psychoneuro 2003; 29(5): 212-216
DOI: 10.1055/s-2003-39629
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Überdeterminierung des Hörens - Alltag des Hausarztes erfordert biopsychosoziales Konzept

Ottomar Bahrs1
  • 1Abteilung Medizinische Psychologie, Universität Göttingen
Further Information
#

Korrespondenzadresse:

Dr. disc. pol. Ottomar Bahrs

Abt. Medizinische Psychologie

Universität Göttingen

Waldweg 37

37073 Göttingen

Email: obahrs@gwdg.de

Publication History

Publication Date:
30 May 2003 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Soll der Hausarzt die Funktion eines ersten Ansprechpartners und Gesundheitskoordinators erfüllen, so muss er mehr sein als medizinischer Experte. An einem Fallbeispiel wird exemplarisch verdeutlicht, wie sich die Gesamtproblematik erst auf der Grundlage eines biopsychosozialen Konzepts erschließt. Hier erweisen sich die vorgetragenen Hörprobleme als überdeterminiert und die Antibiose als notwendiges, aber nicht hinreichendes Therapeutikum. Um die „hidden agenda” des Patienten aufzuspüren, benötigt der Hausarzt ein hermeneutisches Fallverständnis, das der kontinuierlichen Schulung bedarf. Besonders effektiv ist das Lernen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln im Videoseminar - ob in Studium, Weiterbildung, Fortbildung oder Forschung.

#

Abstract

In order to become the gatekeeper in the health care system, the GP has to be more than a medical expert. By a case study will be illustrated, that the understanding of the problem in its complexity has to be grounded on a biopsychological concept. It becomes evident, that the presented difficulties of the auditory system are overdetermined and therefore antibiotics are a necessary, but not sufficient means of treatment. The patient's „hidden agenda” can only be detected by means of strictly case-oriented hermeneutics. This way of understanding can be learned in particular in videoseminars, that concentrate both on analysis and on self-reflection, and that have shown to be very effective in (continuous) medical education and in research.

Vom Hausarzt der Zukunft wird viel erwartet: Steuermann soll er sein, Lotse oder Gatekeeper. Als erster professioneller Ansprechpartner für Gesundheitsfragen soll er gemeinsam mit dem Patienten Ursachen und Gründe für dessen Anliegen herausarbeiten sowie den weiteren Versorgungsweg aushandeln. Als Koordinator soll er auch gegenüber Mitbehandlern und Kostenträgern wirken und als Wegbegleiter für den Patienten und seine Familie zur Verfügung stehen.

Mancher fragt skeptisch [1]: Können Hausärzte das überhaupt? Klar ist jedenfalls: Der Hausarzt der Zukunft wird mehr sein müssen als bloß medizinischer Experte. Er muss in der Lage sein, die ihm aus unterschiedlichsten Quellen zufließenden vielfältigen Informationen zu patientenspezifischen Gesamtdiagnosen zu synthetisieren. Dafür benötigt er medizinisches und psychosoziales Basiswissen, einen Überblick über die regionalen Versorgungsstrukturen, organisatorisches Geschick und kommunikative Kompetenzen, die er in spezifischer Weise zusammenfügt. Die DEGAM definiert [2]:

„Die Arbeitsweise der Allgemeinmedizin berücksichtigt somatische, psycho-soziale, soziokulturelle und ökologische Aspekte. Bei der Interpretation von Symptomen und Befunden ist es von besonderer Bedeutung, den Patienten, sein Krankheitskonzept, sein Umfeld und seine Geschichte zu würdigen (hermeneutisches Fallverständnis).”

Der Hausarzt der Gegenwart ist von diesem Ziel vergleichsweise weit entfernt. Ergebnissen einer europäischen Gemeinschaftsstudie zufolge gibt es in Deutschland im Vergleich zu den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Spanien und England die durchschnittlich kürzesten, arztzentriertesten und häufigsten Konsultationen, die sowohl vom Arzt wie vom Patienten am stärksten als belastend erlebt werden [3]. Die Lebenswelt des Patienten wird selten zum Thema, Prävention und Gesundheitsförderung werden von jedem vierten Patienten explizit vermisst. Aber der insgesamt hohe patientenbezogene Zeitaufwand zeigt, dass bei einer anderen Zeitverteilung - seltenere, dafür aber längere Konsultationen - auch andere Interaktionen möglich wären. Wie dies im Einzelnen zu realisieren sein könnte, ist am besten in konkreten Detailanalysen herauszuarbeiten.

