Auf die Möglichkeit, dass ein Zusammenhang zwischen der Stoffwechsellage der Schilddrüse
und affektiven Erkrankungen bestehen könnte, wurde man aufmerksam durch gewisse Überschneidungen
im Symptomkomplex bei verschiedenen psychiatrischen und endokrinologischen Erkrankungen
[9]. So können sowohl hypothyreote als auch hyperthyreote Stoffwechsellagen zu psychiatrischen
Krankheitsbildern führen. Bei einer Hypothyreose treten häufig Symptome einer Depression
auf [8]. Manische Symptome sind häufig gekoppelt mit dem Auftreten einer Schilddrüsenüberfunktion
[18]. Obwohl bei der Mehrzahl der Patienten mit einer affektiven Erkrankung eine euthyreote
Stoffwechsellage vorliegt, können dennoch subklinische Störungen des Schilddrüsenstoffwechsels
bei bestimmten Subpopulationen bipolar Erkrankter beobachtet werden [13]. Bei Patienten mit einem Rapid-Cycling-Verlauf ist die erhöhte Prävalenz für eine
latente Schilddrüsenunterfunktion, also das Vorliegen eines erhöhten TSH-Spiegels,
bei etwa 30 bis 50 % bekannt [11]. Dieser beschriebene Zusammenhang zwischen affektiven Erkrankungen und der HPT-Achse
führte zu verschiedenen Versuchen, Schilddrüsenhormone bei Patienten mit affektiven
Störungen therapeutisch einzusetzen.
Datenlage
Datenlage
Behandlung der Depression mit Trijodthyronin
Für den Einsatz von Trijodthyronin (T3) in der Akuttherapie der Depression gibt es zahlreiche Studien. T3 beschleunigt nicht nur den Wirkungseintritt in der Kombination mit trizyklischen
Antidepressiva [1], sondern es scheint auch als Augmentationsbehandlung bei einem Teil der Patienten
mit therapieresistenter Depression wirksam zu sein [2].
Studien für T3 in der Langzeitbehandlung affektiver Erkrankungen liegen nicht vor. Trijodthyronin
ist wegen der kurzen Halbwertszeit und dem raschen Auftreten von thyreotoxischen Symptomen
für eine Hochdosistherapie ungeeignet.
Behandlung der Depression mit L-Thyroxin
In der Therapie mit dem Prohormon von Trijodthyronin L-Thyroxin (T4) unterscheidet man zwei therapeutische Prinzipien: den Einsatz von T4 in normaler Dosierung als „Substitutionsdosis” (bis 200 μg/d) und in supraphysiologischer
Dosierung (ab 200 μg/d) - physiologisch werden ca. 70 μg/d Schilddrüsenhormone sezerniert.
In der Akuttherapie scheint T4 in normaler Dosierung nicht ausreichend wirksam zu sein. In einer doppelblinden Studie,
die die Gabe von Trijodthyronin mit normal dosiertem L-Thyroxin bei Patienten mit
der Diagnose einer therapierefraktären Depression verglich, schnitt die T4-Gruppe signifikant schlechter ab [15]. Zur adjuvanten Langzeittherapie affektiver Erkrankungen mit T4 in Substitutionsdosierung liegen bislang keine Studien vor. Jedoch gibt es einzelne
Fallberichte, in denen die zusätzliche Gabe von niedrig dosiertem T4 zu der Medikation mit Lithium ein Rapid-Cycling bei bipolarer Erkrankung beenden
konnte [14].
Supraphysiologische Behandlung
Stancer und Persad [16] berichteten als erste vom erfolgreichen Einsatz von hochdosiertem T4 bei Rapid-Cycling. Eine spätere Studie mit elf prophylaxe-resistenten Rapid-Cycling-Patienten
zeigte sowohl eine Abnahme der Frequenz, als auch der Amplitude affektiver Episoden.
Bei einigen Patienten führte diese Behandlung sogar zur Remission [10].
