PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(2): 127
DOI: 10.1055/s-2004-834764
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Handeln auf den Grenzlinien der Psychotherapie

Steffen  Fliegel, Arist  von Schlippe
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Publication Date:
23 May 2005 (online)

Wo sind eigentlich die Grenzen der Psychotherapie? Stellen wir uns Psychotherapie als ein weites Land vor, mit verschiedenen Provinzen, Regionen, ja sogar „Bundesländern” mit jeweils unabhängiger „Kulturpolitik”. Dieses Land hat vielfältige Grenzen. Denn so wie die Grenzen von Deutschland zu Dänemark anders aussehen als etwa zu Tschechien oder zur Schweiz, so sind auch die Grenzen des „Psychotherapielandes” unterschiedlich, je nachdem, zu welchem „Land” sich der Übergang befindet. Zum Teil sind die Grenzen kaum erkennbar und fließend, wie etwa zum „Beratungsland”, in dem ähnliche Gesetze herrschen wie in der Psychotherapie. Manchmal überschreitet man hier fast unbewusst die Linie und findet sich schon im anderen Territorium. Ähnliches gilt für die Grenzen zu den Provinzen anderer Professionen wie etwa der Frage nach Psychotherapie in der psychiatrischen Praxis, hier lassen sich manchmal sogar gemeinsame Gebiete bestimmen.

Andere Grenzlinien sind dagegen starr und einigermaßen gut befestigt, etwa wenn es um die Frage von Gurutum, von Ausbeutung und Missbrauch von Macht in der Psychotherapie geht; doch werden auch diese, trotz heute eigentlich guter Grenzsicherung, immer wieder überschritten.

Grenzen zeigen sich auch, wenn es um bestimmte Personengruppen geht: Armut, chronisch kranke Patientinnen und Patienten, geistig und körperlich behinderte Menschen, Migrantinnen und Migranten. Wie können beispielsweise Kontrakte im Kontext von Unfreiwilligkeit gestaltet werden? Wie können wir mit politisch traumatisierten Menschen sprechen? Wann wird Psychotherapie zum Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Versäumnisse?

Unabdingbar gehören zu den Grenzfällen auch die therapeutischen Situationen, in denen - einmal hineingeraten - wir vielleicht fragen: „Warum muss das gerade mir passieren?” Es sind Momente, in denen uns Patientinnen und Patienten mit ihrem Verlangen und ihren Wünschen herausfordern, Situationen, mit denen wir konfrontiert sind, ohne dass uns Methoden helfen könnten. Vielmehr geht es darum, schnell und kreativ mögliche Antworten auf „unmögliche” Situationen zu finden.

Dann gibt es Grenzen, an die PsychotherapeutInnen in der Arbeit mit Patientinnen und Patienten gar nicht so selten geraten, auf die sie aber nur ungern schauen, die sie am liebsten als „unsichtbares Niemandsland” ansehen würden, es sind die Grenzen der Möglichkeiten. Wenn man das „Land des Scheiterns” und der Misserfolge betritt, zieht es einen so schnell wie möglich wieder heraus. Umso wichtiger ist es, sich mit diesem Land zu befassen und Hinweisschilder lesen zu lernen, die richtungsweisend sind. Sie zu ignorieren, kann in das benachbarte „Behandlungsfehlerland” führen, ebenfalls eines, dessen Grenzen wir nur ungern wahrnehmen, die aber große Bedeutung haben können.

Grenzlinien lassen sich auch innerhalb der Psychotherapie erkennen. Die Provinzen sind mehr oder weniger gut abgesteckt und es ist gut, mit Menschen zu sprechen, die diese Provinzen verschiedentlich bereist haben, sich in therapeutischen Schulen gut auskennen und die Vorzüge und kritischen Punkte der „Bundesländer” kennen. Wir freuen uns, einen der kompetentesten „Reiseführer” durch die Psychotherapie für ein Gespräch gewonnen zu haben, der, ähnlich wie auch wir mit „Psychotherapie im Dialog”, seit Jahren versucht, die „Binnengrenzen” durchlässig und bereisbar zu machen. Weitere „Provinzen” finden sich in unserem Land: Wo sind die Grenzen der Gruppentherapie, wie gestalten sich Übergänge zwischen Einzel- und Paartherapie? Welche Möglichkeiten gibt es, in unserem Land auch mit geistig Behinderten oder mit psychiatrischen Patienten zu arbeiten? Manchmal überschreitet man „aus Versehen” oder auch als Experiment eine Grenze, und es erweist sich im Nachhinein als hilfreich, nicht „schulenkonform” gehandelt zu haben.

Liebe Leserin, lieber Leser, je mehr wir uns mit dem Thema befassten, umso deutlicher wurde uns, dass wir es mit einem enormen Facettenreichtum zu tun haben. Wir haben uns daher entschieden, eine Art „Illustrierte” zu gestalten, in der Sie mehr Texte finden als gewohnt, die dafür kürzer sind. Ihnen gemeinsam ist die Einladung, wie die Autorinnen und Autoren „auf der Grenzlinie” entlangzulaufen, eben als „Grenzgänger”, mit dem kundigen Blick über den Zaun, der manchmal - wie auf unserem Titelbild - schon gekippt ist und den Übergang leicht macht, manchmal aber unüberwindbar scheint. Für den neugierigen Blick in das weite Land der Psychotherapie hinein haben wir nur Beiträge gesucht, die Übergänge ermöglichen, vermeintlich starre Grenzen durch andere Brillen und Sichtweisen aufweichen helfen oder aber sinnvolle Grenzziehungen begründen können.

Wir hoffen, dass Sie vielleicht öfter als vorher „Blicke über den Zaun” riskieren, und dass Sie gleichzeitig sensibel bleiben für die kritischen und notwendigen Grenzbereiche unserer Profession.

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