Balint Journal 2003; 4(4): 113-115
DOI: 10.1055/s-2003-45180
Tagungsbericht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Balint trifft Zauberberg

Erstmals Studientagung im Sanatorium Dr. Barner in BraunlageS. Höckele1 , S. Häfner1
  • 1Forschungsstelle für Psychotherapie, Stuttgart
Further Information

Publication History

Publication Date:
02 January 2004 (online)

Ein paar Kilometer über die Landesgrenze und schon lockt der Zeitsprung in eine andere Welt: Die 12. Studientagung von Sachsen-Anhalt fand in diesem Frühsommer ausnahmsweise im benachbarten niedersächsischen Braunlage statt. Im Jugendstil-Sanatorium Dr. Barner fühlten sich vom 20. bis 22. Juni 2003 die 47 Teilnehmer wie auf Thomas Manns Zauberberg.

Das Eintreten ist noch unspektakulär. Ein Rosenrondell in der Auffahrt, der Zugang über einen gerundeten Eingang führt ein paar Meter durch einen einseitig verglasten Gang mit Blick auf den verwilderten Garten. Kurz vor der Treppe riecht es nach Chlorwasser aus dem Schwimmbad im Untergeschoss. Aber wer die wenigen Stufen zum Empfang erklommen hat, hält nicht des Chlorwassers wegen den Atem an. Eine holzvertäfelte Diele öffnet sich, das Tagungsbüro ist im ehemaligen Wartezimmer Dr. med. et phil. Friedrich Barners untergebracht, der das Sanatorium 1900 gegründet hat. Das Zimmer ist noch original eingerichtet wie zu seiner Entstehungszeit um 1905: Vertäfelung, Einbaumöbel, Sessel, Deckenleuchte, an den Wänden Gemälde von Hans von Heider und Fritz Hegenbart. Und nicht dieses Zimmer alleine strahlt noch den Glanz reinen Jugendstils aus: Speisesäle, Marmorhalle, Wandelhalle, Patientenzimmer bilden heute noch ein Gesamtkunstwerk ab, das zwischen 1912 und 1914 entstand.

Dabei ist dieses Kleinod im Mittelharz nicht nur eine kunsthistorische Kostbarkeit, sondern eine moderne Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Psychotraumatologie, Psychiatrie und Neurologie sowie Innere Medizin mit 71 Betten im Krankenhaus- und Sanatoriumsbetrieb - also genau das richtige Umfeld für eine Balint-Tagung.

Dennoch war es eher Zufall, dass die traditionelle Frühsommertagung im Harz aus Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen abwandern musste: Die bewährten Häuser in Schierke und Drei Annen werden derzeit einer Komplettrenovierung unterzogen. So war die Balint-Gesellschaft dankbar, dass sie im Sanatorium Dr. Barner liebevolle Aufnahme fand. 47 Teilnehmer mit Familienanhang fanden sich zur 12. Studientagung mit Leiterseminar ein und genossen nicht nur die wunderbare Tagungsatmosphäre, sondern auch die exzellente Verpflegung des Sanatoriums, serviert im stilvollen Grünen Speisesaal.

Das Sanatorium Dr. Barner ist seit vier Generationen in Familienbesitz. Dr. Johann Barner, Urenkel des Gründers, Sanitätsrat Friedrich Barner (1859 - 1926), sieht seine Aufgabe als studierter Kunsthistoriker und Betriebswirt in der Erhaltung des Gebäudeensembles, das im Jahr 2002 samt Inventar in die „Deutsche Stiftung Denkmalschutz” eingebracht wurde. Das Haus verdankt seine Gestalt der glücklichen Begegnung zwischen dem Arzt Friedrich Barner und dem Kunsttischler und Architekten Albin Müller (1871 - 1941), dem späteren Leiter der Darmstädter Mathildenhöhe und Hofarchitekten des Großherzogs Ernst Ludwig von Darmstadt. Müller kam 1903 im Alter von 32 Jahren mit Magenleiden und Schlaflosigkeit in das damals gerade drei Jahre alte, aber bereits florierende Sanatorium des vormaligen Landarztes Friedrich Barner. Arzt und Patient befreundeten sich und es entstanden 1905 als erste Gemeinschaftsprojekte jenes bereits erwähnte Wartezimmer und eine Lufthütte im Park, die heute eines der seltenen erhaltenen Beispiele der Lufthüttenbewegung darstellt.

