose darstellen. Am Beispiel der Stadt Bremen werden Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt.

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Durchführung der Leichenschau

Die Leichenschau ist grundsätzlich an der vollständig entkleideten Leiche unter Einbeziehung aller Körperregionen, insbesondere auch des Rückens und der behaarten Kopfhaut, sorgfältig durchzuführen. Diese Forderung ist in einigen Bundesländern gesetzlich verankert, wenn nicht, wird sie im Streitfall als Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin zur Beurteilung der Frage der ärztlichen Sorgfalt herangezogen. Unbeschadet der gegebenenfalls erheblichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung - ich komme später darauf zurück - muss jeder Arzt wissen, dass er eine Sorgfaltspflichtverletzung begeht - und zwar grob fahrlässig -, wenn er den Verstorbenen vor der gründlichen Untersuchung nicht vollständig entkleidet. Auch ein bekanntes schweres Leiden und eine langjährige Betreuung rechtfertigen nicht die „Untersuchung” einer bekleideten Person beziehungsweise eine unvollständige Inaugenscheinnahme.

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Definition der Leichenschau

Es gibt keine bundeseinheitliche Definition! Wenn zur Leichenschau auch die Feststellung des Todes gehört, handelt es sich bei der Aufforderung, zu einem mutmaßlich toten Patienten zu kommen, immer um einen Eileinsatz. Der Tod darf in Deutschland nur durch einen Arzt festgestellt werden. Der niedergelassene Arzt muss also seine volle Sprechstunde verlassen, um der von einem Nichtarzt für tot erklärten Person unter Umständen noch helfen zu können. Das volle Wartezimmer im Nacken und der Ärger darüber, dass es mit der Leichenschau bei dem eventuell bereits viele Stunden Toten vielleicht auch bis nach der Sprechstunde Zeit gehabt hätte, sind keine guten Assistenten bei der Leichenschau.

In Bremen wird die Leichenschau an der Leiche gemacht. Wenn nicht sicher ist, dass eine Person tot ist, ist prinzipiell der Notarzt zuständig, der bei Notfällen ohnehin schneller und besser ausgerüstet ist. Mit dieser Regelung, die in jeder größeren Stadt realisierbar wäre, relativiert sich die Dringlichkeit des Hausbesuches. Der Hausarzt kann sich - ohne gegebenenfalls in juristische Bedrängung zu kommen - zunächst um seine Sprechstunde kümmern und danach ohne Zeitdruck zum Verstorbenen fahren.

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Leichenschau durch den Notarzt

Prinzipiell ist in Deutschland jeder Arzt berechtigt, eine Leichenschau durchzuführen. Wenn sich ein Arzt zur Durchführung einer ärztlichen Handlung entschließt, muss er dies mit der notwendigen Sorgfalt tun. Eine Voraussetzung für sorgfältige Arbeit ist ausreichende Zeit. Dies ist beim Notarzt häufig nicht der Fall. Deshalb sollte ein Notarzt auch nicht zur Leichenschau gezwungen werden. Für eine Fehldiagnose im Rahmen der Leichenschau, auch wenn sie durch Zeitdruck entstanden ist, muss der Arzt immer selbst gerade stehen.

In Bremen kann sich der Notarzt mittlerweile auf die Feststellung des Todes beschränken. Er muss lediglich eine vorläufige Todesbescheinigung ausfüllen, in der der eingetretene Tod und wichtige Informationen für den Leichenschauarzt dokumentiert sind.

