ZFA (Stuttgart) 2003; 79(12): 618-619
DOI: 10.1055/s-2003-816023
Versorgungssystem

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schwachstellen des Versorgungssystems - Kommentar zu dem Artikel von H. Ehrenreich und H. Krampe

Heinz-Harald Abholz
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 January 2004 (online)

Die Autoren haben ein ganz offensichtlich erfolgreiches Programm zur intensiven Behandlung alkoholabhängiger Patienten entwickelt und in einer ungewöhnlich langen Nachverfolgungszeit von 7 Jahren auch nachgewiesen, dass rund die Hälfte abstinent noch ist. Eine Erfolgsgeschichte. Danach aber sollte diese »Erfolgsgeschichte« in die Versorgungsrealität übersetzt werden. Dabei ist man an die Grenzen unseres Gesundheitssystems im Umgang mit neuen Behandlungsmethoden in mehrfacher Weise gestoßen; dies macht den »Fall ALITA« so traurig interessant.

Wie kann ein neues Verfahren Eingang in unser ambulantes Versorgungssystem finden? Hierfür ist in Deutschland, wie in jedem anderen Land, ein formalisierter Weg vorgegeben. Er ist aber in Deutschland mit seinem System des Aushandelns zwischen einerseits Krankenkassen und andererseits Ärzteschaft (hier KV) spezifisch: All das, was ein neues Verfahren darstellt, muss vom Arbeitsausschuss »Ärztliche Behandlung« geprüft und genehmigt werden. In diesem Ausschuss sitzen Ärzte und Krankenkassen paritätisch. Dieser Ausschuss hat unter Hinzuziehung von Experten und Gutachtern die Anträge zur Neuaufnahme zu bearbeiten.

Damit die Arbeit dieser »Zulassungs-Instanz« nicht durch eine unendliche Zahl von Anträgen aller möglichen Individuen und Institutionen blockiert wird (denn es lässt sich vorstellen, dass jeder, der von etwas überzeugt ist oder mit etwas Geld verdienen will, hier Anträge stellen würde), ist eine Hürde gesetzlich eingebaut: Diese Anträge müssen über eine Krankenkasse oder eine KV eingebracht werden. Das heißt diejenigen, die eine neue Methode, eine neue Behandlung in die kassenärztliche Versorgung einführen wollen, müssen eine Krankenkasse oder eine KV im Vorfeld davon überzeugen, dass diese diesen Antrag beim Arbeitsausschuss Ärztliche Behandlung übernimmt. Hier ist der Antrag von ALITA gescheitert - wahrscheinlich auch schon deswegen, weil die Rahmenbedingungen, die zum Stellen eines Antrags vorgegeben sind, nicht erfüllt wurden.

Der Arbeitsauschuss »Ärztliche Behandlung« kann nämlich nur über Dinge beschließen, die in die Routineversorgung übernehmbar sind, das heißt für die ein Nutzennachweis und eine Machbarkeit in der Routineversorgung gegeben sind. Da die Autoren und Betreiber von ALITA jedoch als Wissenschaftler kritisch selbst fragen, ob die bei ihnen so erfolgreich durchgeführte Methode in der Breite der Versorgung wirklich übersetzbare Ergebnisse erbringt, schlagen sie ja gerade nicht die »unkontrollierte« Übernahme in die Routineversorgung, sondern eine »auf Widerruf« vor: Dabei soll geprüft werden, ob mittels Qualitätssicherung und laufender Evaluation im Rahmen eines Franchise-Systemes in der Breite der Versorgung ähnlich gute Erfolge auch wirklich erzielbar sind.

Damit benennen sie aber das Problem, was den Arbeitsausschuss auch dazu hat bringen müssen - so steht zu vermuten -, die Übernahme in die Routineversorgung abzulehnen. Das deutsche System kennt in der Tat nur »nicht geeignet« und »geeignet« - jeweils in Bezug auf die Routineversorgung. Müssen Dinge - und dies dürfte weitaus häufiger als wir ahnen der Fall sein - bzgl. ihrer Qualität und ihres Nutzens in der Breite noch erprobt und möglicherweise modifiziert werden, so hat das deutsche System nur die Möglichkeit der Erprobungsregelung.

