Neben Arbeitsmigranten erster, zweiter, dritter und vierter Generation sind aus Osteuropa
stammende Aussiedlerpopulationen, Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylantragsteller und traumatisierte
Flüchtlinge sowie Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu nennen. Ende 2001 lebten insgesamt
7,3 Mio. Migranten in Deutschland. Dies entspricht einem Anteil von knapp 9 % an der
Gesamtbevölkerung. Von diesen stammt jeder vierte Migrant aus einem Mitgliedsland
der Europäischen Union [1]. Der Begriff Migrant meint in diesem Kontext Menschen, die nach Deutschland zugewandert
sind, oder direkte Nachkommen dieser Zuwanderer, die in der Regel den gleichen kulturellen
Hintergrund tradiert bekommen. Zu nennen sind hier u.a. türkeistämmige Zuwanderer
in dritter Generation. Das heißt auch, dass nicht alle Migranten im Besitz einer ausländischen
Nationalität sind wie z.B. eingebürgerte Arbeitsmigranten oder deutschstämmige Übersiedler.
Kurzgefasst sind Migranten Menschen mit Migrationshintergrund.
Migrationsprozess
Migrationsprozess
Fast alle o. g. Menschen durchlaufen den Migrationsprozess, den Sluzki [14] in einem Modell, das einen relativ hohen Grad an kulturübergreifender Validität
besitzt, darstellt. Dabei unterteilt Sluzki den Migrationsprozess in:
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die Vorbereitungsphase
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den Migrationsakt
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die Phase der Überkompensierung
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die Phase der Dekompensation
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die Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse.
Nach diesem Modell wenden sich Menschen mit Migrationshintergrund insbesondere in
der Phase der Dekompensation, oft zu spät, gelegentlich gar nicht an die Einrichtungen
des Gesundheits- bzw. Versorgungssystems.
Welchen Stressfaktoren sind Migranten ausgesetzt?
Welchen Stressfaktoren sind Migranten ausgesetzt?
Zu den Belastungsfaktoren bzw. psychosozialen Stressoren, die eben zu dieser Dekompensation
führen können, zählen u.a.:
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aufenthaltsrechtliche und arbeitsrechtliche Belastungen
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wenig planbare Zukunftsperspektiven
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Erleben von Ausgegrenztsein
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Bevormundung, Ablehnung und fehlende Wertschätzung durch die Mehrheitsbevölkerung
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Trennungserfahrungen und Verlustgefühle, Heimweh
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Auflösung von Familienverbänden, Vereinsamung, Isolation, Rollenverlust und -diffusion
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schlechtere Qualifikation in Schule und Beruf
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Arbeitslosigkeit, geringe Anteilnahme am Arbeitsleben, Armut
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ungünstige Wohn- und Arbeitsbedingungen
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schlechtere gesundheitliche Versorgung
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geringe Anteilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen der Mehrheitsbevölkerung
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Versagens- und Insuffizienzgefühle
-
Kommunikationsschwierigkeiten.
Diese Faktoren können krankmachend wirken und/oder umgekehrt die Genesung verzögern.
Sie sind jedoch nicht per se als Krankheitsursache einzustufen.
Brucks berichtet, dass gerade im Bereich der Prävention, Gesundheitsaufklärung und
Gesundheitsbildung eine Unterversorgung besteht. Im Bereich nicht indizierter Medikamente
dagegen besteht eine Überversorgung [2]. Insgesamt werden durch zu hohe Zugangsbarrieren chronische Patientenkarrieren gefördert.
Folge können eine erlernte Hilflosigkeit sein [2].
Als Gründe für die mangelnde Inanspruchnahme dieser Systeme können genannt werden
u.a.:
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Informationsmangel, unzureichende Kenntnisse über die Strukturen des Gesundheitssystems
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fehlende bzw. unzureichende interkulturelle Verständigungsmöglichkeiten
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Stigmatisierung, Scham, Diskriminierungserfahrungen
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Finanzierungsunsicherheit
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Qualifikations- und Kompetenzmängel bei den Mitarbeitern der psychiatrisch - psychosozialen
Versorgungssysteme
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Defizite in der Gesundheitsaufklärung.
-
e von uns in der Institutsambulanz des Niedersächsischen Landeskrankenhauses in Hildesheim
seit 1996 häufig beobachteten psychiatrischen Krankheitsbilder bei Migranten sind
aus dem Spektrum der
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Affektiven Störungen (F30-F39)
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Neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen (F40-F48)
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Psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19)
-
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69) [12]
[13].
