Der jährlich erscheinende Arzneiverordnungsreport gibt auch in diesem Jahr wichtige
und spannende Informationen über das Verordnungsverhalten der niedergelassenen Ärzteschaft,
jetzt erstmals über die 3000 meistverordneten Präparate, das sind 94 % aller Verordnungen.
Die Ausgaben der GKV für Arzneimittel sind 2002 gegen 2001 um 6,7 % auf 22,7 Mrd.
Euro (17 % der GKV-Ausgaben und damit weitgehend den Ausgaben für ärztliche Behandlung
entsprechend) gestiegen. Dazu tragen die Psychopharmaka (denen hier - abweichend vom
Report - nicht nur Neuroleptika, Lithium, Antidepressiva und Anxiolytika zugeordnet
werden, sondern auch Hypnotika und Antidementiva) 1,7 Mrd. Euro (7,3 %) bei. Das Einsparpotential,
das durch verstärkte Bevorzugung von Generika, Verzicht auf die Verordnung von sog.
Analogpräparaten („me-too-Präparate”) und Verzicht auf „umstrittene” Arzneimittel,
schätzt der Report diesmal auf 4,1 Mrd. Euro, also fast 18 % der Ausgaben für die
ambulante Arzneimitteltherapie zu Lasten der GKV.
Neue Neuropsychopharmaka
Unter den 28 im Jahre 2002 neu zugelassenen Wirkstoffen („Fricke Liste”) finden sich
drei Neuropsychopharmaka: Eletriptan (Relpax®), Frovatriptan (Allegro®) und Ziprasidon
(Zeldox®).
Eletriptan ist das sechste Pharmakon aus der Gruppe der Triptane (Serotonin-1B/1D-Agonisten)
zur Behandlung des akuten Migräneanfalls. Eletriptan wird im Report der Bewertungsgruppe
C („Analogpräparat mit keinen oder nur marginalen Unterschieden zu bereits eingeführten
Präparaten”) zugeordnet und dennoch als therapeutische Alternative empfohlen (!),
da es dank längerer Halbwertszeit (4-5 h) nach 24 h höhere Erfolgsraten bei gegenüber
Konkurrenten günstigen Kosten erziele. Auch Frovatriptan, das siebte Triptan, wird
im Report der Bewertungsgruppe C zugeordnet und dennoch als therapeutische Alternative
empfohlen (!), i.w. weil es im Vergleich zu anderen Triptanen zu deutlich geringerem
Preis angeboten wird. Mit diesen - willkommenen - Empfehlungen stellt der Arzneiverordnungsreport
sein scheinbar so einfaches Konzept der Analogpräparate, die immer wieder als verzichtbar
deklariert werden und auf die der Verordner verzichten solle (um 1,5 Mrd. Euro einzusparen),
selbst in Frage.
Das atypische Neuroleptikum Ziprasidon ordnet der Report der Bewertungsgruppe C zu
und deklariert es als therapeutisch nicht empfehlenswert, weil keine therapeutischen
Vorteile zu erkennen seien. Tatsächlich verlängert Ziprasidon das QT-Intervall bei
aber vergleichbarer extrapyramidalmotorischer Verträglichkeit wie z.B. Olanzapin.
Mit suggestiver Absicht der Abschreckung werden die Inzidenzen plötzlicher Todesfälle
angegeben; diese Inzidenzen bedürfen sorgfältiger Analysen, auf die der Report verzichtet.
Die Zulassungsbehörden haben sie analysiert - und Ziprasidon mit der Zulassung ein
ausgewogenes Nutzen-Risiko-Verhältnis attestiert. Zweifellos sind die Kontraindikationen
(u.a. Interaktionen) und entsprechende Kontrolluntersuchungen zu beachten.
Qualität der Versorgung und Einsparpotentiale
Die Qualität der Versorgung ist im Verordnungsreport 2003 - im Gegensatz zum Vorjahr
- kein explizites Thema. Immer noch wenig pharmakologisch und sehr ökonomisch motiviert
sind die Vorschläge zur Substitution im Bereich der sog. Analogpräparate bei den Antidepressiva.
