Z Sex Forsch 2005; 18(1): 73-75
DOI: 10.1055/s-2005-836424
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sexueller Leib und Kultur

H.-M Lohmann
Further Information

Publication History

Publication Date:
14 April 2005 (online)

Preview

Gemeinhin gelten Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” als das Gründungsdokument der psychoanalytischen Sexualtheorie, und als solches kann man sie auch heute noch ohne Weiteres lesen. Auch hundert Jahre nach ihrer Erstpublikation imponiert die Schrift durch die Vorbildlosigkeit und Kühnheit einer wissenschaftlichen Haltung, welche das zu Freuds Zeit weithin Skandalisierte oder Verschwiegene - den Sex und seine „Abirrungen” sowie den weißen Fleck auf der sexuellen Landkarte, die infantile Sexualität - einem gewissenhaft angeordneten Gedankenexperiment unterwirft.

Man kann also die „Drei Abhandlungen” primär im Zusammenhang mit Freuds eigenem frühen Theoriebildungsprozess betrachten, was zugleich heißt, sie im zeitgenössischen Kontext der sich um die Jahrhundertwende konstituierenden Sexualwissenschaft zu sehen (Freud selber erwähnt namentlich u. a. Krafft-Ebing, Möbius, Ellis, Bloch und Hirschfeld). Auf den innovativen Charakter der Freudschen Schrift ist in der Literatur denn auch immer wieder hingewiesen worden, ohne es an der nötigen Reverenz gegenüber den genannten Autoren fehlen zu lassen. Freilich wäre auch einmal gegen diese Evidenz zu erwägen, ob die „Drei Abhandlungen” nicht eher einem Kontext zuzurechnen sind, gegen den sich Freud zeitlebens verwahrt hat - ich meine den Kontext der Philosophie und der philosophischen Anthropologie. Bedauerlicherweise hat die Freud-Schule das Abstinenzgebot des Gründervaters gegenüber philosophischen Herausforderungen der Psychoanalyse weitgehend verinnerlicht, obwohl es paradoxerweise wiederum Freud selber war, der im Vorwort zur vierten Auflage von 1920 ausgerechnet die philosophischen Koryphäen Schopenhauer und Platon als Verbündete seines Unternehmens nennt.

Man kann, mit anderen Worten, die primäre Bedeutung von Freuds Schrift auch darin sehen, dass sie ein Thema aufgreift und in wissenschaftlicher Form zum vorläufigen Abschluss bringt, das in der europäischen Philosophie und Literatur eine lange Tradition hat und im Verlauf des 19. Jahrhunderts in zugespitzter Weise Gestalt annahm. Hatten die Hauptvertreter des Deutschen Idealismus von Kant bis Hegel auf eine Vernunft gesetzt, die sich in reflexiver Selbstvergewisserung zur Richterin und Beherrscherin des allgemeinen Kulturprozesses aufwarf, so etablierte sich im Kontrast dazu und im Protest dagegen eine Bewegung, die an der vernünftigen Teleologie und Selbstvollendung ebendieser Kultur Zweifel anmeldete. In den Blick geriet nunmehr die Schwere und Materialität des menschlichen Leibes, der als unüberschreitbarer Horizont des Daseins schlechthin, als Grenze und Grenzbegriff gefasst wurde, an dem jegliche Vernunftanstrengung zuschanden werden muss. Bei Schopenhauer und Nietzsche etwa sind es der dunkle „Wille”, der Triebgrund, das ewig irritierende Fleisch, die sich abweisend und gleichgültig gegen den Prozess der Zivilisation und gegen alle Kultivierungsversuche zeigen. Das Fleisch ist dasjenige am Menschen, das im Wesentlichen ungebildet bleibt, stumm gegen die Imperative vernünftiger Selbstbeherrschung, unansprechbar für die kulturnotwendigen Forderungen von Moral, Sitte und Konvention.

