Da suizidale Handlungen im Rahmen dieser depressiven Episoden auftreten, ist es mehr
als plausibel, dass diese durch eine konsequente Pharmakotherapie verhindert werden
können.
Aus methodischen Gründen ist es jedoch schwierig, dies statistisch zu belegen. Es
wäre tragisch, wenn durch eine unausgewogene Diskussion in diesem Bereich Patienten
verunsichert und eine oft lebensrettende Behandlung mit Antidepressiva unterbleiben
würde.
Ausgelöst wurde die gegenwärtige Diskussion durch kritische Stellungnahmen von britischen
und amerikanischen Arzneimittelbehörden zur Antidepressiva-Behandlung von Depressionen
bei Kindern und Jugendlichen [1]
[2]
[3]
[7]. Diese kritischen Äußerungen basieren vor allem darauf, dass die Wirksamkeit von
Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen wenig untersucht ist und in mehreren Studien
die Wirksamkeit gegenüber einem Scheinmedikament (Plazebo) nicht belegt werden konnte
[5]
[8]. Hinzu kam, dass unter der Behandlung mit SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer)
bei Kindern und Jugendlichen das Auftreten suizidaler Impulse beobachtet wurde. Auch
wenn es im Rahmen dieser Studien nicht zu Suiziden kam, so wurde diese Beobachtung
vor dem Hintergrund der ungenügenden Wirksamkeitsbelege zum Anlass genommen, um vor
dem breiteren Einsatz von Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen zu warnen.
In der sich entwickelnden Diskussion wurde das Thema dann auch auf die Gruppe der
Erwachsenen ausgeweitet und kontrovers diskutiert. In dieser Diskussion wurde in den
Medien, aber auch von professioneller Seite vor allem die mögliche suizidinduzierende
Wirkung von SSRI in den Vordergrund gerückt, z.B. unter Bezug auf einzelne Fallberichte
aus den 90-er Jahren, in denen unter einer Behandlung mit SSRI eine verstärkte Suizidalität
beobachtet worden war. Zum Teil wurde gar vor einer eigenständigen suizidinduzierenden
Wirkung der SSRI gewarnt und damit zahlreiche Patienten und Ärzte, die mit der Datenlage
nicht vertraut sind, verunsichert. Hinzu kam der Suizid einer Frau wenige Tage nach
Absetzen einer hochdosierten Gabe eines Antidepressivums. Die Frau hatte als gesunde
Probandin an einer Medikamentenstudie teilgenommen.
Für die Einschätzung und richtige Gewichtung derartiger Berichte müssen die folgenden
Überlegungen und Fakten berücksichtigt werden:
Eine neue, bisher nur auf Kongressen vorgestellte Studie aus Schweden [4] erlaubt die Abschätzung der Gefahr, die von SSRI hinsichtlich Suizidalität ausgeht.
Über viele Jahre hinweg wurden in Schweden systematisch bei allen Menschen, die sich
das Leben genommen hatten, Medikamentenanalysen durchgeführt. In der Altersgruppe
bis 14 Jahre kam es zu 52 Suiziden. Bei fünf dieser Suizidopfer waren Antidepressiva
nachweisbar, bei keinem einzigen jedoch ein SSRI, und dies obwohl in dieser Altersgruppe
SSRI am häufigsten zum Einsatz kommen (80 %)! Die manchmal reißerisch verstärkte Sorge,
dass durch SSRI Kinder in den Suizid getrieben werden, kann demnach zumindest für
Schweden sehr klar ausgeschlossen werden. In zahlreichen Studien an Erwachsenen konnte
gezeigt werden, dass es unter Behandlung mit SSRI oder anderen Antidepressiva zum
Abklingen von Suizidgedanken und -impulsen kommt.
Depressionen gehen mit großem Leidensdruck und Hoffnungslosigkeit einher, so dass
sich bei einem Großteil der Betroffenen suizidale Gedanken und Impulse einstellen,
die nicht selten auch tatsächlich in suizidale Handlungen einmünden. Manche Betroffene
mit schwersten Depressionen werden nur durch ihre Antriebslosigkeit an der Ausführung
ihrer suizidalen Impulse gehindert. Vor diesem Hintergrund kann bei diesen hochgefährdeten
Patienten auch die Einleitung einer Behandlung mit Risiken verbunden sein, da die
Patienten mit Eintritt der ersten Besserung wieder genügend Antrieb erhalten, um ihre
suizidalen Impulse umzusetzen. Dieses Risiko ist bekannt und gilt generell für die
Phase der Besserung, gleich ob unter Antidepressiva, Psychotherapie oder in Folge
des Spontanverlaufs. Dass dieses Risiko, wie bisweilen postuliert, unter der Antidepressivagruppe
der SSRI größer als unter eher dämpfenden Antidepressiva ist, ist rein theoretisch
nicht unplausibel. SSRI können den Antrieb steigern und bei einzelnen Patienten eine
innere Unruhe hervorrufen. Die Daten sprechen jedoch dagegen, wie im nächsten Punkt
gezeigt.