Unverändert können die Substitutionsvorschläge auch lebensbedrohliche Folgen zeitigen:
Citalopram und Sertralin durch Fluoxetin substituieren zu wollen, ignoriert das dem
Fluoxetin eigene Interaktionspotential. Warum innerhalb der Gruppe der selektiv-serotonergen
Antidepressiva (SSRI) - wenn man schon substituieren soll - Fluoxetin dem Fluvoxamin
vorgezogen werden soll, nur weil Fluvoxamin nicht zu den 3000 verordnungshäufigsten
Präparaten gehört, will nicht recht einleuchten. Immerhin wird auch Citalopram, das
günstige pharmakokinetische Eigenschaften einschließlich eines geringen pharmakokinetischen
Aktionspotentials aufweist, als Substituent anderer SSRI diskutiert (und voraussichtlich
im Report 2004 vorgeschlagen, nachdem inzwischen zahlreiche Generika verfügbar sind).
Die gegenüber dem Vorjahr unveränderte Empfehlung, innerhalb der Gruppe der trizyklischen
Antidepressiva Opipramol und Nortriptylin durch Amitriptylin zu substituieren, kann
z.B. Stürze mit Schenkelhalsfrakturen und Verkehrsunfälle nach sich ziehen. International
ist die am häufigsten eingesetzte Referenzsubstanz nicht - wie der Report suggeriert
- Amitriptylin, sondern Imipramin. Die Übersichtsarbeit von Barbui & Hotopf (2001)
zitiert der Report suggestiv unvollständig mit der Behauptung, Amitriptylin sei wirksamer
als andere trizyklische Antidepressiva: Die „number needed to benefit” (NNTB) lag
dabei bei 42 (im Vergleich zu ca. 5 gegenüber Plazebo), kann also kaum klinisch relevant
sein.
Noch 2002 hatte der Arzneiverordnungsreport anerkannt, dass nur 22 % der Kranken mit
leichter bis mittelschwerer Demenz mit Cholinesterasehemmern oder dem Glutamat-Antagonisten
Memantin behandelt werden, wobei die Behandlung der übrigen fast 80 % mit Nootropika
als Fehlversorgung bezeichnet wurde. Die notwendigen Mehrkosten einer Substitution
durch Cholinesterasehemmer oder Memantin wurden mit 160 Mio. Euro beziffert. Damit
ging der Arzneiverordnungsreport 2002 implizit davon aus, dass alle Alzheimer-Patienten
mit diesen Arzneimitteln behandelt werden sollten. Der Arzneiverordnungsreport 2003
distanziert sich hiervon krass, indem nun „Cholinesterasehemmer im Einzelfall zur
symptomatischen Progressionsverzögerung in Betracht gezogen werden können, wenn die
entsprechenden diagnostischen Voraussetzungen erfüllt sind”. Gibt es Krankheiten,
gegen die man ohne Diagnose ein Medikament verordnen kann? Bedeutsamer: Die „Kehrtwende”
knüpft wieder an der traditionellen Argumentation der fraglichen klinischen Relevanz
der Nootropika im historischen Sinne an. Auch für diese wäre sie nur dann gültig,
wenn modernen methodischen Anforderungen genügende Studien vorlägen. Die neuen Studien
zu Memantin ignoriert der Report an dieser Stelle vollkommen. Fast unlauter ist die
suggestive Generalisierung von Donepezil auf die beiden anderen Cholinesterasehemmer
(Rivastigmin und Galantamin) und zitiert die Plazebo-kontrollierte Einjahresstudie
von Winblad et al. (2001) unvollständig, indem nur das marginale Verfehlen der Signifikanz
(p=0,054) eines Outcome-Maßes (Globalbeurteilung mit der Gottfries-Brane-Stehen-Scale)
genannt wird, nicht aber die signifikante Plazebo-Überlegenheit bei den anderen Maßen
(Mini-Mental State Examination: p<0,02 und Progressive Deterioration Scale: p<0,05).