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Ort der Leichenschau

Die Leichenschau soll nach Möglichkeit an dem Ort durchgeführt werden, an dem der Tod eingetreten ist oder aber die Leiche aufgefunden wurde. Was aber ist, wenn dies der Bahnhofsvorplatz ist, oder aber ein Kaufhaus oder eine dunkle Toreinfahrt? Jeder in der Leichenschau tätige Arzt wird sich an zahlreiche Situationen erinnern, in denen eine sorgfältige Leichenschau im Sinne der oben genannten Definition objektiv nicht möglich war. Auf dem Bahnhofsvorplatz oder aber im Kaufhaus wäre eine vollständige Entkleidung des Toten und seine intensive Untersuchung in Anwesenheit zahlreicher Gaffer mit Sicherheit unangebracht. Es gibt auch vielfältige Situationen, wo die Präsenz von Verwandten beziehungsweise nahestehender Personen ein solches Vorgehen nicht zweckmäßig erscheinen lassen. Andere Orte sind schlecht beleuchtet oder man kommt an den Verstorbenen nicht richtig heran. Manchmal ist man auch einfach physisch nicht in der Lage, die Leiche alleine zu entkleiden oder zu drehen. Kurzum: es gibt zahlreiche Situationen, in denen der Sterbe- beziehungsweise Auffindeort eines Toten für eine sorgfältige Leichenschau nicht geeignet ist. Darf man dann trotzdem einen Totenschein ausstellen? Ich kann nur dringend abraten. Vergleichsweise würde auch kein Arzt einem Patienten eine Krankheit bescheinigen, ohne dass er ihn untersucht hat. Der Totenschein ist ein Dokument und im Falle eines Falles sollte man für eine Falschbeurkundung bessere Argumente, als die oben genannten haben.

In Bremen darf sich der zur Leichenschau gerufene Arzt in einem solchen Falle auf die Feststellung des Todes und der äußeren Umstände beschränken und einen vorläufigen Totenschein ausfüllen. Er ist allerdings verpflichtet, die Leichenschau an einem anderen, dafür besser geeigneten Ort (beispielsweise im Bestattungsinstitut) nachzuholen.

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Pflicht zur Leichenschau

Wer zur Leichenschau verpflichtet ist, wird durch die Ländergesetzgebung geregelt. Prinzipiell ist aber jeder Arzt berechtigt. Damit wird die Leichenschau zur Allerweltshandlung. Es gibt kaum eine andere ärztliche Tätigkeit, die gleichermaßen von allen Fachrichtungen ausgeübt werden darf oder gar muss. Diese Tatsache steht im krassen Widerspruch zu den hohen Anforderungen an eine qualifizierte Leichenschau und den gravierenden Folgen bei Fehlern. Die Forderung der Gerichtsmediziner, die Untersuchung von Toten sollte speziell ausgebildeten Ärzten vorbehalten bleiben, bleibt - trotz ständig wiederkehrender Pannen - in Deutschland unbeachtet. Ich halte es aus vielerlei Gründen fachlich und rechtlich für hoch problematisch, einen Arzt zu einer Tätigkeit zu zwingen, bei der ihm die Erfahrung fehlt und er ganz häufig überfordert ist, seine Entscheidung aber weit reichende Konsequenzen haben kann. Wer nur ein- bis zweimal pro Jahr zur Leichenschau gerufen wird, sollte sich selbstkritisch fragen, ob er sich dieser Herausforderung stellen will. Die Ärzte, die im Rahmen von Dienstplänen oder Ähnlichem zu Leichenschauen verpflichtet sind, müssen sich so weiterbilden, dass sie auf dem aktuellen Stand der ärztlichen Kenntnis sind. So fordert es zumindest das Berufsrecht. Jeder, der nicht zur Leichenschau verpflichtet ist, sollte sich also überlegen, worauf er sich einlässt. Es gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip: wenn man sich zur Durchführung einer Tätigkeit entschließt, dann unterwirft man sich automatisch dem Standard der jeweiligen Fachgesellschaft und wird daran auch im Streitfall gemessen. Ich bezweifle, dass den meisten Leichenschauärzten die Standards der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Bezug auf die Leichenschau bekannt sind. Wäre dies der Fall, würde wohl kaum noch ein Kollege freiwillig eine Leichenschau durchführen. Ich wundere mich auf Weiterbildungsveranstaltungen immer wieder, wie wenige Ärzte sich dieses Sachverhaltes bewusst sind.

In Bremen wird kein Arzt mehr gezwungen, eine Leichenschau durchzuführen. Der benachrichtigte Arzt hat lediglich die Pflicht, sich um die Leichenschau zu kümmern. Wenn er Probleme im Umgang mit Toten hat oder sich nicht erfahren genug fühlt, kann er auch einen Kollegen bitten, für ihn einzuspringen. Beispielsweise den für das Einzugsgebiet zuständigen Blutentnahmearzt, der rund um die Uhr erreichbar ist und den die Polizei vertraglich verpflichtet hat, im Bedarfsfall einzuspringen.