Ich möchte hier beispielhaft andeuten, welchen Beitrag die sequenzielle Textanalyse nach dem Verfahren der strukturalen Hermeneutik leisten kann, die vom Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann entwickelt wurde. Dieses Vorgehen nutzt und methodisiert diejenigen Verstehensleistungen, denen sich die Handelnden in ihrem (beruflichen) Alltag bedienen. So dient die strukturale Hermeneutik in der Anwendung der Schulung von Wahrnehmung und Selbstreflexion und ist von praktischer Bedeutung z.B. für im Beratungsbereich Tätige [4].

Weiterhin ermöglicht es das Verfahren, Regeln der Interaktions- und Beziehungsgestaltung herauszuarbeiten, und ist daher auch in der Grundlagenforschung hilfreich. Beide Aspekte lassen sich, wie im Göttinger Videoseminar, in der Einheit von Forschung- und Fortbildungsseminar integrieren [5] [6] [7] [8]. Die Fruchtbarkeit der Kooperation von interpretativer Sozialforschung und Allgemeinmedizin hat sich mit Bezug auf die Balintgruppen-Arbeit bereits bewährt [9] [10]. Die im Videoseminar erfolgende Analyse von spezifischen Kommunikationen zwischen Arzt und Patient kann Hypothesen hervorbringen [11], welche

  • die individuelle Wirklichkeit des jeweiligen Patienten betreffen und von diagnostisch-therapeutischer Bedeutung sind

  • die individuelle Wirklichkeit des jeweiligen Arztes betreffen und im Sinne der Selbstkontrolle von Bedeutung sind

  • die gemeinsame Wirklichkeit von diesem Arzt und diesem Patienten betreffen und insofern behandlungsrelevante Hinweise geben können

  • verallgemeinernde Rückschlüsse auf typische Interaktionsstile, spezifische Funktionen ärztlichen Handelns sowie systematische Kommunikationsprobleme ermöglichen und insofern für Professionalisierung und Gestaltung der Rahmenbedigungen ärztlichen Handelns erheblich sein können.

Wie dies konkret aussehen kann, soll im Folgenden angedeutet werden.

#

Exemplarische Fallanalyse

#

Kontextbedingungen

Das fünfzehn-minütige Gespräch ist 1990 in einer mittelgroßen allgemeinärztlichen Landpraxis mit Einwilligung des Patienten per Video aufgezeichnet worden und ist hier auszugsweise wiedergegeben (das vollständige Gespräch kann bei der Redaktion angefordert werden). Der 35-jährige Dr. M. macht an diesem Tag Praxisvertretung für die im Urlaub weilende Frau Dr. P. In der Vormittagssprechstunde sucht ihn Herr C., ein 47-jähriger Lagerarbeiter, auf:

Arzt: So, Herr C., was kann ich für Sie tun?

Patient: Ich habe hier unheimlich Schmerzen um die Ohren.

Arzt: Und seit wann geht das?

Patient: Des Rechte. (Pause) Mh, seit heute Morgen.

Arzt: Seit heute Morgen. Hatten Sie schon irgendwie mit Mittelohrentzündung zu tun?

#

Herausarbeitung des Behandlungsproblems

Die Eingangsfrage „Was kann ich für Sie tun?” könnte auch vom Verkäufer, Rechtsanwalt oder Arbeitsberater gestellt werden. Sie ist nicht spezifisch ärztlich, sondern kennzeichnet die Bereitschaft, die aktive Rolle in einem Dienstleistungsverhältnis zu übernehmen. Die Frage setzt den Interaktionspartner unter die Verpflichtung, eine konkrete Erwartung zu formulieren.

In der Eröffnung zeigt sich Dr. M. als handlungsorientiert. Durch Vorwissen ist diese Haltung bei einem Erstkontakt nicht erklärbar: Dr. M. kann sich nicht auf sein Gegenüber, sondern allenfalls auf die eigene Rolle im Interaktionsspiel beziehen. Pointiert formuliert: Es ist, als benötige Dr. M. den Patienten als jemanden, für den er etwas tun kann, damit er selbst zum Arzt werden kann. Dieser allgemeinen Bereitschaft steht freilich seine Unsicherheit gegenüber, was er konkret für Herrn C. tun kann.