Generika
Inzwischen haben Generika im Gesamtmarkt einen Verordnungsanteil von 52,2 %, wobei
der Umsatzanteil (29,9 %) seit 1995 leicht rückläufig ist. Im generikafähigen Markt
ist der Verordnungsanteil der Generika weiter auf inzwischen 75,3 % und einen Umsatzanteil
von 68,3 % gestiegen. Wie hoch der Generika-Anteil im Generika-fähigen Antidepressiva-
und Neuroleptika-Markt ist, lässt sich dem Arzneiverordnungsreport leider nicht direkt
entnehmen, da nur über die umsatzstärksten Fertigarzneimittel berichtet wird. Immerhin
liegt - soweit aus den Daten ableitbar - der Anteil generisch verordneten Amitriptylins
bei rund 66 % (2001: 62 %) der Verordnungen (DDD) bzw. 62 % (2001: 56 %) der Umsätze,
für Doxepin bei 74 % (2001: 74 %) bzw. 65,6 % (2001: 65 %), für Trimipramin 46 % bzw.
40 %, für Amitriptylinoxid 50,4 % bzw. 46,4 %, für Clomipramin 15 % bzw. 13 %, für
Maprotilin 51 % bzw. 48 %, für Fluoxetin 77 % bzw. 66 %, für Paroxetin 57 % bzw. 52
%. Bei den Neuroleptika erfolgen rund 60 % (2002: 57 %) der Perazin-Verordnungen (DDD)
bzw. 56 % der Umsätze generisch, für Levomepromazin rund 57 % (2001: 54 %) bzw. 54
%, für Melperon 78 % bzw. 73 %, für Sulpirid 85 % bzw. 82 %, für Haloperidol rund
41 % (2001: 43 %) bzw. 31 %, für Clozapin 61 % bzw. 54 % der Umsätze.
Verordnungsspektren
Antidepressiva
Die Anzahl verordneter Tagesdosen (DDD) von Antidepressiva (DDD +12 %) ist bei allgemein
nur geringer (+0,2 %) Zunahme der Verordnungen weiter gestiegen [Abb. 1], was auf einen weiteren Rückgang der Unterbehandlung depressiv Kranker hinweist.
Die Umsatzsteigerung (+13 %) ist überproportional im Vergleich zur generellen Umsatzsteigerung
[Abb. 1], was einem vermehrten Einsatz der modernen Antidepressiva entspricht [Abb. 2].
Die modernen Antidepressiva haben inzwischen einen Anteil von ca. 37 % (2001: 32 %)
der gesamten (einschließlich niedrig dosierter Neuroleptika und Johanniskraut-Extrakte)
Antidepressiva-Verordnungen (DDD; [Abb. 2]) und ca. 60 % (2001: 56 %) am Umsatz [Abb. 3]. Der Anteil der verordneten Tagesdosen (DDD) moderner Antidepressiva an den chemisch
definierten Antidepressiva im engeren Sinne liegt bei 46 % (2001: 42 %), der Anteil
ihres Umsatzes bei 68 % (2001: 65 %). Wie anderenorts (Fritze J. Neurotransmitter
2001; 12 (2): 30-31) beschrieben, wäre nach medizinischen Kriterien zu erwarten, dass
der Verordnungsanteil der modernen Antidepressiva an den Antidepressiva-Gesamtverordnungen
bei annähernd 50 % läge.
Nach Jahren der Gleichsetzung von Venlafaxin mit den selektiv-serotonergen Antidepressiva
(SSRI) hat der Report nun anerkannt, dass Venlafaxin sowohl pharmakodynamisch als
auch klinisch (Fritze J, Schneider B, Weber B. Psychoneuro 2003; 29: 240-244) der
distinkten Gruppe der selektiv-serotonerg-noradrenergen Antidepressiva (SNRI) zugehört.
Venlafaxin hemmt dosisabhängig nicht nur die synaptische Wiederaufnahme von Serotonin,
sondern auch die von Noradrenalin. Dieser duale Effekt ist klinisch relevant, indem
er die höhere Rate vollständiger Remissionen unter mittleren bis hohen Dosen von Venlafaxin
im Vergleich zu SSRI sowie einen möglicherweise früheren Wirkungseintritt erklärt.
Entsprechend führt das anatomisch-therapeutisch-chemische Klassifikationssystem (ATC-System)
der Weltgesundheitsorganisation Venlafaxin in einer gesonderten Gruppe (ATC-N06AX)
neben den SSRI (ATC-N06A). Deshalb präsentiert auch diese Analyse des Arzneiverordnungsreports
seit Jahren die Daten zu Venlafaxin gesondert.