Unsere Arbeitsgruppe untersuchte 17 therapieresistente (12 bipolare und 5 unipolare)
Patienten unter einer hochdosierten T4-Therapie. Nach acht Wochen erfüllten acht Patienten die Kriterien für eine Vollremission
(≥ 50 % Reduktion im HRSD-21, max. ≤ 8 im HRSD-21). Nach zwölf Wochen hatten zwei
weitere Patienten eine Vollremission erreicht. Innerhalb eines Zeitraumes von drei
Monaten waren 60 % der zuvor therapierefraktären Patienten remittiert [6]. Eine Studie an therapieresistenten depressiven Frauen mit bipolarer Störung zeigte,
dass sieben der zehn Patientinnen nach sieben Wochen unter hochdosiertem T4 voll respondierten, die anderen drei partiell [7]. Ergebnisse einer Untersuchung mit 21 prophylaxeresistenten unipolaren, bipolaren
und schizoaffektiven Patienten, die über einen durchschnittlichen Zeitraum von 51
Monaten im Mittel 380 μg T4 pro Tag erhalten hatten, zeigten ebenfalls vielversprechende Ergebnisse: sowohl die
Zahl der Rückfälle als auch die Zahl der Krankenhausaufnahmen nahmen signifikant ab,
bei einigen Patienten wurde eine Vollremission erzielt. Bipolare Patienten profitierten
mehr von dieser Behandlung als unipolare oder schizoaffektive [5].
Durchführung der L-Thyroxin-Hochdosis-therapie bei einer Depression
Durchführung der L-Thyroxin-Hochdosis-therapie bei einer Depression
Da es sich bei der T4-Hochdosis-Therapie noch um ein experimentelles Verfahren handelt, muss die Indikation
streng gestellt werden. Die Wirksamkeit ist dabei für bipolare Erkrankungen besser
belegt als für unipolare. Derzeit liegen Daten für die Behandlung von Patienten mit
folgenden Erkrankungen vor: bipolare Erkrankung mit Rapid Cycling, prophylaxeresistente
bipolare und unipolare Erkrankung, therapieresistente depressive Episode [3]. Zur Risikoabwägung und zum Ausschluss ernster internistischer Erkrankungen müssen
vor Beginn und im Verlauf einer T4-Hochdosis-Therapie regelmäßig verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden [Tab. 1]. Die Geschwindigkeit der Aufdosierung ist abhängig vom initialen Schilddrüsenstatus
des jeweiligen Patienten und der Verträglichkeit der Substanz. Bei latenter oder manifester
Hypothyreose sollte eine langsame Aufdosierung beginnend mit einer niedrigen Dosis
(25-50 μg/d) T4 erfolgen. Bei euthyreoten Patienten kann mit einer Startdosis von 100 μg/d begonnen
werden; eine Erhöhung um wöchentlich 100 μg/d ist möglich. Welche genaue Zieldosis
wirksam ist, muss noch weiter in klinischen Studien untersucht werden. 250-400 μg/d
scheinen aber hinsichtlich der Wirksamkeit und Verträglichkeit bei depressiven Patienten
möglich. Die Dauer der T4-Hochdosis-Behandlung ist abhängig von der Indikation. Bei der bipolaren Depression
sollte ein Therapieversuch mit hochdosiertem T4 mindestens zwölf Monate betragen, um den Erfolg beurteilen zu können, bei Rapid Cycling
mindestens sechs Monate. Bei gutem Ansprechen auf die Substanz kann die Behandlung
zur Rezidivprophylaxe fortgeführt werden, wobei sorgfältig auf Nebenwirkungen geachtet
werden muss. Um die Behandlung mit T4 zu beenden, kann das Medikament wegen der langen Halbwertszeit innerhalb von ein
bis zwei Wochen ausgeschlichen werden [3].
Eine Behandlung mit hochdosiertem T4 wird in der Regel erstaunlich gut vertragen. Zwei Drittel der Patienten bemerken
keine unerwünschten Nebenwirkungen. Wenn Nebenwirkungen auftreten, sind diese meist
mild ausgeprägt. Beschrieben werden vermehrtes Schwitzen, Verstärkung eines bestehenden
Tremors, vorübergehende Knöchelödeme und ein mäßiger Anstieg der Herzfrequenz um durchschnittlich
10-20 Schläge pro Minute [3]. Dabei vertragen depressive Patienten hochdosiertes T4 offenbar besser als gesunde Kontrollpersonen - der Serumspiegel von Thyroxin war
während der Therapie mit T4 bei Gesunden signifikant höher [4].