Hierbei aber muss sich eine Krankenkasse dazu bereit erklären, Interesse haben, eine Behandlung, ein Versorgungsmodell in einer Machbarkeitsstudie zu finanzieren, um es so zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren. Die momentan laufende Akupunkturbehandlung bei Rückenschmerzen etc., das Mammographie-Screening sind derartige Beispiele für Erprobungsregelungen.

Wenn aber keine Krankenkasse Interesse an der Erprobung eines Behandlungsprinzipes hat, stockt hier die Möglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Prüfung der Machbarkeit an sich erfolgreicher Behandlung oder Behandlungsprinzipien. Hier steckt ganz offensichtlich ALITA fest.

Nicht zuletzt dürfte dies auch etwas mit der zunehmenden Konkurrenz der Kassen um die Versicherten zu tun haben; eine Konkurrenz, die den Krankenkassen über den Gesetzgeber verordnet wurde. Erprobungsregelungen werden von den Krankenkassen gern dann finanziert - und somit überhaupt durchgeführt -, wenn damit eine bestimmte Klientel gewinnbar erscheint. Nur welche Krankenkasse kann ernsthaft an schwerkranken Alkoholikern Interesse haben und möchte sich hierüber in Bezug auf dahinter steckendes Mitgliederpotenzial profilieren? Die Krankenkassen sind vielmehr in Konkurrenz um die »guten Risiken«, nicht um die schlechten. ALITA steckt auch hier fest.

Und schließlich eine dritte, dem deutschen System immanente Hürde konnte ALITA nicht nehmen: Die Trennung zwischen Leistung der Krankenkassen und der Rentenversicherungsträger. Betrachtet man das Programm, so ist ALITA in der Schnittstelle von Zuständigkeiten dieser getrennt operierenden und unterschiedlich finanzierten Institutionen angesiedelt. Jede Institution ist dann schnell dabei, der jeweiligen anderen die finanzielle Verantwortung für Geldforderungen - hier Kostenübernahme - zuzuweisen. Wir kennen dies aus vielen Verfahren am einzelnen Patienten. Das gleiche funktioniert aber auch bei ganzen Behandlungsverfahren, für die keine Seite die Kosten gerne übernimmt. Auch hieran musste ALITA scheitern.

ALITA ist somit zu einem Kristallisationspunkt geworden, Schwächen des deutschen Gesundheitssystems in Bezug auf die Einführung neuer Behandlungsmethoden an 3 bis 4 wichtigen »Bruchstellen« des Systems - ungewollt - aufzuweisen. Wir können davon ausgehen, dass es mehrere solche Fälle wie ALITA gibt, nur geben viele Autoren in diesem hoffnungslosen Kampf wortlos auf.

Damit kein Missverständnis auftaucht: Es muss - wie in allen zivilisierten Ländern - eine Zulassung von ärztlichen Behandlungsverfahren geben, dazu müssen Verfahren in Bezug auf Nutzen, Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit sowie Gewährleistung von Qualität geprüft werden. Wenn man dafür ein System hat, dann müssen sich die Verantwortlichen des Systems darüber Gedanken machen, ob dieses System auch adäquat funktioniert. Insofern ist die »Falldarstellung« von ALITA ein Lehrstück für die in der Politik Verantwortlichen.

Sicherlich sind ideale Lösungen, also solche, die nicht dann wieder andere deutliche Nachteile haben, für die an den geschilderten Bruchstellen auftretenden Probleme nicht leicht zu finden. Nur muss Politik ja auch eine Aufgabe haben; und eine solche hat sie hier.

Heinz-Harald Abholz

    >