Diese Eingangsfrage ist für Herrn C. nur dann eindeutig beantwortbar, wenn er über ein ausgeprägtes Problembewusstsein verfügt, d.h. die Diagnose schon feststeht. Anders gesagt: Dr. M. überspringt mit seiner Eingangsfrage im Grunde genommen den diagnostischen Akt und kommt direkt zur Besprechung des Therapieplans.

Auch im Hinblick auf den Interaktionsverlauf ist der gewählte Beginn durchaus riskant. Herr C., der den Arzt erstmalig sieht, wird dessen Kompetenzen kaum beurteilen können. Antworten wie „Wie soll ich das wissen!”; oder „Vermutlich nichts”; wären zwar grob unhöflich, aber vorstellbar. Die Eingangsfrage mutet insofern dem Patienten auch die Verantwortung für den Beziehungsaufbau zu.

Durch die Antwort „Ich habe hier unheimlich Schmerzen um die Ohren” erfahren wir, dass Herr C. unter Schmerzen leidet, diese intensiv empfindet - unheimlich ist ihm dies gar -, und sie, wenn auch nur vague, lokalisieren kann: „hier ... um die Ohren”.

Schauen wir genauer hin: Die Thematisierung von Schmerz ist typischerweise nicht Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Über Schmerzen äußert man sich privat, beispielsweise gegenüber Familienangehörigen, Freunden, Arbeitskollegen, Laienhelfern oder Angehörigen von Gesundheitsberufen. Die Schmerzäußerung zielt auf Anteilnahme, sei es Trost oder konkrete Hilfe.

Die Unheimlichkeit des Schmerzes verweist auf Verunsicherung und Schutzbedürfnis. Das Unheimliche verliert, wie Freud feststellte, seine Macht, wenn es beim Namen genannt wird: nicht länger ist es dann ein „Heimliches” [12]. Die Schmerzäußerung kann daher nicht an einen Beliebigen gerichtet sein: es muss sich um einen Experten für Gesundheitsfragen handeln.

Die Schmerzlokalisation erscheint als Kompromiss örtlich umschriebener Beschwerden - der „Ohrenschmerzen” - und angedeuteter psychosozialer Überlastung - „viel um die Ohren haben”. Somit wendet sich der Interakteur mutmaßlich an einen Arzt - wer sonst sollte ihm in die Ohren schauen und eine Diagnose stellen? -, der zugleich bereit und in der Lage ist, ihm sein Ohr zu leihen.

Die Frage: „Was kann ich für Sie tun?” wird nicht direkt beantwortet. Dennoch bringt der Antwortende ein Hilfsbedürfnis zum Ausdruck. Inwieweit er dies zu einem Auftrag konkretisieren könnte, ist unklar. Seine Äußerung eröffnet für den Arzt zwei Handlungsmöglichkeiten: aktiv herausfinden, was er tun kann (Diagnostik) oder die Situation offen halten und abwarten, ob der Rat Suchende die Problemstellung weiter präzisiert.

Seiner handlungsorientierten Grundeinstellung entsprechend wählt Dr. M. zunächst die aktive Variante, greift den somatischen Aspekt auf und fragt nach zeitlichem Verlauf der Beschwerden und Vorerfahrungen mit Mittelohrenentzündungen. Körperliche Untersuchung, Diagnose und therapeutische Anweisungen schließen sich an, und nachdem Herr C. die Frage „sonst noch was?” verneint, ist das bis hierhin vierminütige Gespräch offenbar beendet.

Der Patient bleibt jedoch sitzen und daraufhin erkundigt sich Dr. M. nach dem Beruf des Patienten - und trifft ins Schwarze: Aufgrund betriebsbedingter Kündigungen muss Herr C. nämlich in Kürze an seinem Arbeitsplatz „aufhören” und fühlt sich im Hinblick auf die Abfindung „;übers Ohr gehauen”. Sein Vorarbeiter begegnet ihm mit Misstrauen, sodass Herr C. es nicht einmal erträgt, dass Dr. M. von diesem spricht: „Hören Sie auf!

Die Ohrenschmerzen des Patienten erscheinen damit gleichsam überdeterminiert und sind auch auf dem Hintergrund einer belastenden psychosozialen Situation begreifbar. Diese erscheint Herrn C. nicht mehr beeinflussbar, sodass Dr. M. ihm eine innere und äußere Umstimmung, d.h. gleichsam ein anderes Hören, empfiehlt: Herr C. soll sich umhorchen und beim Arbeitsamt nach Möglichkeiten für Umschulungsmaßnahmen erkundigen.