Wirkmechanismen der L-Thyroxin-Hochdosis-Behandlung
Im Gegensatz zu anderen Geweben deckt das Gehirn seinen Bedarf an Schilddrüsenhormonen
zu 70 % aus zirkulierendem Thyroxin, das erst intrazellulär zu Trijodthyronin dejodiert
wird [12]. Im Liquor depressiver Patienten finden sich erniedrigte Werte für das Protein,
das Thyroxin über die Blut-Hirn-Schranke transportiert [17]. Dies könnte zu einer „zentralen Hypothyreose” führen, was für affektive Erkrankungen
pathogenetisch bedeutsam sein könnte. Ein möglicher Ansatz der T4-Hochdosis-Behandlung wäre somit ein Ausgleich dieser „zentralen Hypothyreose” durch
Substratüberschuss. Über ihre nukleären Rezeptoren nehmen Schilddrüsenhormone Einfluss
auf die Proteinsynthese. So wird die Expression verschiedener Zielgene moduliert.
Hiervon betroffen sind u.a. die hypothalamischen Hormone TRH und CRH sowie der Glukosetransporter
GLUT-1, der für die Energieversorgung des Gehirns zuständig ist [9].
Ausblick
Ausblick
Um die Wirksamkeit und Sicherheit der T4-Hochdosistherapie weiter belegen zu können und so ihren Einsatz in der Behandlung
der bipolaren Depression zu etablieren, sind weitere klinische Studien notwendig.
Kürzlich hat unter der Leitung der Autoren eine randomisierte, plazebo-kontrollierte,
doppelblinde, multizentrische Studie begonnen. In die Studie sollen an sechs Studienzentren
in Deutschland, USA und den Niederlanden über einen Zeitraum von zwei Jahren insgesamt
80 Patienten mit einer bipolaren Depression eingeschlossen werden. Zusätzlich zu einer
bestehenden antidepressiven Medikation oder Phasenprophylaxe werden die Patienten
im Verlauf von 13 Wochen mit 300 μg/d T4 behandelt. Die regelmäßige Bestimmung des Schilddrüsenstatus während der Behandlung,
sowie eine genetische Untersuchung an Kandidatengenen für den Schilddrüsenstoffwechsel
sollen nicht nur weitere Hinweise über Wirkmechanismen der T4-Therapie liefern, sondern auch die Sicherheit und Effizienz in der Wirksamkeit der
Behandlung sichern. Die Studie wird gefördert vom Stanley Medical Research Institute
(SMRI, Bethesda, USA).
Tab. 1 Applikation von L-Thyroxin in supraphysiologischer Dosis bei refraktären affektiven
Erkrankungen
Klinische Indikationen |
Rapid Cycling bei bipolarer affektiver Störung
Prophylaxeresistente affektive Störung
Behandlungsrefraktäre schwere depressive Episode (uni- und bipolar) |
Ausschlusskriterien |
Schilddrüsenerkrankungena (Hyperthyreose, Schilddrüsenadenom)
Kardiologische Erkrankungen (z.B. Herzinfarkt in der Anamnese, Arrhythmienb, instabiler, insuffizient behandelter Bluthochdruck)
Schwangerschaft; Stillzeit
Postmenopausale Frauen, die an einer Osteoporose erkrankt sind und bei denen das Risiko
einer Progredienz der Erkrankung besteht
Alter >70 Jahre
Schwere organische Hirnerkrankung (z.B. Demenz) |
Untersuchungen |
Psychiatrische und medizinische Anamnese und Untersuchung
Vitalparameter (Blutdruck und Puls), Körpergewicht, EKG
Knochendichtemessung (nur Patienten, die L-Thyroxin über einen Zeitraum länger als
3 Monate erhalten)
Schilddrüsenfunktionstest (TSH, Schilddrüsenhormone: tT4, fT4, tT3, Schilddrüsenautoantikörper)
Routinelaborparameter
Beratung durch Endokrinologen/Internisten |
Dosierung |
Startdosis 100 μg (bei initial euthyreoter Stoffwechsellage)
Zieldosis 250-400 μg (nach Verträglichkeit und klinischer Wirkung) |
1 Zusätzliche radiologische Untersuchungen bei Patienten (z.B. Sonographie oder Szinitigraphie
der Schilddrüse)
2 24-h EKG bei Arrhythmie Nach Bauer et al. [3]