Mit dem Kauf der benachbarten Villa am Walde im gleichen Jahr wurde das Sanatoriumsgelände erweitert und gleichzeitig ein Verbindungsbau nötig. Dieser Wandelgang wurde in den Jahren 1912 bis 1914 erstellt, eine Fotoausstellung dokumentiert heute dort die Erweiterungsbautätigkeit und das vergangene Leben im Sanatorium. Den Verbindungsraum vom Wandelgang zur Villa am Walde stellt die Marmorhalle dar, heute mit schwarzem und weißem Marmor an Boden und Wänden und Prunkkamin aus sächsischem Serpentin das materiell kostbarste Zimmer im Sanatorium. In diesem Raum treffen auch Aufstieg und Niedergang des Sanatoriums einzigartig augenfällig zusammen: Der Prunkkamin versteckte einst eine moderne Dampfheizung, doch der Fahrstuhlschacht ist leer geblieben - der Kriegsausbruch hat die Verwirklichung weiterer Pläne von Albin Müller und Friedrich Barner verhindert. Die Baustelle löste sich auf, die Patienten fuhren heim. Die Zeit des Jugendstil war, nicht nur im Sanatorium Dr. Barner, zu Ende. Albin Müller jedoch kam immer wieder nach Braunlage, wenn er sich in einer Krisensituation befand, und holte sich bei seinem ärztlichen Freund Rat und Hilfe.

Während der Zeit als Militär-Lazarett in den Jahren 1939 bis 1948 hat die Übermalung mit gelber Ölfarbe zahlreiche Schablonenmalereien zerstört, einige werden derzeit wieder freigelegt. Erhalten geblieben sind jedoch neben den bereits erwähnten Räumen auch der Grüne, Blaue und Gelbe Speisesaal mit teilweise handgedruckten Originaltapeten, Linoleumböden und Silberservice, das Damenzimmer, der runde Musiksalon mit Kunststuck an der Decke und das Herrenbad mit Originalkacheln, in dem unter den großen alten Duschköpfen ein modernes EKG-Gerät seine Bleibe gefunden hat. „Das Haus wird als Therapieinstrument mit eingesetzt”, erklärt der Arzt Dr. Klaus Barner, Enkel des Gründers und heute 74 Jahre alt. „Es hat seine eigene therapeutische Fähigkeit, zum Beispiel durch die Größe der Zimmer oder die Vielfalt der Gesellschaftsräume.” Auch die Liegehallen hinter dem Gebäude sind erhalten und werden noch therapeutisch genutzt. „Die Liegekuren und das Umziehen zu Tisch sind Meditationsübungen, die heute vielfach verloren gegangen sind”, schmunzelt Klaus Barner.

Der Internist hat das Haus 1960 von seinem Vater übernommen. Seinerzeit war es das erste Sanatorium in Norddeutschland, das innere Medizin und Psychotherapie zu verbinden gesucht hat. Heute liegen die Schwerpunkte zum einen in der Therapie von psychosomatischen Erkrankungen, psycho-physischen Erschöpfungszuständen, Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, zum anderen in der Behandlung von Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, auch mit der EMDR-Methode. Rund 30 Prozent der Patienten kommen mit internistischen oder allgemeinen Erkrankungen. Zum Behandlungsteam gehören Fachärzte, Psychotherapeuten, examiniertes Pflegepersonal und Physiotherapeuten.

Das Haus, umgeben von einem 30.000 Quadratmeter großen Park, zeichnet sich durch seine Ruhe aus. „Eine gewisse Langeweile ist der erste Schritt zur Gesundung”, erklärt eine der Schwestern, die ganz selbstverständlich als Co-Therapeutinnen eingesetzt werden. Die Jugendstil-Atmosphäre schafft Muse und Anregung zugleich, über Gesundheit und Krankheit nachzudenken, auch wenn die Hausordnung den Patienten das Sprechen über die Krankheiten untereinander verbietet. „Die Patienten sollen sich ja nicht gegenseitig runterziehen”, erklärt die Schwester.

 „Zwei Reisetage entfernen den Menschen (…) seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte (…)”, schreibt Thomas Mann über die Reise Hans Castorps auf den Zauberberg, dessen Besuch drei Wochen dauern sollte und sieben Jahre währte. Eine Erfahrung, die sich in der Fachklinik Dr. Barner nacherleben lässt - auch wenn alle Balint-Teilnehmer am Sonntagnachmittag die Heimreise angetreten haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sie wiederkommen. Abb. [1], Abb. [2], Abb. [3]

Abb. 1 Außenansicht Foto: S. Höckele

Abb. 2 Damenzimmer Foto: S. Höckele

Abb. 3 Marmorhalle Foto: S. Höckele

Dr. Steffen Häfner

Forschungsstelle für Psychotherapie

Christian-Belser-Str. 79a

D-70597 Stuttgart

Phone: (07 11) 67 81-405

Fax: (07 11) 6 87 69 02

Email: haefner@psyres-stuttgart.de

    >