#

Rekonstruktion der Herstellung einer gemeinsamen Behandlungswirklichkeit

Wie ergibt sich nun diese im Gesprächsverlauf erzeugte gemeinsame Behandlungswirklichkeit aus den jeweiligen Ausgangsbedingungen, die Dr. M. und Herr C. in ihren Eingangsäußerungen skizzieren?

#

Erwartung des Arztes

Zunächst definiert Dr. M. seine Rolle so, dass er für den Patient „etwas tun können” muss. Dies setzt voraus:

  • die objektive Möglichkeit einer Hilfeleistung

  • die entsprechende Bereitschaft und Kompetenz aufseiten des Arztes

  • die Fähigkeit des Patienten, seinen Hilfebedarf zu artikulieren oder mindestens doch die Bereitschaft, sich vom Arzt unterstützen zu lassen

  • hilfreiche Kontextbedingungen (z.B. Zeit).

Damit lautet die Erwartung des Arztes an den Patienten:

  • Nennen Sie Ihre Erwartungen

  • Seien Sie pragmatisch, verlangen Sie nichts Unmögliches

  • Erkennen Sie mich als den aktiven Partner in unserer Beziehung an.

#

Erwartung des Patienten

Herr C. hat seinerseits „hier unheimlich Schmerzen um die Ohren”. Er zeigt sich mit dieser Eröffnung als selbstbezogen und eingenommen von einer unbestimmten Kraft, die er ebenso sehr hat wie diese ihn. Die Befindlichkeit ist ihm fremd: er ist sie nicht, sondern er hat sie. Dementsprechend wird er die unangenehme Befindlichkeit einfach los sein wollen, ohne sich dabei selbst ändern zu müssen. Die implizite Erwartung an Dr. M. - der ja etwas tun will - lautet:

  • Lokalisieren Sie die Beschwerden („hier ... um die Ohren”);

  • Sagen Sie mir, was dahinter steckt und nehmen Sie mir Angst und Unsicherheit („unheimlich”);

  • Befreien Sie mich von den Schmerzen.

Insoweit Herr C. nicht direkt auf die Frage des Arztes antwortet, lassen sich als weitere implizite Erwartungen nennen:

  • Ermöglichen Sie es mir, Ihre Frage (Ihr Anliegen) zu hören und wahrzunehmen (denn erst dann kann ich darauf überhaupt reagieren)

  • Ermöglichen Sie es mir, Ihre Frage zu beantworten, d.h. allgemeiner: meine Erwartungen zu formulieren und über das Unaussprechliche („unheimlich”) zu reden.

#

Die gemeinsame Wirklichkeit von Arzt und Patient

Der gemeinsame Auftrag „Lokalisierung unter der Führung des Arztes” wird als Allgemeinanamnese und körperliche Untersuchung durchgeführt und resultiert in einer Diagnose (Mittelohrenentzündung) sowie einer darauf gegründeten Therapieanweisung. Anders gesagt: auf der Ebene der körperlichen Behandlung kann Dr. M. etwas für Herrn C. tun.

Die unausgesprochenen gemeinsamen Aufträge „Hörenlernen unter Führung des Arztes” und „Unaussprechliches hervorlocken” lassen sich demgegenüber nur in einem erweiterten Behandlungskonzept realisieren. Tatsächlich setzt sich Dr. M. trotz erklärtermaßen fehlendem weiteren Problematisierungsbedarf des Patienten über dessen Verbalisierung hinweg und macht sich zum Fragenden:

Arzt: Das ist ja nicht so gut. Haben Sie schon was neues in Aussicht?

Patient: Noch gar nichts.

Arzt: Gar nichts.

Patient: Das sieht auch schlecht aus. ... Ich habe vorher zehn Jahre bei der VIVO gearbeitet. Dann hat die auch zugemacht. Und jetzt hier (.) auch wieder. ... Naja, irgendwo wird das schon, finden wir schon irgendwo Arbeit wieder.

Herr C. wird nunmehr zum Geschichtenerzähler, Dr. M. zum aktiv Zuhörenden, die Beschwerden werden psychosozial verortet. Dabei wird immer wieder deutlich, wie wenig sich Herr C. als Subjekt in seiner Handlungssituation erlebt. Diese Haltung, auf realen Ohnmachtserfahrungen gründend, setzt sich dem Arzt als zäher Widerstand entgegen und bezeichnet Grenzen auch seiner Handlungsmöglichkeiten.