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Meldepflichten

Die Meldepflichten sind durch die Länder definiert; sie lehnen sich an den § 159 StPO an. Es wird durchgehend bestimmt, dass nichtnatürliche Todesfälle und unbekannte Tote der zuständigen Behörde - in der Regel der Polizei - zu melden sind. Die Meldepflicht gilt auch für Verdachtsfälle, wobei die Verdachtsmomente sehr weit zu fassen sind. Bei Personen mit sehr geringem Alter (nicht näher definiert) - aber nur dort - gilt bereits der nicht erwiesene natürliche Tod als Verdachtsmoment (und damit Sektionsrechtfertigung) für ein nichtnatürliches Geschehen. Die Anzeige, die keine Strafanzeige ist, soll alle tatsächlichen Umstände enthalten, die zur Annahme geführt haben, dass kein natürlicher Tod vorliegt.

Die Praxis sieht häufig etwas anders aus. Nicht selten wird alleine deshalb die Polizei informiert, weil der Leichenschauarzt den Verstorbenen nicht persönlich kennt beziehungsweise er keine Todesursache verifizieren kann. Derartige Fälle werden aber expressis verbis von der Meldepflicht nicht erfasst.

Viele Kollegen machen sich in einer solchen Situation nicht klar, dass es in unserem Land das Prinzip der anlassfreien staatlichen Ermittlungen nicht gibt. Über diese Regelung sind wir im Allgemeinen ja froh, müssen dann aber auch akzeptieren, dass sie ebenfalls für das Leichenwesen gilt. Wenn wir möchten, dass die Polizei kommt und ermittelt, dann müssen wir ihr für unser Anliegen eine Begründung auf gesetzlicher Basis liefern. Im Klartext: wir müssen Anhaltspunkte für ein nichtnatürliches Geschehen äußern. Dann darf die Polizei nicht nur kommen, dann muss sie es sogar tun. Das mag zunächst kompliziert und gegebenenfalls unärztlich klingen, ist es aber nicht, da Verdachtsmomente im weitesten Sinne ausreichen.

Beispiele: Hämatome am Körper, enge Pupillen, auffallende Farbe der Totenflecke, ungewöhnlicher Auffindeort, leere Schnapsflaschen oder Medikamentenpackungen in der Nähe, mutmaßliche Punktionsstichstellen usw. Wer möchte, dass die Polizei mit in den Todesfall involviert wird, hat viele Möglichkeiten, dies gegebenenfalls sogar zu erzwingen. Er muss nur den Weg gehen, den die Gesetze vorzeichnen. Der natürliche Tod unbekannter Ursache zählt per se als Begründung zur Zeit nicht dazu.

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Der nichtnatürliche Todesfall

Bei der Definition des nichtnatürlichen Todes gibt es in der Praxis immer wieder Probleme. Sie sei deshalb hier wiederholt: Nichtnatürlich ist ein Todesfall, bei dem der Tod durch äußere Einwirkungen verursacht, mitverursacht oder mittelbar verursacht wurde, also beispielsweise auch Spättodesfälle nach Verkehrsunfall, eine Lungenembolie durch ein unfallbedingtes Krankenlager usw. Dem Kriterium der Einwirkung von außen kommt die entscheidende Bedeutung zu, ob durch eigene oder fremde Hand oder durch höhere Gewalt. Maßgeblich ist, dass durch diese Einwirkung eine Ursachenkette in Gang gesetzt wird, die den ohne sie ablaufenden Krankheits- oder Alterungsprozess unterbricht und dadurch den Tod herbeiführt. Dabei gibt es keinerlei zeitliche Begrenzungen. Häufig vergessen wird dies beispielsweise beim Apallischen Syndrom. Wenn die schädigende Noxe nichtnatürlich war, bleibt die Todesart auch nach gegebenenfalls mehrjähriger Bettlägerigkeit nichtnatürlich.