Von Khan et al. [6] wurden rückwirkend die Studiendaten der amerikanischen Zulassungsbehörde für Medikamente
(FDA) ausgewertet. In diesen Studien wurden mehr als 58000 (!) Patienten mit Antidepressiva
behandelt und alle ernsthaften Vorkommnisse genau dokumentiert. Patienten mit ernsthafter
Suizidalität wurden in diese Studien aus ethischen Gründen nicht eingeschlossen. Das
Suizidrisiko unter SSRI unterschied sich nun nicht von dem anderer Antidepressiva
inklusive der älteren tri- und tetrazyklischen Antidepressiva (TZA). Hiermit kann
so gut wie ausgeschlossen werden, dass SSRI in nennenswerter Weise Suizidalität neu
hervorrufen. Wäre dies der Fall, so müsste sich dies in den Suizidraten zeigen. Allerdings
ist auch festzuhalten, dass sich in diesen Studien die Suizidraten unter Plazebo ebenfalls
nicht von denen unter einem Antidepressivum unterschieden.
In verschiedenen Ländern ist ein Zusammenhang zwischen der deutlichen Zunahme der
Antidepressiva-Verschreibungen und Abnahme der Suizidraten gefunden worden. Derartige
Zusammenhänge sind kein Beweis für eine suizidpräventive Wirkung der Antidepressiva,
sie sind jedoch schwer mit der Vorstellung zu vereinbaren, dass Antidepressiva das
Suizidrisiko erhöhen.
Die depressiv Erkrankten neigen dazu, Veränderungen in ihrem Befinden und ihrer Umwelt
äußerst negativ und als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit der Situation zu interpretieren.
Bei schwer Erkrankten genügen oft auch kleinste Anlässe als Anstoß zur Ausführung
suizidaler Handlungen. Ein derartiger Anlass können natürlich auch alle, unter Antidepressiva
auftretenden, Nebenwirkungen sein, seien dies Mundtrockenheit, Übelkeit, innere Unruhe
oder anderes. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es auch Berichte
über einzelne Patienten mit Hinweisen auf einen Zusammenhang zwischen Beginn einer
Antidepressivabehandlung und verstärkter Suizidalität gibt. Derartige Berichte könnten
auch zu vielen anderen Ereignissen wie zum Beispiel dem Beginn einer Psychotherapie
geliefert werden.
Fazit
Bei schweren Depressionen ist Suizidalität ein ständiger dunkler Begleiter. Zu Beginn
der Behandlung einer schweren depressiven Episode ist besondere Aufmerksamkeit nötig,
da die antidepressive Wirkung der Pharmako- oder Psychotherapie oft erst nach zwei
bis vier Wochen deutlich wird, da auch leichtere Nebenwirkungen von Patienten im Rahmen
der depressiven Erkrankung als dramatische Verschlechterung fehlinterpretiert werden
können und da mit Besserung des Antriebs möglicherweise suizidale Impulse leichter
umgesetzt werden können. Dies gilt für alle Antidepressiva und auch für Psychotherapie.
Spekulationen, dass SSRI in besonderem Maße die Gefahr der Suizidinduktion bergen,
sind nicht nur nicht belegt, sondern können durch neuere Untersuchungen weitgehend
ausgeschlossen werden.
Antidepressiva können depressive Episoden zum Abklingen bringen und insbesondere das
Risiko des Wiederauftretens reduzieren. Dies ist bei Erwachsenen unbestritten. Da
suizidale Handlungen im Rahmen dieser depressiven Episoden auftreten, ist es mehr
als plausibel, dass durch eine konsequente Pharmakotherapie Suizide und Suizidversuche
verhindert werden können, auch wenn es aus methodischen Gründen schwierig ist, dies
statistisch zu belegen. Es wäre tragisch, wenn durch eine unausgewogene Diskussion
in diesem Bereich Patienten verunsichert und eine oft lebensrettende Behandlung mit
Antidepressiva unterbleiben würde.