Patient: Nützt ja nichts!

Arzt: Also, was ich so gehört habe, da sind die in den letzten Jahren schon etwas kulanter geworden...

Patient: Ich muss mal sehen. Irgendwas wird schon wieder werden.

Dr. M. vermag freilich wiederum durch Bezug auf eigene Hör-Erfahrungen eine Gemeinsamkeit für das Gespräch herzustellen. Dabei muss es bleiben: eine gemeinsame Behandlungswirklichkeit setzt kontinuierliche Versorgung voraus und ist für Arzt und Patient letztlich nur als Verweis auf die behandelnde Hausärztin möglich. Obgleich dies natürlich objektiv der Vertretungssituation geschuldet ist, wird damit doch genau die Struktur reproduziert, unter der Herr C. leidet: „Da hat's einer auf den anderen geschoben, so hört sich das an.” Das Hör-Problem ist mithin auch ein Problem von Zugehörigkeit (zur Firma) und Gehorsam (gegenüber dem Vorgesetzten), d.h. Verantwortungs- und Autonomieproblem.

Der Schmerz wird nicht explizit zum Thema. Die Behandlung aber findet dennoch implizit statt, indem Dr. M. einerseits die Behandlungsbedürftigkeit anerkennt und andererseits die Gestimmtheit verbalisiert: „Bedrückt auch ein bisschen, ne?”

#

Resümee

Die Analyse ergibt bezüglich der oben unterschiedenen Wirklichkeitsebenen die folgende Hypothesen:

Der Patient erlebt sich als passives Objekt des Wirkens Anderer, seine Wirklichkeit erscheint ihm als nicht gestaltbar. Aufgabe in einer hausärztlichen Dauerbeziehung wäre es herauszuarbeiten, welche Handlungsoptionen möglicherweise doch zur Verfügung stehen könnten und welchen Beitrag Herr C. ggf. selbst dazu leistet, diese nicht in Anspruch zu nehmen. Dr. M. nimmt diese Aufgabe, so weit dies im Rahmen der Vertretungssituation überhaupt möglich ist, zumindest im Hinblick auf die berufliche Situation in Angriff.

Dr. M. zeigt sich als Arzt zunächst handlungsorientiert und nimmt nicht die Komplexität des Patientenanliegens auf. Er verfügt aber über die Sensibilität und Flexibilität, dies zu korrigieren. Es wäre zu prüfen, ob Dr. M. zu diesem Muster auch in anderen Konsultationen neigt und wie er seine umfassenden Wahrnehmungskompetenzen bereits in der Eröffnungsphase gezielt zum Einsatz bringen kann, um Umwege zu vermeiden [13].

Da es sich um eine einmalige Vertretungssituation handelt, haben Dr. M. und Herr C. keine gemeinsame Behandlungs-Zukunft. Ihre gemeinsame Wirklichkeit kann sich daher nur auf die Interaktion selbst beziehen und wird in Medikamentenverordnung und Thematisierung der Arbeitssituation erreicht. Dr. M. stellt hier Nähe und Verbindlichkeit jeweils durch Verweis auf eigene Erfahrungen her und vermag damit ein Stück weit den Anschein fehlender institutioneller Kompetenz zu kompensieren.

Bei sequenzieller Betrachtung wird deutlich, dass es sich beim vorgestellten Beispiel kaum um ein Gespräch mit einem Verkäufer, Arbeitsberater oder Rechtsanwalt handeln kann. Vielmehr wird bereits mit den beiden ersten Äußerungen der Interaktanden ein Dienstleistungsverhältnis etabliert, das sich zugleich auf körperliche und psychosoziale Aspekte bezieht. Dies ist kennzeichnend für eine Hausarzt-Patient-Beziehung. Charakteristisch ist leider auch, dass beide Interakteure die symptomatische Einheit „Ohrenschmerzen” nacheinander auf körperlicher und psychosozialer Ebene abhandeln, aber weder ein Gesamtkonzept noch eine integrale Behandlung vereinbaren. Mag dies im vorliegenden Fall ein Stück weit auch durch die Vertretungssituation erklärbar sein, so ist doch erkennbar, dass die vorschnelle Klarheit der Problemdefinition aus der Handlungsorientierung des Arztes resultiert und erst vor dem Hintergrund des passiven Widerstands des Patienten korrigiert wird. Es bedarf dann einer erneuten Initiative des Arztes, um ein vorhandenes, aber nicht ohne weiteres aussprechliches Problem („hidden agenda”) zur Sprache zu bringen.