Die definitionsgemäße Dokumentation des nichtnatürlichen Todesfalles kann unter Umständen auch versicherungsrechtliche Konsequenzen haben. Es zahlt keine Unfallversicherung, wenn ein Arzt einen natürlichen Tod bescheinigt hat.

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Die Todesart

Im Rahmen der Ausfüllung der Todesbescheinigung ist der Arzt verpflichtet, sich auch zur Todesart zu äußern. Dabei hat er im Regelfall eine Entscheidung zwischen natürlich oder nichtnatürlich zu treffen. In den meisten Bundesländern gibt es auf dem Totenschein zusätzlich die Rubrik der ungeklärten Todesart. Diese Unterscheidung hat keinerlei medizinischen Hintergrund. Sie dient ausschließlich der Selektion der meldepflichtigen Todesfälle. Wir haben uns in Bremen von dieser Trias getrennt, weil wir glauben, dass sie nicht zweckmäßig ist und dem Ziel der Erkennung von nichtnatürlichen Todesfällen eher schadet als dient. Es ist unter den Experten völlig unstrittig, dass alleine durch die äußere Leichenschau ein sicherer Schluss auf die Todesursache und damit die Todesart im Regelfall nicht möglich ist. Wenn der langjährig Herzkranke stirbt, wird der Hausarzt auf der Todesbescheinigung die Herzkrankheit als Todesursache dokumentieren. Dass der Patient in Wahrheit an einer Überdosis seiner Herzmedikamente verstorben ist, wird er bei der äußeren Leichenschau nie heraus bekommen. Ebenso wird niemand Probleme haben, dem polytraumatisierten Kraftfahrer einen nichtnatürlichen Tod zu bescheinigen. Dass ein Herzinfarkt das primäre Ereignis war, wird ebenfalls bei der äußeren Leichenschau nicht zu verifizieren sein. Das Beispiel dieser beiden offensichtlichen Todesursachen zeigt, wie sehr man sich schuldlos vertun kann. Wir meinen deshalb, man sollte den Arzt nur Dinge fragen, die er auch leisten kann. Was kann er leisten? Er kann den Verstorbenen sorgfältig untersuchen und dokumentieren, ob er Veränderungen am Leichnam gefunden hat, die auf ein nichtnatürliches Geschehen hindeuten könnten, oder aber ob die Untersuchung keinerlei Auffälligkeiten ergaben. Gab es Auffälligkeiten, so sind diese - ohne Wertung - zu dokumentieren und die Polizei ist zur weiteren Abklärung einzuschalten. Ist nichts gefunden worden, wird der Vorgang wie ein natürlicher

Todesfall behandelt. Verloren geht bei diesem Verfahren nichts. Im Gegenteil, der Arzt braucht nur noch Dinge zu dokumentieren, die er vertreten kann (und auch muss!) und er wird nicht mehr genötigt, bei vorhandenen Befunden selbst eine Wertung vornehmen zu müssen, weil er den Fall als natürlich oder nichtnatürlich einstufen soll. Auf diese Weise wird beispielsweise aus einer Schlag- keine agonale Sturzverletzung mehr, die den Fall im natürlichen Bereich belassen würde. Differentialdiagnosen an der Leiche sollte in jedem Fall ein Fachmann beziehungsweise erfahrener Leichenschauarzt vornehmen.

In Bremen wird folgerichtig der Arzt auf dem Totenschein gefragt, ob er im Rahmen der Leichenschau irgendwelche Anhaltspunkte für ein nichtnatürliches Geschehen gefunden hat und aufgefordert, diese Frage mit „ja” oder „nein” zu beantworten. Im positiven Falle muss er die Auffälligkeiten dokumentieren und liefert damit die vom Gesetzgeber geforderten Voraussetzungen für die Involvierung der Polizei.

Nach diesen vom Gesetzgeber beschlossenen Maßnahmen ist der Umgang zwischen Ärzten und Polizei viel leichter geworden. Der Arzt zeigt nur noch - ohne Wertung - Auffälligkeiten an der Leiche an und erspart sich damit jegliche Diskussion über eine natürliche oder nichtnatürliche Todesart. Alles weitere erledigen speziell ausgebildete Ärzte.

