PPH 2004; 10(2): 61-62
DOI: 10.1055/s-2004-813097
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

S. Schoppmann
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Publication Date:
27 April 2004 (online)

Im Editorial des letzten Heftes stellte Frau Seidenstricker fest, dass unsere Ansprüche an und unser Vorgehen in der Pflege psychisch kranker Menschen kaum noch mit der Realität der stetig weiter sinkenden Verweildauern in psychiatrischen Akutkrankenhäusern in Einklang zu bringen sind. Damit hat sie vielen Kolleginnen direkt aus dem Herzen gesprochen.

Allerdings bleibt Frau Seidenstricker nicht bei dieser Feststellung stehen, sondern denkt in diesem Editorial sozusagen laut darüber nach, was in der psychiatrischen Pflege überprüft, verändert oder neu entwickelt werden muss, um den Herausforderungen dieser schwierigen, weil finanzschwachen Zeiten zu begegnen. In ihren Überlegungen, wie dies anzustellen sei, kommt sie immer wieder an den Punkt Differenzierung: Weniger Gruppenarbeit mehr an den Bedürfnissen des Einzelnen orientieren, unterscheiden, an wen sich die psychiatrische Pflege richtet (chronisch oder akut erkrankte Menschen), und unterscheiden, wo sie stattfindet (stationär oder ambulant).

Diese Unterscheidungen sprechen für ein stärker zielorientiertes Handeln in der psychiatrischen Pflege.

Wenn wir weniger Zeit für die Behandlung und Pflege von akut psychisch kranken Menschen haben, können wir nicht mehr abwarten, bis die so genannten unspezifischen Wirkfaktoren der Psychotherapie, wie Verständnis, Respekt, Anerkennung, Ermutigung, Fürsorge, Empathie etc., alles Dinge, die auch in der psychiatrischen Pflege von Bedeutung sind und ihre Wirkung entfalten [1], zum gewünschten Erfolg führen. Wollen wir die verkürzten Verweildauern ohne Qualitätseinbußen nutzen, dann müssen wir unsere Handlungen spezifischer ausrichten.

Ich will dies am Beispiel der Erkrankung der Schizophrenie verdeutlichen. Alle psychiatrisch Pflegenden wissen, dass es in der Behandlung der Schizophrenie zwei Hauptstränge gibt: einerseits die neuroleptische, also medikamentöse Behandlung und andererseits die Psychoedukation, die u. a. dazu dient, erneute Krankheitsphasen frühzeitig erkennen und behandeln zu können. Vielerorts sind an den psychoedukativen Angeboten auch Pflegende beteiligt [3]. Auch im Zusammenhang mit der neuroleptischen Medikation übernehmen Pflegende vielfältige Aufgaben wie das Verabreichen der Medikation und/oder die Beobachtung der Wirkungen und Nebenwirkungen dieser Medikamente.

Ich gehe davon aus, dass alle oder zumindest die allermeisten psychiatrisch Pflegenden wissen, wie häufig das Auftreten unangenehmer Nebenwirkungen dazu führt, dass Patienten diese Medikamente nur zögerlich oder gar nicht mehr einnehmen, was wiederum häufig genug Ursache einer erneuten Krankheitsphase ist [2]. Trotzdem werden Nebenwirkungen von neuroleptischen Medikamenten von Pflegenden nur unspezifisch erfasst, d. h. Nebenwirkungen werden nicht systematisch erhoben und typischerweise wurden den Ausführungen einer neuseeländischen Studie zufolge, die sich mit der Erfassung von Nebenwirkungen beschäftigt hat, nur drei bis vier Nebenwirkungen pro Patient von den Pflegenden beschrieben [4]. Vermutlich stellte sich dieser Sachverhalt in unseren Breitengraden so ähnlich dar, wenn er denn untersucht würde. Nach meiner Auffassung ist dies auf mangelndes Wissen über geeignete Assessmentinstrumente zurückzuführen. Würden Pflegende die Nebenwirkungen systematisch erfassen, so hätten sie bereits während des Assessments Gelegenheit, mit den betroffenen Patienten darüber ins Gespräch zu kommen und gemeinsam nach praktikablen Lösungen zu suchen.

Ähnliches gilt auch für den Bereich der Psychoedukation. Diese wird häufig in Form von Gruppen angeboten, die je nach Einrichtung verschiedene Bestandteile wie Informationen über die Erkrankung, die Diagnostik, die Behandlungsmöglichkeiten, das Erkennen von Frühwarnzeichen u. Ä. enthält. Eine niederländische Untersuchung, die sich mit der Anwendung von Symptomerkennungsplänen (symptom recognition plans) beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass diese dann am effektivsten genutzt werden, wenn sie individuell maßgeschneidert für jeden Patienten erstellt werden [5]. Symptomerkennungspläne beinhalten Angaben über Frühwarnzeichen und entsprechend durchzuführende psychosoziale und/oder medikamentöse Interventionen und sind sowohl den Patienten als auch deren Angehörigen sowie den an der Behandlung beteiligten professionellen Helfern zugänglich.

Diese Erkenntnis muss nicht unbedingt im Widerspruch zum Gruppenangebot Psychoedukation stehen, sie zeigt aber deutlich, dass Information alleine nicht ausreicht, sondern dass Patienten und Angehörige individuelle und maßgeschneiderte Unterstützung brauchen in der praktischen Umsetzung dieser Information in ihr Alltagsleben.

Pflegerische Handlungen spezifischer auszurichten, bedeutet in diesem Zusammenhang also einerseits, den Einzelnen mit seinen Bedürfnissen zum Ausgangspunkt des Handelns zu machen, aber andererseits auch, dies in systematisierter Form zu tun. Dazu braucht man neben dem guten Willen und der immer noch notwendigen Beziehung zu den Patienten auch jede Menge an Wissen.

Wissen erwirbt man sich unter anderem dadurch, dass man hin und wieder über den eigenen Tellerrand hinaus z. B. ins Ausland schaut, und durch die Lektüre von Fachzeitschriften. Wir sind bemüht, Sie dabei zu unterstützen, indem wir einerseits immer wieder Übersetzungen englischsprachiger Artikel publizieren und indem Sie auch in dieser Ausgabe wieder spannende Berichte zu aktuellen psychiatrischen Pflegethemen finden.

Literatur

  • 1 Bauer R. Eine dialektische Betrachtung der psychotherapeutischen Wirksamkeit pflegerischer Interventionen. Teil 2.  Pflege. 1999;  12 5-10
  • 2 Gray R, Wykes T, Gournay K. From Compliance to concordance: a review of the literature on interventions to enhance Compliance with antipsychotic medication.  Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing. 2002;  9 277-284
  • 3 Mayer M. Projekt „Psychoedukation”.  Psych Pflege Heute. 2001;  7 338-342
  • 4 Morrison P, Gaskill D, Meehan T. et al . The use of the Liverpool University neuroleptic side-effect rating scale (LUNSERS) in clinical practice.  Australian and New Zealand Journal of Mental Health Nursing. 2000;  9 166-176
  • 5 Van Meijel B, Van der Gaag M, Kahn R S. et al . The practice of early recognition and early intervention to prevent psychotic relapse in patients with schizophrenia: an exploratory study. Part 2.  Journal of Mental Health Nursing. 2002;  9 357-363
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