Neuroleptika
Die Verordnung von Neuroleptika ist weitgehend stabil geblieben. Die Definition von
DDD ist für Neuroleptika besonders schwierig und variiert von Jahr zu Jahr, so dass
die nominale Zunahme von +2,2 % nicht sicher interpretiert werden kann. Die erneute
Umsatzsteigerung (+19 %, 2001: +22 %) ist überproportional im Vergleich zur generellen
Umsatzsteigerung [Abb. 1], was einem vermehrten Einsatz der modernen, nebenwirkungsärmeren (und teureren)
atypischen Neuroleptika entspricht.
Die atypischen Neuroleptika [Abb. 4] im engeren Sinne haben mit einem Anteil von 26 % gegenüber 2001 bei den verordneten
Tagesdosen um knapp 3 %-Punkte gewonnen (ca. 70 % des Umsatzes (2001: 64 %, [Abb. 5]). Die atypischen Neuroleptika setzen sich also trotz Budgetdrucks und der damit
verbundenen persönlichen Risiken für den Arzt weiter durch. Wie anderenorts (Neurotransmitter
2001; 12 (1): 40-43) beschrieben, wäre nach medizinischen Kriterien zu erwarten, dass
der Anteil der verordneten Tagesdosen der atypischen Antipsychotika an den Neuroleptika-Gesamtverordnungen
bei annähernd 25 % läge. Damit hat der Anteil im Jahr 2002 den Schätzwert erreicht.
Diese Schätzung ging davon aus, dass Patienten, die mit konventionellen Neuroleptika
gut eingestellt sind, nicht auf atypische Neuroleptika umgestellt werden.
Welche Ziele der Report mit der Behauptung verfolgt, „viele psychiatrische Meinungsbildner”
unterstellten den atypischen Neuroleptika fälschlich eine therapeutische Überlegenheit
und Kosteneffektivität, soll der Phantasie des Lesers überlassen bleiben. Woher wissen
die Autoren, dass es viele sind? Was ist viel? Entscheidend für die Indikation sind
die Verträglichkeitsvorteile. Kosteneffektivität kann - solange im deutschen Gesundheitswesen
nicht explizit rationiert wird - nur bei vergleichbarer Verträglichkeit (und Wirksamkeit)
für die Differentialindikation entscheidend werden. Tatsächlich wurde in zahlreichen
Vergleichsstudien die Dosis des konventionellen Neuroleptikums (in der Regel Haloperidol)
zu hoch gewählt. Das ist aber nicht als Beweis zu werten, bei nur hinreichend geringer
Haloperidol-Dosis wäre die extrapyramidalmotorische Verträglichkeit identisch. Abgesehen
davon kann auch der Arzneiverordnungsreport nicht in Zweifel ziehen, dass die Dosis-Wirkungs-Kurve
bei atypischen Neuroleptika einen deutlich größeren Abstand von der Dosis-Nebenwirkungs-Kurve
hat als bei konventionellen Neuroleptika. Dadurch ist es mit atypischen Neuroleptika
zumindest deutlich einfacher, extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen zu vermeiden.
Die vom Report angeführte Meta-Analyse von Leucht et al. (2003) hilft nicht weiter,
denn man wird den Kranken kaum die autonomen Nebenwirkungen der niedrig-potenten Neuroleptika
unter den dann notwendigen hohen Dosen zumuten wollen. Abgesehen davon ist die ebenfalls
vom Report angeführte Meta-Analyse von Geddes et al. (2000) kritisiert worden, nur
die gesamten Abbruchraten und nicht getrennt nach Abbrüchen wegen Unverträglichkeit
bzw. mangelnder Wirksamkeit analysiert zu haben. Davis et al. (2003) analysierten
124 RCTs (n=18272), in denen moderne, atypische Neuroleptika der zweiten Generation
mit typischen der ersten Generation verglichen wurden, sowie weitere 18 Studien (n=2748)
zu atypischen Neuroleptika. Dabei waren unabhängig von der Dosis Clozapin, Amisulprid,
Risperidon und Olanzapin signifikant wirksamer als die konventionellen Neuroleptika.