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Die ungeklärte Todesart

Es dürfte in der Medizin nur wenige Begriffe geben, die so fehlgedeutet wurden und werden, wie dieser. Leider gibt es auch bislang keine bundeseinheitliche Definition. Im Regelfall wird hier alles hineingepackt, was mit einem Fragezeichen versehen ist. Hauptanwendung: man kennt den Patienten nicht beziehungsweise weiß nicht, woran er verstorben ist, also ist die Todesart unklar. Besonders beliebt ist diese Rubrik bei den Notärzten. Diese Verfahrensweise führt teilweise zu einer enormen Inanspruchnahme der Polizei, was verständlicherweise nicht nur auf Gegenliebe stößt. Die Kripo will beispielsweise nicht in einem vorbildlich geführten Altenheim ermitteln, nur weil der Leichenschauer die verstorbene 97-jährige Bewohnerin nicht kennt. Durch das polizeiliche Nachfragen beim Hausarzt kann zwar die Qualität der Mortalitätsstatistik verbessert werden, nur ist das nicht Aufgabe der Polizei sondern die des Amtsarztes. In Schleswig-Holstein eskalierte der Streit soweit, dass per ministeriellem Erlass 1993 die Polizei von der Aufnahme von Ermittlungen bei ungeklärter Todesart vollständig entpflichtet wurde, weil die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden das Vorliegen von Anhaltspunkten für ein nichtnatürliches Geschehen voraussetzt. So ist durch unsensiblen Umgang miteinander ein Zustand eingetreten, den so niemand wollte und der auch nicht im Interesse der Sache ist. Die Qualität unseres Leichenschausystems ist nur zu verbessern, wenn die Beteiligten verständnisvoll miteinander umgehen. Ein Polizist sollte nur gerufen werden, wenn der Arzt im weitesten Sinne Verdachtsmomente für ein nichtnatürliches Geschehen hat; er ist nicht zuständig für die Beschaffung der Krankheitsanamnese vom Hausarzt.

So gesehen ist die Rubrik ungeklärte Todesart wirklich überflüssig. Wir haben sie aus Gründen der Gewohnheit dennoch auf dem Bremer Totenschein belassen, haben den Begriff aber im Gesetz definiert und fordern den ausstellenden Arzt auf, seine Zweifel am natürlichen Tod zum Ausdruck zu bringen. Mit diesen Zweifeln haben wir wieder die vom Gesetzgeber geforderten Anhaltspunkte, die ein Einschreiten der Polizei rechtfertigen. Die Bremer Definition lautet: „Finden sich im Rahmen der Leichenschau am Verstorbenen keine Anhaltspunkte für ein nichtnatürliches Geschehen, lassen aber die Gesamtumstände Zweifel an einem natürlichen Tod zu, so ist die Todesart ungeklärt.”

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Todesursache

An dieser Stelle soll kurz darauf hingewiesen werden, dass das Ausfüllen der Todesbescheinigung Regeln unterliegt. Beispielsweise sind Eintragungen wie Herzversagen, Kreislaufstillstand und ähnliches als Todesursache nicht zulässig, da sie letztendlich für jeden Todesfall zutreffen. Dennoch werden sie häufig benutzt. Es dürften im Regelfall Verlegenheitsdiagnosen sein, für Fälle, bei denen man nicht weiß, woran jemand gestorben ist. Einen guten Dienst erweist man mit einer solchen Eintragung niemandem.

Obwohl nicht zulässig und nicht verschlüsselbar, werden diese Eintragungen im Regelfall von den Statistischen Landesämtern nicht zurückgewiesen und bekommen doch irgendwie eine Schlüsselnummer. Damit steigt der Anteil der Herzkreislauferkrankungen in der Mortalitätsstatistik und verzerrt das Bild. Zum anderen werden derartige Eintragungen als gesicherte Diagnosen geführt, mit der Folge, dass in der Bundesstatistik weniger als 2 % der Todesfälle ohne Diagnose der Todesursache sind [6]. Das wiederum ist ein Hauptargument der Gegner von klinischen Leichenöffnungen: wenn mehr als 98 % aller Todesursachen in Deutschland bekannt sind, muss das Sektionswesen nicht reformiert beziehungsweise intensiviert werden. Ein frommer Selbstbetrug!