Offenbar kann die einem Dienstleistungsverhältnis durchaus angemessene Frage „Was kann ich für Sie tun?” in der hausärztlichen Sprechstunde überfordernd wirken: nicht immer sind Patienten Kunden. Sicherer wäre es, den Patienten dort abzuholen, wo er ist. Eine offenere Frage wie z.B.: „Was führt Sie zu mir?” würde ihn zu einer Problemschilderung auffordern, an die sich der diagnostisch-therapeutische Prozeß anschließen könnte.

Rückkopplungsfragen werfen noch einmal Möglichkeiten für Patienteninitiativen auf, selbst wenn sie in der flapsigen Form eines „sonst noch was?” daherkommen. Das ärztliche Gespräch hat insofern eine sozialkompensatorische Funktion insbesondere bei denen zu erfüllen, die aus Scham, Angst oder auch fehlender Übung nicht direkt ihre Erwartungen artikulieren (können).

#

Konsequenzen

Der Hausarzt der Zukunft muss in einem Setting arbeiten, das ihm die Wahrnehmung seines umfassenden Auftrags auch tatsächlich ermöglicht. Er benötigt die Zeit, um die erforderlichen Gesprächs- und Koordinationsleistungen zu vollbringen, und er braucht Anreize, um seinen jetzigen Arbeitstakt umzustellen.

Darüberhinaus ist eine Qualifizierungsinitiative erforderlich. Ob Schweiz, England oder Niederlande - in allen diesen Ländern wird die Schulung der Gesprächsführung deutlich größer geschrieben als in Deutschland. Rollenspiele, Analysen eigener videodokumentierter Gespräche und Selbsterfahrung sind in diesen Ländern schon im Studium die Regel. In der Schweiz wird den Studierenden in der Prüfung der psychosozialen Medizin eine videodokumentierte hausärztliche Konsultation zur Diskussion vorgelegt [14].

In der Facharztweiterbildung zum Allgemeinarzt war die weiterbildungsbegleitende Selbstreflexion in Form von Balintgruppen zielführender als die an deren Stelle getretenen Gesprächsführungsseminare. Eindrücklich zeigte sich in den Balintgruppensitzungen das Beziehungsdreieck Weiterbildungsassistent - Patient - Weiterbildner als eine Problemkonstellation, der mit Gesprächsführungstechniken nicht beizukommen ist und die jenseits der Gruppensitzungen überhaupt nicht thematisiert wurde. Wiederum lohnt ein Blick zu den Nachbarn: kontinuierliche und angeleitete Selbstreflexion während der Weiterbildung sind dort Standard. In der Schweiz haben die Kandidaten Videodokumentationen eigener Konsultationen zur Facharztprüfung mitzubringen, bei der diese auch zum Thema werden.

Angebote für die Förderung der kommunikativen Kompetenzen sollten auch in der ärztlichen Fortbildung verstärkt und gefördert werden. Videoseminare erscheinen mir hierbei besonders geeignet, weil sie neben einer Diskussion kommunikativer Prozesse auch die Thematisierung anderer fachlicher Fragen der hausärztlichen Versorgung ermöglichen und damit eine ausgezeichnete Basis für die Schulung der allgemeinärztlichen Gesamtdiagnostik darstellen. Solche Seminare können kontinuierlich - z.B. als videogestützte Qualitätszirkel [15] - oder mit spezifischem Schwerpunkt auch als Schnupperseminar durchgeführt werden (weitere Informationen vom Verfasser).

Schließlich erscheint es mir sinnvoll, die Überlegungen, wie Patienten die Effektivierung des Gesundheitssystems fördern können, über die Frage der Beitragszahlungen hinauszutragen. In einigen Selbsthilfegruppen bereiten sich Patienten auf ihre Arztbesuche systematisch vor, indem sie ihrerseits das Gespräch mit dem Arzt üben. Dass es ihnen wiederholt nicht gelang, ihre eigenen Anliegen vorzutragen, sehen sie nicht als Schicksal und nur begrenzt als Mangel des Arztes an. Mit Erfolg. Daran lässt sich anschließen z.B. mit Kommunikationsseminaren für Patienten.

