Psychiatr Prax 2004; 31(2): 78-82
DOI: 10.1055/s-2003-814800
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das ursprüngliche Paradigma der Abhängigkeit - historische und kulturelle Aspekte

The Original Paradigm of Dependence - Historical and Cultural AspectsJann  Schlimme1 , Hinderk  M.  Emrich1
  • 1Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover
Further Information

Publication History

Publication Date:
25 February 2004 (online)

Zusammenfassung

Im Kontext der Aufklärung im 18. Jahrhundert zeigte sich wiederholte Trunkenheit - entsprechend dem Selbstverständnis des Menschen als unabhängiges und vernünftig-geistiges Wesen - als Widerspruch einer gesunden und rationalen Lebensführung. Wiederholte Trunkenheit wurde nicht mehr als bewusste Entscheidung oder als Laster verstanden. Zentraler Punkt des neuen Paradigmas der Abhängigkeit war die spezifische chronische chemische Traumatisierung, durch welche ein spezieller Trieb installiert werde. Zugleich aber erforderte das ursprüngliche Paradigma der Abhängigkeit die Anerkennung einer prinzipiellen Tiefenstrukturierung des Menschen und ist so auch als unspezifisches Konzept zu verstehen. Damit zeigte sich der Mensch als Zwitterwesen wie im Menschenbild der Moderne formuliert: auf der einen Seite sein Verstand und sein Bewusstsein, auf der anderen Seite sein Unbewusstes, sein Körper und seine Umwelt.

Abstract

Repeated drunkenness became a contradiction in terms of a healthy and rational life style in the context of the Enlightenment in the 18th century. Corresponding to the self-referential understanding of man as an independent and rational being repeated drunkenness could not longer be understood as a conscious decision or a vice. The central point of the new paradigm of dependence was the installation of a special urge by a specific chronic chemical traumatization. But this original paradigm also required the acceptance of the human individual as a depth-structured being and shows influence by the Brownianism, therefore it is also an unspecific concept. This understanding corresponds with the modern anthropology, in which the human being is understood two-fold: on the one hand his consciousness and mind, on the other hand his unconsciousness, body and world around.

Literatur

  • 1 Flasch K. Augustin. Stuttgart; Reclam 1994
  • 2 Augustinus A. Bekenntnisse. Stuttgart; Reclam 1993
  • 3 Anonyme Alkoholiker .Anonyme Alkoholiker. Ein Bericht über die Genesung alkoholkranker Männer und Frauen (1939). 1981
  • 4 Schlimme J. Sucht. Zur philosophischen Anthropologie eines „misslingenden” Selbst. Würzburg; Königshausen & Neumann 2000
  • 5 Hänninen V, Koski-Jännes A. Narratives of recovery from addictive behaviours.  Addiction. 1999;  84 1837-1848
  • 6 Baruzzi A. Die Zukunft der Freiheit. Darmstadt; Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993
  • 7 Spode H. Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Opladen; Leske + Budrich 1993
  • 8 Wiesemann C. Die heimliche Krankheit. Eine Geschichte des Suchtbegriffs. Stuttgart; frommann-holzboog 2000
  • 9 Bontekoe C. Kurze Abhandlung von dem Menschlichen Leben/Gesundheit/Kranckheit und Tod/In drey unterschiedenen Theilen verfasset. In Verlegung Friedrich Arnsts,1685. 
  • 10 Kant I. Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe Bd. VII. Frankfurt/Main; Suhrkamp 1974
  • 11 Emrich H M. Identität als Prozess. München; NG Kopierladen 1999
  • 12 Ellenberger H F. Die Entdeckung des Unbewussten. Zürich; Diogenes 1996
  • 13 Kupfer A. Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Stuttgart, Weimar; Metzler 1996
  • 14 Hufeland C W. Ueber die Vergiftung durch Branntwein. Berlin; 1802
  • 15 Trotter T. Ueber die Trunkenheit und deren Einfluss auf den menschlichen Körper. Eine philosophische, medicinische und chemische Abhandlung. Lemgo; Memersche Hofbuchhandlung 1821
  • 16 Brühl-Cramer C von. Ueber die Trunksucht und eine rationelle Heilmethode derselben. Berlin; Nicolaische Buchhandlung 1819
  • 17 Kielhorn F-W. Die Trunksucht als Krankheit (C. v. Brühl-Cramer).  Nervenarzt. 1990;  61 431-434
  • 18 Hoffbauer J C. Psychologische Anmerkungen zu: Trotter über die Trunkenheit. In: Hoffbauer JC (Hrsg) Trotter T. Ueber die Trunkenheit und deren Einfluss auf den menschlichen Körper. Lemgo; Memersche Hofbuchhandlung 1821
  • 19 Scheler M. Die Stellung des Menschen im Kosmos. 14. unveränd. Aufl. Bonn; Bouvier 1998
  • 20 Saß H, Wiegand C. Exzessives Glücksspielen als Krankheit?.  Nervenarzt. 1990;  61 435-437
  • 21 Kruse G, Körkel J, Schmalz U. Alkoholabhängigkeit erkennen und behandeln. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2000
  • 22 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. 9. unveränd. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1973
  • 23 Gebsattel V E von. Zur Psychopathologie der Sucht. In: Gebsattel VE von (Hrsg) Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Berlin, Göttingen, Heidelberg; Springer 1954: 220-233
  • 24 Welsch W. Unsere postmoderne Moderne. 3. Aufl. Weinheim; VCH 1993
  • 25 Wurmser L. Die verborgene Dimension. Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht 1997

Dr. med. Jann Schlimme

Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie · Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Email: Schlimme.Jann@mh-hannover.de

    >