Bei Nietzsche erfährt diese grundsätzliche Skepsis gegen die Kultur und den herrschenden Kulturoptimismus eine weitere Zuspitzung - im Namen des Leibes. So heißt es etwa in der späten Schrift „Jenseits von Gut und Böse”: „Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen Gott hält.” Der Furor dieser Formulierung richtet sich gegen die idealistische Selbstvergottung des Vernunftwesens Mensch, indem er mit ganzer Schärfe die Macht des (Unter-)Leibes, vulgo des Sex gegen die relative Schwäche der rationalisierenden Vernunft ausspielt, die sich in illusionärer Selbstverkennung gottähnlich wähnt. Auf der gleichen Linie einer Depotenzierung von Vernunft, Ideal und Kultur bewegt sich Nietzsches Verdikt über das alte cartesianische „Ich denke”, indem er diesem ein energisches „Es denkt” entgegensetzt. Und der berühmte Aphorismus 75 aus dem „Jenseits”, der in geni(t)aler Intuition noch die sublimsten geistigen Regungen des Menschen von seiner „Geschlechtlichkeit” affiziert sieht, bestätigt vollends den Verdacht, dass es mit Vernunft, Ideal und Kultur nicht allzu weit her sein kann.

Als Arzt und Naturwissenschaftler hatte Freud zeitlebens Vorbehalte, seine psychoanalytische Sache mit der Philosophie in zu enge Berührung zu bringen. Nietzsche und Schopenhauer, so bekannte er spät, habe er lange gemieden, um sich seine eigene geistige Unbefangenheit zu bewahren. Indes weiß man heute, nicht zuletzt durch die gründliche Studie Reinhard Gassers (1997), dass Freud zumindest auf indirektem Wege, etwa über Freunde und Bekannte, einiges von Nietzsche gewusst und aufgegriffen hat.

Aber wie indirekt auch immer diese Begegnung gewesen ist: Freuds „Drei Abhandlungen” markieren den Endpunkt einer intellektuellen Bewegung, die mit der Romantik und der Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts (Schelling, Baader, Feuerbach) beginnt und über Schopenhauer und Nietzsche zu ihm selber führt. Thomas Mann, ein einfühlsamer Leser Freuds, hat diesen Traditionszusammenhang immer wieder betont. In den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” steht genau das zur Debatte, was der idealistische Vernunftdiskurs des 19. Jahrhunderts aus dem Kanon der verhandelbaren, d. h. der vernunftzugänglichen und -fähigen Gegenstände ausgeschlossen hatte - z. B. sexuelle Devianz und kindliche Sexualität. „Es arbeitet merkwürdigerweise im untersten Stockwerk”, schrieb Freud im Oktober 1899 an seinen Freund Wilhelm Fließ. Sechs Jahre später legte er sein schmales Opus magnum vor, das in nüchternem, wissenschaftlichem Ton der zeitgenössischen Kultur die Rechnung aufmacht. Schuld am Misslingen der kulturellen Integration des sexuellen Leibes ist nicht der Neurotiker, der Perverse oder der Infantile, vielmehr sind es die von der herrschenden Kultur auferlegten „sozialen Konstruktionen der Moral und Autorität”, die für Desintegration und Devianz sorgen. Solange das „unterste Stockwerk” aus der Kultur ausgeschlossen bleibt, so die Freudsche Botschaft, kann Kultur nicht gelingen.

Die historische Bedeutung der „Drei Abhandlungen” liegt m. E. zum einen darin, dass sie jenen Natur- und Leibdiskurs, der vor Freud im Wesentlichen auf spekulativem Niveau thematisiert wurde, auf ein streng wissenschaftliches Niveau und zu einem vorläufigen Abschluss gebracht haben, zum andern aber auch darin, dass Freud so radikal und eindeutig wie hier später kaum wieder den Schuld- und Opferzusammenhang der modernen Kultur verklagt hat. Je älter Freud wurde, desto stärker geriet ihm die Kultur als letzte rettende Bastion in den Blick - als sei die „kulturelle” Sexualmoral am Ende doch verteidigenswerter als das, was gegen sie aufbegehrt. Es wäre interessant, einmal darüber nachzudenken, was hundert Jahre nach Freuds Schrift den Kern der „kulturellen” Sexualmoral ausmacht und wie er darüber gedacht hätte.