Kulturelle Besonderheiten und psychische Erkrankungen:
Kulturelle Besonderheiten und psychische Erkrankungen:
Unterschiedliche kulturelle Besonderheiten können bereits beim Erstkontakt, bei dem
Begrüßungsritual, auffallen [9]. So z.B. in:
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Italien: Gestikulieren, laut sprechen, Stille ist peinlich; beim Treffen Händeschütteln,
Wangenkuss, Körperkontakt.
-
China: Man küsst sich nicht, auch ein Ehepaar küsst sich nicht vor anderen Leuten.
-
Vietnam: Kopfnicken, kein Körperkontakt [9].
Bei den eigentlichen psychiatrischen Krankheitsbildern sind die Symptome kulturübergreifend,
die Bedeutung der einzelnen Symptome und der Umgang mit ihnen ist jedoch kulturgebunden
[4]. Ein Beispiel stellt die religiöse Wahnvorstellung dar. Je nach religiöser Zugehörigkeit
kann sich der Patient als den dazu gehörigen Propheten Jesus, Mohammed, Buddha o.Ä.
wähnen.
Kasuistik 1
Kasuistik 1
Herr A. stammt aus der Türkei, aus Anatolien, ist der zweite Sohn von vier Geschwistern.
Die Familie lebte von der Landwirtschaft. Als er eingeschult wurde, ging zunächst
der Vater, kurze Zeit später auch die Mutter als Arbeitsmigranten nach Deutschland.
Einige Jahre später folgte er mit seinem Bruder den Eltern nach. In Deutschland schaffte
er mit Mühe und Not den Hauptschulabschluss. Er fand keine Lehrstelle, besuchte eine
Berufsvorbereitungsklasse und begann dort mit dem Konsum von verschiedenen Substanzen,
hauptsächlich jedoch Cannabis. Er fiel auf durch Rückzug, Isolation, ständiges Beten,
Rezitieren aus dem Koran, beschimpfte die Familie, dass sie nicht gläubig sei. Eines
Tages fing er in seinem Zimmer an herumzuschreien, zerschlug Gegenstände, redete,
schimpfte laut vor sich. Alle Hilfsangebote lehnte er ab. Auf der Grundlage des Nds.
PsychKG wurde er eingewiesen und behandelt. Es bestand bei ihm eine paranoid-halluzinatorische
Psychose, möglicherweise drogeninduziert.
Herr A. gab an, sich als Gesandten Allahs zu fühlen und durch seine Gebete ihm zu
huldigen. Später berichtete er, auch die Stimmen des Teufels gehört zu haben, mit
dem er gekämpft habe.
Ein anderes Beispiel verdeutlicht den kulturgebundenen Umgang mit Ehre und Scham.
In diesem Konzept sind namus und seref, Ehre und Scham, enthalten. Namus ist ein Begriff
für die sexuelle Integrität vor allem der Frauen. Die Familienehre wird durch die
Keuchheit und Enthaltsamkeit der weiblichen Familienmitglieder aufrechterhalten. Die
Familienehre, namus, hat einen wichtigen Platz im Leben dieser Menschen. In diesem
Zusammensein hat jeder die Pflicht, in Würde sich zu verhalten und die Ehre und damit
das Ansehen der Familie nicht zu verletzen [11]. Bei Verlust der Ehre z.B. durch sexuelle voreheliche Beziehung der Tochter können
Tragödien entstehen.
Kasuistik 2
Kasuistik 2
Frau B. ist kurdischer Abstammung, spricht gut türkisch. Sie stammt aus Südostanatolien
in der Türkei. Als jüngste Tochter von sechs Geschwistern mit drei Brüdern und zwei
Schwestern wuchs sie in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Das Dorf, in dem ihre Familie
lebte, habe sich genau in der Front zu den kurdischen Separatisten befunden. Sie habe
sehr viel Gewalt mitangesehen. Als der Vater getötet worden sei, seien die Geschwister
von dort auf unterschiedlichsten Wegen geflohen. Frau B. sei später von ihren Brüdern
nach Deutschland nachgeholt worden. Auf dem Wege nach Deutschland sei sie von verschiedenen
Männern vergewaltigt worden. In Deutschland habe sie einen Asylantrag gestellt. Hier
angekommen, sei sie nicht in der Lage gewesen, sich jemanden anzuvertrauen. Als Frau
B. 18 Jahre alt geworden sei, planten die Brüder, sie mit einem kurdischen Landsmann
zu verheiraten. Die Vorbereitungen begannen. Frau B. entwickelte Alpträume, Angst-
und Unruhezustände, Erregungsausbrüche, Ohnmachtsanfälle, Hyperventilationsanfälle.