Die Verträglichkeit war ebenfalls besser.
Antidementiva/Nootropika
Trotz seit Jahren und weiter rückläufiger Verordnungen (-9 %; [Abb. 1]) sind die Umsätze [Abb. 1] der Antidementiva (+3 %) gestiegen (erstmals 2001). Die Cholinesterasehemmer haben
bei der Alzheimer-Demenz die Kranken dennoch unverändert nicht sachgerecht erreicht:
Donepezil, Rivastigmin und Galantamin (im Jahr 2001 zugelassen) hatten im Jahre 2002
einen Anteil von nur 6,5 % (2001: 4,2 %) an den Verordnungen (DDD; [Abb. 6]), aber immerhin von 28,6 % (2001: 20,2 %) am Umsatz [Abb. 7]. Memantin - dem im Jahr 2002 formal die europäische Zulassung für mittelschwere
bis schwere Demenz vom Alzheimer-Typ erteilt wurde, verzeichnet einen Anteil von 6,9
% an den Tagesdosen und 20 % an den Umsätzen. Geht man - mit einer konservativen Schätzung
- davon aus, dass mit einer Punktprävalenz von 7 % bei den über 65-Jährigen in Deutschland
rund 900000 gesetzlich versicherte Demenzkranke, davon 540000 mit Demenz vom Alzheimer-Typ,
leben und ignoriert die differentiellen Zulassungen bezüglich des Schweregrades, so
decken die Cholinesterasehemmer und Memantin nominal rund 14 % des Bedarfs. Ginkgo-biloba-Extrakte
dominieren unverändert mit 53 % der Tagesdosen und 34 % der Umsätze dieses Indikationsgebietes
([Abb. 6] & [7]). Nach der entsprechenden Entscheidung des sog. Gemeinsamen Bundesausschusses gehört
Ginkgo biloba in der Indikation Demenz zu den Ausnahmen von rezeptfrei verkäuflichen
Arzneimitteln, die dennoch weiterhin zu Lasten der GKV verordnet werden dürfen. Postuliert
man, auch die Nootropika wie Ginkgo biloba seien therapeutisch hinreichend wirksam,
so würden vom gesamten Verordnungsvolumen rund 60 % der Demenzkranken erreicht. Allerdings
gehen andere Schätzungen von derzeit bis zu 1,5 Mio. Demenzkranken aus, so dass der
Anteil der therapeutisch erreichten Kranken deutlich niedriger liegen kann.
Entwöhnungsmittel
Seit Jahren schließen die Arzneimittelrichtlinien (AMR) des Bundesausschusses der
Ärzte und Krankenkassen nach § 92 SGB V die Verordnung von Mitteln zur Raucherentwöhnung
(Buproprion (Zyban®); Nikotin) zu Lasten der GKV aus, weshalb der Arzneiverordnungsreport
hierzu keine Daten enthält. Diesen Ausschluss hat das GKV-Modernisierungsgesetz (§
34 SGB V) seit dem 01.01.2004 unmittelbar gesetzlich verankert. Das ist angesichts
der Bedeutung des Rauchens als Risikofaktor für die führenden Todesursachen (u.a.
Herzinfarkt und Malignome) medizinisch fragwürdig. Das ist aber auch angesichts des
Bekenntnisses der Bundesregierung, ein rauchfreies (Raucher-freies) Land zu realisieren,
wenig plausibel: Unter anderem die Nikotinabstinenz wurde explizit zu einem Gesundheitsziel
(siehe www.gesundheitsziele.de) deklariert. Der Ausschluß erscheint schließlich auch
unlogisch angesichts der - zu begrüßenden - Verordnungsfähigkeit von Mitteln zur Unterstützung
der Alkoholentwöhnung (Acamprosat, Campral®).