Die ICD kennt unter der Schlüsselnummer 799.9 die Diagnose natürlicher Tod aus unbekannter Ursache. Ich ermuntere alle Leichenschauärzte, sich auch dieser Diagnose im Bedarfsfall zu bedienen. Sie ist ehrlicher als Herzversagen, verbiegt die Mortalitätsstatistik nicht und auch die Kripo (die nicht informiert werden muss) kann mit ihr sehr gut leben.

Wenn in Deutschland jedes zweite Tötungsdelikt bei der Leichenschau nicht erkannt wird, so macht man es sich zu leicht, wenn man die Ursachen nur bei schlecht arbeitenden Ärzten sucht. Eine ganze Reihe von Fehlern im System programmieren Fehldiagnosen bei der Leichenschau nahezu vor. Aufgabe dieses Beitrages war es, schlagwortartig auf derartige Schwachstellen hinzuweisen. Häufig findet sich der Arzt bei der Leichenschau in einem Widerstreit der Pflichten, beispielsweise, wenn er einen Totenschein ausfüllen soll, ohne die vollständig entkleidete Leiche vorher untersucht haben zu können. In solchen Situationen sollte sich der Arzt bewusst sein, dass man von ihm eine Sorgfaltspflichtverletzung erwartet. Dazu kann ihn niemand zwingen!

Nun bestreite ich nicht, dass das Sich-Zurückziehen auf formale Rechtspositionen in der Praxis weder immer möglich noch in der Situation hilfreich ist. Wichtig ist, dass der Arzt die Situation erkennt, in der er sich befindet, denn nur so kann er bei den Verantwortlichen auf Abhilfe drängen und auf die Schaffung eines Rahmens pochen, der ihm ein sorgfältiges Arbeiten ermöglicht. Tut er das nicht, läuft er Gefahr, irgendwann ein Fall für die Berufs- oder gar Strafjustiz zu werden.

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Literatur

  • 1 Schneider V. Die Leichenschau.  Gustav Fischer Verlag. 1987; 
  • 2 Wagner. Dt. Ärztebl. 1990;  B-2019
  • 3 Modelmog, Goertchen. Dt. Ärztebl. 89, 42. 1992;  B-2174
  • 4 Brinkmann B. et al. . Fehlleistungen bei der Leichenschau in der Bundesrepublik Deutschland.  Arch. f. Krim.199, Heft 1-2 (Teil 1) und 3-4 (Teil 2).
  • 5 Rückert S. Tote haben keine Lobby.  Hoffmann und Campe. 2000; 
  • 6 Mündliche Auskunft des Statistischen Bundesamtes.  2003; 
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Anschrift des Verfassers

MD Dr. med. Michael Birkholz

Direktor des Institutes für Rechtsmedizin Zentralkrankenhaus Sankt-Jürgen-Straße

Am Schwarzen Meer 132-134

28205 Bremen

Fax: 04 21/4 97 44 50

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Literatur

  • 1 Schneider V. Die Leichenschau.  Gustav Fischer Verlag. 1987; 
  • 2 Wagner. Dt. Ärztebl. 1990;  B-2019
  • 3 Modelmog, Goertchen. Dt. Ärztebl. 89, 42. 1992;  B-2174
  • 4 Brinkmann B. et al. . Fehlleistungen bei der Leichenschau in der Bundesrepublik Deutschland.  Arch. f. Krim.199, Heft 1-2 (Teil 1) und 3-4 (Teil 2).
  • 5 Rückert S. Tote haben keine Lobby.  Hoffmann und Campe. 2000; 
  • 6 Mündliche Auskunft des Statistischen Bundesamtes.  2003; 
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Anschrift des Verfassers

MD Dr. med. Michael Birkholz

Direktor des Institutes für Rechtsmedizin Zentralkrankenhaus Sankt-Jürgen-Straße

Am Schwarzen Meer 132-134

28205 Bremen

Fax: 04 21/4 97 44 50