Je näher der Hochzeitstermin kam, desto schlechter sei es Frau B. ergangen, bis sie
schließlich einen Suizidversuch mit Medikamenten unternahm. In einem Allgemeinkrankenhaus
wurde die Akutbehandlung durchgeführt und im Anschluss daran wurde sie in der Psychiatrie
bei uns vorgestellt.
Bereits im Erstgespräch schilderte sie unter Tränen, was ihr widerfahren war und was
sie zu erwarten hatte. Sie war durch die Vergewaltigungen keine Jungfrau mehr und
hatte panische Ängste vor der Hochzeitsnacht und der Schande, die sie damit ihrer
Familie bringen würde. Sie hatte Angst um ihre Zukunft und auch um ihr Leben. In ihrer
Heimat spiele namus und seref eine sehr große Rolle. Viele würden lieber sterben als
in Schande weiterleben.
Menschen aus dem mediterranen Raum erleben sich meist als Ganzes von der Krankheit
ergriffen. Sie machen häufig Angaben wie „alles kaputt” [3]
[4]
[7]
[10]. Sie können auch Organchiffren benutzen wie z.B. der Magen falle, die Leber zerfalle,
womit sinngemäß mitgeteilt wird „Ich halte es nicht mehr aus, die Belastung wird mir
zuviel” [3]
[10]. Diese Organchiffren können als Krankheitskonstrukte angesehen werden, indem einerseits
Belastung signalisiert wird, andererseits je nach körperlichem Symptom eine psychologische
Erklärung innerhalb der kulturellen Gruppe impliziert wird, die außerhalb dieses Kreises
in ihrer emotionalen Dimension nicht verstanden wird.
Eine ähnliche Symbolik lässt sich auch im z.B. türkisch-griechischen Kulturkreis finden.
Ein ausgeprägtes Engegefühl im Brustkorb (gr. stenochoria) beschreibt sowohl seelische
Belastung als auch Trauer. Das Wort nervös (gr. nerva) stellt eine somatisierte Ausdrucksform
von Angst und Depression dar [10]. Nicht nur unterschiedliche Krankheitsverständnisse und -konzepte, auch unterschiedliche
Vorstellungen in der Behandlung und vor allem im Umgang mit dem Kranken können zu
Missverständnissen, Unverständnissen, Befremden und Ablehnungen führen.
Zur Verdeutlichung soll auf Ausführungen von Peseschkian verwiesen werden [9]. In seiner transkulturellen Betrachtung zwischen Orient und Okzident beschreibt
er folgende Umgangsformen der Umgebung und Wahrnehmungen des Kranken. Orient: „Ist
hier jemand erkrankt, so wird das Bett ins Wohnzimmer gestellt. Der Kranke steht im
Mittelpunkt des Geschehens und wird von zahlreichen Familienmitgliedern, Verwandten
und Freunden besucht. Ein Ausbleiben der Besucher würde als Beleidigung und mangelnde
Anteilnahme aufgefasst.” Okzident: „Wenn jemand krank ist, möchte er seine Ruhe haben.
Er wird von wenigen Personen besucht. Besuche werden auch als soziale Kontrolle empfunden.”
Ein weiteres Beispiel stellt der Umgang mit dem Tod und der Trauer dar.
-
Im Orient besuchen 8 bis 40 Tage lang alle Verwandte, Freunde, Bekannte und andere
Mitmenschen die Hinterbliebenen und geben ihnen so das Gefühl der Geborgenheit. Geteiltes
Leid ist halbes Leid.
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Im Okzident ziehen sich die Betroffenen dagegen häufig zurück.
Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass mediterrane Patienten die Krankheit häufig
als etwas betrachten, das in den Körper eindringt und Besitz von ihm ergreift. Übernatürlich
orientierte Erklärungs- und Handlungsmuster sind bei ihnen nicht selten anzutreffen.
Magische Vorstellungen bilden Erklärungsmodelle für Störungen im Verhältnis zu den
Mitmenschen [10]. So können z.B. Böser Blick, Verzauberung, Besessenheit, Verwünschung mit dem Gefühl
der Bedrohung einhergehen. Zudem können sie die Unfähigkeit aufzeigen, sich gegen
andere abzugrenzen.
Das Tragen von blauem Auge bzw. blauem Stein (tr.: nazarboncugu) oder Amuletten sind
Versuche, den Bösen Blick, die Verzauberung oder die Verwünschung aufzulösen, abzuwenden
oder vorzubeugen [10].