Acamprosat wird in Anlage 4 der AMR ausdrücklich als verordnungsfähig genannt, wobei
„zur Vermeidung eines nicht sachgerechten Einsatzes auf die bestimmungsgemäße Anwendung
von Acamprosat ausschließlich als Zusatztherapeutikum im Rahmen einer psychosozial
betreuten Abstinenzbehandlung” hingewiesen wird. Die Verordnungen von Acamprosat sind
seit Jahren und auch 2002 rückläufig. Das Verordnungsvolumen kann nur einen minimalen
Bruchteil der Alkoholkranken adäquat versorgen. Acamprosat ist grundsätzlich über
einen Zeitraum von mindestens einem Jahr zu verordnen. Geht man mit der Deutschen
Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) von 1,6 Mio. Alkoholkranken in Deutschland
aus, so reicht das Verordnungsvolumen gerade aus, um nominal weniger als 0,5 % der
Kranken zu behandeln. Diese theoretische Bedarfsdeckung von unter 0,5 % ist wohl zu
pessimistisch, indem vermutlich 80 % der Alkoholkranken für diese Therapie nicht erreichbar
sind. Unter dieser Prämisse wäre der Bedarf aber immer noch zu weniger als 3 % gedeckt.
Dieser Unterversorgung leistet der Arzneiverordnungsreport erneut durch negative Suggestionen
Vorschub: Von den 17 publizierten, doppel-blinden, Plazebo-kontrollierten Studien
mit insgesamt über 4500 Patienten zitiert der Arzneiverordnungsreport nur drei, von
denen eine keine Überlegenheit gegenüber Plazebo nachweisen konnte. Tatsächlich aber
war Acamprosat in 15 der 17 Studien dem Plazebo signifikant überlegen, mit einer Effektstärke
von rund 50 %. Die negative englische (Chick et al. 2000) Studie erklärt sich vermutlich
daraus, dass hier die Kranken nicht unmittelbar nach Entgiftung, sondern erst acht
Wochen später rekrutiert wurden. Die deutsche Studie untersuchte auch ein Jahr nach
Ende der Behandlung: Die Abstinenzrate war nach einem Jahr bei den zuvor mit Acamprosat
behandelten Kranken mit 40 % immer noch signifikant höher als bei den mit Plazebo
(17 %) behandelten.
Psychostimulantien
In den letzten zehn Jahren hat sich die Verordnung von Methylphenidat verdreißigfacht
[Abb. 9]. Angesichts der öffentlichen Kritik auch durch (neu berufene) Mitglieder des Sachverständigenrates
für das Gesundheitswesen ist beachtlich, dass der Report diese Zunahme dem Abbau der
Unterversorgung von Patienten mit Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zuschreibt.
Der Report zitiert die Verordnungsanalyse der AOK-Hessen, aus der sich - zumindest
statistisch - keine Hinweise auf Fehlverordnung ergaben. Dennoch wäre eine systematische,
regelmäßige, bundesweite Berichterstattung wünschenswert, auch um der Verunsicherung
der Patienten, da es sich weit überwiegend um Kinder handelt auch der Eltern, vorzubeugen.
Unverändert ein großes Problem stellen die - widersprüchlichen - Entscheidungen der
Sozialgerichte zur Verordnung von Methylphenidat an Erwachsene im Gefolge des Urteils
des Bundessozialgerichts (BSG) zum Off-Label-Use dar. Den Daten des Reports fehlt
der Personenbezug, weshalb zur Häufigkeit der Verordnung an Erwachsene keine Aussage
möglich ist. Gemäß der Daten der AOK-Hessen ist diese vernachlässigbar gering, also
angesichts der Häufigkeit (>20 %) des Persitierens der ADHS ins Erwachsenenalter ein
Hinweis auf Unterversorgung. Anderenorts (Fritze J, Schmauß M. Psychoneuro 2003; 29:
302-304) ist detailliert dargelegt worden, dass die Verordnung von Methylphenidat
an Erwachsene keinen Off-Label-Use darstellt, wenn man die Logik des BSG zugrunde
legt. Da es hier auch um Ausgaben der GKV geht, verwundert nicht, dass dieser Argumentation
nicht generell gefolgt wird. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz ist das zuständige
Expertengremium beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gesetzlich
verankert worden. Nachdem sich das Gremium bisher ausschließlich der Onkologie gewidmet
hat (ohne einen expliziten Fahrplan veröffentlicht zu haben), soll es sich dem Vernehmen
nach nun auch mit den Psychopharmaka befassen wollen, also auch mit dem Methylphenidat.