Das vollständige Transkript kann bei der Redaktion angefordert werden unter Tel.: 0711/8931-179, Fax: 0711/8931-322, E-Mail: katrin.wolf@thieme.de

#

Literatur

  • 1 Sonnenschein R. „Gesundheitslotse” Hausarzt? Nein, danke - Bei psychischen Störungen sind Hausärzte als Anlaufstelle ungeeignet - besser gleich direkt zum Psychotherapeuten.  Psychotherapie http://www.psychotherapie. de/psychotherapie/politik/01051801.html. 2001; 
  • 2 DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) . Beschluss der Jahreshauptversammlung vom 21.9.2002 - Eine neue Fachdefinition.  Z Allg. Med. 2002;  78 482
  • 3 Bahrs O. Mein Hausarzt hat Zeit für mich - Wunsch und Wirklichkeit; Ergebnisse einer europäischen Gemeinschaftsstudie;.  GGW. 2003;  1 17-23
  • 4 Welter-Enderlin R, Hildenbrand B. Systemische Therapie als Begegnung, 3. verb.  Auflage, Stuttgart, Klett-Cotta. 1999; 
  • 5 Adam H, Bahrs O, Gerke H, Szecsenyi J. Videoseminar als Fortbildungs- und Forschungsinstrument.  Niedersächsisches Ärzteblatt. 1991;  8 22-26
  • 6 Bahrs O. Vom Schwindel zum Schwindeln. Analyse eines Beratungsgesprächs im Hausärztlichen Qualitätszirkel; Medizinische Kommunikation - Diskurspraxis, Diskursethik, Diskursanalyse, Redder A, Wiese I (Hrsg.)  Opladen, Westdeutscher Verlag. 1994;  241-276
  • 7 Schultze C. Videotranskripte in ärztlichen Qualitätszirkeln. Zur Durchführung des Göttinger Videoseminars.  In: Brünner G, Fiehler R, Kindt W (Hrsg.): Angewandte Diskursforschung, Bd. 2, Methoden und Anwendungsbereiche  Opladen/Wiesbaden, Westdeutscher Verlag. 1999;  100-113
  • 8 Bahrs O, Fischer-Rosenthal W, Szecsenyi J. Vom Ablichten zum Im-Bilde-Sein. Videodokumentationen im ärztlichen Qualitätszirkel;.  Würzburg, Königshausen & Neumann. 1996; 
  • 9 Balint M. Die Struktur der Training-cum-resarch-Gruppen und deren Auswirkungen auf die Medizin.  In: Dräger K. et al. (Hrsg.): Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. V, 125-146  Bern, Huber. 1968;  125-146
  • 10 Balint E, Courtenay M, Elder A, Hull S, Julian P. The doctor, the patient and the group. Balint revisited;.  London New York, Routledge. 1993; 
  • 11 Bahrs O, Köhle M. Das doppelte Verstehensproblem - Arzt-Patient-Interaktion in der Hausarztpraxis.  In: Neubig H (Hrsg.): Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis, Band 4  Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Hong Kong, Springer. 1989;  103-130
  • 12 Freud S. Das Unheimliche.  In: Freud S, Psychologische Schriften - Studienausgabe, Band IV, Frankfurt, S.  Fischer. 1970;  241-274
  • 13 Tielens VCL. Consultation length and the patient's view: aspects of quality;.  in: Mol SSL, Bensing JM: Doctor-patient communication and the quality of care - Methods and Measures; Process and outcome, report of an Invitational Workshop; Utrecht  Netherlands Institut of Primary Health Care (NIVEL), o.J.
  • 14 Buddeberg C, Willi J. Psychosoziale Medizin, 2. Vollst. überarbeitete Auflage.  Berlin Heidelberg New York , Springer. 1998; 
  • 15 Peltenburg M, Ackermann D, Bandi-Ott E, Eg]i N, Limacher B, Pestalozzi H. Implementing the Quality Cycle in Supervised, Video-oriented Peer Review Groups „Videokränzli”;.  Vortrag beim EQUIP-Meeting in Zürich  http://www.equip.ch/e_1/meetings/doczh/EQuiPZH39.htm. 1997; 
#

Korrespondenzadresse:

Dr. disc. pol. Ottomar Bahrs

Abt. Medizinische Psychologie

Universität Göttingen

Waldweg 37

37073 Göttingen

Email: obahrs@gwdg.de

#

Literatur

  • 1 Sonnenschein R. „Gesundheitslotse” Hausarzt? Nein, danke - Bei psychischen Störungen sind Hausärzte als Anlaufstelle ungeeignet - besser gleich direkt zum Psychotherapeuten.  Psychotherapie http://www.psychotherapie. de/psychotherapie/politik/01051801.html. 2001; 
  • 2 DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) . Beschluss der Jahreshauptversammlung vom 21.9.2002 - Eine neue Fachdefinition.  Z Allg. Med. 2002;  78 482
  • 3 Bahrs O. Mein Hausarzt hat Zeit für mich - Wunsch und Wirklichkeit; Ergebnisse einer europäischen Gemeinschaftsstudie;.  GGW. 2003;  1 17-23
  • 4 Welter-Enderlin R, Hildenbrand B. Systemische Therapie als Begegnung, 3. verb.  Auflage, Stuttgart, Klett-Cotta. 1999; 
  • 5 Adam H, Bahrs O, Gerke H, Szecsenyi J. Videoseminar als Fortbildungs- und Forschungsinstrument.  Niedersächsisches Ärzteblatt. 1991;  8 22-26
  • 6 Bahrs O. Vom Schwindel zum Schwindeln. Analyse eines Beratungsgesprächs im Hausärztlichen Qualitätszirkel; Medizinische Kommunikation - Diskurspraxis, Diskursethik, Diskursanalyse, Redder A, Wiese I (Hrsg.)  Opladen, Westdeutscher Verlag. 1994;  241-276
  • 7 Schultze C. Videotranskripte in ärztlichen Qualitätszirkeln. Zur Durchführung des Göttinger Videoseminars.  In: Brünner G, Fiehler R, Kindt W (Hrsg.): Angewandte Diskursforschung, Bd. 2, Methoden und Anwendungsbereiche  Opladen/Wiesbaden, Westdeutscher Verlag. 1999;  100-113
  • 8 Bahrs O, Fischer-Rosenthal W, Szecsenyi J. Vom Ablichten zum Im-Bilde-Sein. Videodokumentationen im ärztlichen Qualitätszirkel;.  Würzburg, Königshausen & Neumann. 1996; 
  • 9 Balint M. Die Struktur der Training-cum-resarch-Gruppen und deren Auswirkungen auf die Medizin.  In: Dräger K. et al. (Hrsg.): Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. V, 125-146  Bern, Huber. 1968;  125-146
  • 10 Balint E, Courtenay M, Elder A, Hull S, Julian P. The doctor, the patient and the group. Balint revisited;.  London New York, Routledge. 1993; 
  • 11 Bahrs O, Köhle M. Das doppelte Verstehensproblem - Arzt-Patient-Interaktion in der Hausarztpraxis.  In: Neubig H (Hrsg.): Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis, Band 4  Berlin Heidelberg New York London Paris Tokyo Hong Kong, Springer. 1989;  103-130
  • 12 Freud S. Das Unheimliche.  In: Freud S, Psychologische Schriften - Studienausgabe, Band IV, Frankfurt, S.  Fischer. 1970;  241-274
  • 13 Tielens VCL. Consultation length and the patient's view: aspects of quality;.  in: Mol SSL, Bensing JM: Doctor-patient communication and the quality of care - Methods and Measures; Process and outcome, report of an Invitational Workshop; Utrecht  Netherlands Institut of Primary Health Care (NIVEL), o.J.
  • 14 Buddeberg C, Willi J. Psychosoziale Medizin, 2. Vollst. überarbeitete Auflage.  Berlin Heidelberg New York , Springer. 1998; 
  • 15 Peltenburg M, Ackermann D, Bandi-Ott E, Eg]i N, Limacher B, Pestalozzi H. Implementing the Quality Cycle in Supervised, Video-oriented Peer Review Groups „Videokränzli”;.  Vortrag beim EQUIP-Meeting in Zürich  http://www.equip.ch/e_1/meetings/doczh/EQuiPZH39.htm. 1997; 
#

Korrespondenzadresse:

Dr. disc. pol. Ottomar Bahrs

Abt. Medizinische Psychologie

Universität Göttingen

Waldweg 37

37073 Göttingen

Email: obahrs@gwdg.de