Während die moderne westliche Medizin eine Trennung von Psyche und Soma praktiziert,
existiert hier ein ganzheitliches Krankheitskonzept. Die körperlich-seelische Unbehaglichkeit
äußert sich in ganzheitlicher Befindlichkeitsstörung. Bei einem soziokulturell-ganzheitlichem
Krankheitsgefühl fällt es schwer, klar abgrenzbare Symptome anzugeben. Es werden daher
häufig allgemeine Umschreibungen wie Erschöpfungs- und Verstimmungszustände, Insuffizienzgefühle
oder Schmerzzustände vorgetragen [15].
Durch diese Erläuterungen sollen die Komplexität und die kulturelle Vielfalt in der
Gesellschaft, in der wir uns befinden, vor Augen geführt werden. Vor diesem Hintergrund
stellt sich nun die Frage, sind die psychiatrischen Regeldienste auf diese multikulturelle
Realität eingestellt und vorbereitet?
Wie könnte die interkulturelle Versorgung umgesetzt werden?
Wie könnte die interkulturelle Versorgung umgesetzt werden?
Im interkulturellen Beratungs- und Behandlungsprozess sollte aus genannten Gründen
in jedem Fall die Kommunikation möglich sein. Darüber hinaus sollten Kenntnisse über
kulturelle, religiöse und soziale Hintergründe und auch der verbalen und nonverbalen
Sprache mit ihren semantischen und sinnbildlichen Eigenschaften als Grundlagen verfügbar
sein [15]. Es ist bekannt, dass Sprache die Befindlichkeit zum Ausdruck bringt und Träger
von Emotionen und Identität darstellt. Die Sprache ist verbunden mit Selbstwertgefühl
und Selbstbewusstsein [4]
[15].
Der Einsatz von professionellen Übersetzern als Vermittler von Sprache und Kultur
kann somit die interkulturelle Kommunikation ermöglichen [15].
Vor dem Einsatz von sog. „Zufallsdolmetschern” wie Rückgriff auf Kinder, Partner,
Reinigungskräfte sei gewarnt, da er erhebliche Fehlerquellen verbirgt und zu Überforderungen
führen kann.
Neben dem routinemäßig zu fordernden Einsatz von Sprach- und Kulturvermittlern, wenn
„Sprachlosigkeit” vorliegt, sollten bei allen Mitarbeitern der psychiatrischen Versorgungssysteme
interkulturelle Kompetenz bestehen.
Diese beinhaltet, dass zunächst einmal die Mitarbeiter bereit sind, die eigene Person
und Position zu reflektieren, sich insbesondere klar darüber zu werden, dass sie selbst
nicht losgelöst von kulturellem Kontext sind. Sie sollten über die Bereitschaft verfügen,
sich Kenntnisse über soziokulturelle Hintergründe von Patientinnen und Patienten,
mit denen sie in eine therapeutische Beziehung eintreten, anzueignen. Es kommt in
diesem Zusammenhang darauf an, dieses Wissen bzw. diese Kenntnisse zu reflektieren,
um nicht in stereotypen Annahmen zu verbleiben [5]
[6].
Dabei kann auch sehr hilfreich sein, die Betroffenen und/oder seine Familie als „Fachleute”
für die jeweilige Kultur direkt anzusprechen und u.a. zu fragen, wie die jeweils vorliegenden
Symptome, Beschwerden, Reaktionen oder Phänomene im eigenen kulturellen Kontext verstanden
bzw. gewertet werden, was es im jeweiligen Kontext bedeutet, dieses Problem zu haben,
und ob der Betroffene und/oder sein Umfeld Konsequenzen zu befürchten haben. Dabei
kann es sich schwierig gestalten, kulturelle Aspekte sowie Informationen angemessen,
ohne Über- oder Unterbewertung oder gar Verleugnung, einzuordnen.
Eine weitere Möglichkeit zur Integration von Migranten stellt auch die Einstellung
von muttersprachlichen Mitarbeitern dar. Die Schwelle der Inanspruchnahme von Einrichtungen
sinkt, wenn ein Migrant dort beschäftigt ist, unabhängig von der Herkunft [12].
Schlussfolgerung
Schlussfolgerung
Obwohl die Migration in der heutigen Gesellschaft einen dauerhaften und zunehmenden
Prozess darstellt und nie abgeschlossen sein wird, ist die Integration der Migranten
in das bestehende psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungssystem nach wie vor
defizitär. Diese Integration muss politisch gewollt, finanziert und entsprechend auch
durchgesetzt werden.
Dabei geht es um die Ergänzung von migrationsspezifischen Strukturen in die bereits
bestehende Einrichtungen der Versorgungsdienste, und nicht um ihre Neuschaffung. Insellösungen,
wie sie bislang anzutreffen sind, können nur eine Übergangslösung darstellen [12].