Balint Journal 2005; 6(1): 30-31
DOI: 10.1055/s-2005-837805
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Prof. Dr. med. Thure von Uexküll

Die Balint-Gesellschaft trauert um Prof. Dr. med. Thure von Uexküll
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Publication Date:
18 March 2005 (online)

[*]Er starb am 29.9.2004 in Freiburg. Geboren wurde er vor fast 100 Jahren am 15.3.1908 in Heidelberg als Sohn des großen Biologen Jakob von Uexküll. Gelebt, gelernt und gelehrt hat er sein langes Leben wie kaum ein anderer. Auf wuchs er als Kind in Lohndorf/ Hessen und Schwerinburg/ Pommern. In Hamburg an der Gelehrtenschule des Johanneums bestand er 1928 das Abitur, das Staatsexamen dito in Hamburg 1935 nach Studien in Hamburg, München, Innsbruck und Rostock. Danach war er als Medizinalassistent bei Stöckl und G. v. Bergmann und bei Baader in Berlin-Neukölln. Und er war lebensgefährlich erkrankt an einem schweren Typhus. Später sagte er: Es habe ihm viel gebracht. Selber Patient zu sein war ein Praktikum, „das für jeden Arzt unersetzlich ist” zitiert ihn Karl Köhle 1994 in einem Übersichtsreferat zur Salutogenese. Polizeiarzt war er seit 1943 in Russland, in der Ukraine und noch 1945 in Jugoslawien. Auch das gehört zu seiner Biografie. In München habilitierte er sich 1948 mit Forschungsergebnissen über das Essverhalten von Patienten mit chronischen Magenbeschwerden bei von Bergmann. 1955 wurde er zum Direktor der Universitäts-Poliklinik in Gießen berufen, 1966 auf den Lehrstuhl für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Psychosomatik an der Universität in Ulm. 1976 wurde er emeritiert.

Prof. Dr. med. Thure von Uexküll war einer der Initiatoren des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM), dessen erster Geschäftsführer er über viele Jahre war. Wesentliche Impulse setzte er in der 7. A.O. (1970) mit der Einführung der psychosozialen Fächer, der Einführung des Kleingruppenunterrichts und der Reorganisation der Fakultätsstrukturen. Das, was damals demokratischer wurde, wird heute zurückgefahren, gleichsam also ob Demokratie eine Regierungsform des Wohlstandes wäre. Besonders engagierte er sich bei der Gründung der neuen Medizinischen Fakultäten in Aachen und Ulm. Später - schon Emeritus - gab er die Anstöße für die „Akademie einer Integrierten Psychosomatik in Praxis und Klinik“, für die „Subjektive Anatomie“, für vieles mehr. „Nicht Subjektivität im Sinne von Beliebigkeit, sondern das Subjekt des Beobachters in seiner Interaktion mit dem Phänomen seiner Beobachtung selbst war gemeint.” Während seiner Zeit als internistischer Oberarzt in München hatte er sich einer Lehranalyse bei F. Riemann unterzogen. Er kannte die Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung sehr wohl und verstand sie zu integrieren.

Früh schon wurde ich auf ihn aufmerksam, schon als Student in Heidelberg durch die Lektüre seines Buchs über „Grundfragen Psychosomatische Medizin“. Ganz nebenbei prägte sich mir damals seine Bemerkung über ein Syndromshift bei einer Patientin ein, die an einem Asthma bronchiale litt und dann psychotisch dekompensierte. Das körperliche Syndrom, das plötzlich und im Handkehrum seine psychische Seite zeigte. Wie konnte das sein? Jahre später, ich war inzwischen Stationsarzt in der Med. Klinik in Heidelberg (Ludolf Krehl Klinik) tauchte die Frage wieder auf. Wir hatten eine ähnliche Patientin. Je mehr wir mit ihr sprachen, umso mehr schien sich ihr Asthma zu bessern. Dann aber verwirrten sich ihre Gedanken und sie begann zu halluzinieren. Nebenwirkung des Cortisons? Das Argument des Sauerstoffmangels entfiel aufgrund der verbesserten Atmung. War da noch etwas anderes, das nur aus ihrer Biografie zu verstehen war? Etwas schien sich gegen die Entdeckung mit zunehmender psychotischer Kraft zu sträuben. Mit Viktor v. Weizsäcker zu sprechen, dem kongenialen Vorgänger von Uexkülls: Ein tiefer körperlicher Widerstand schien gegen die Aufdeckung eines unsichtbaren Loyalitätskonfliktes in einer Mehrgenerationen Perspektive zu sein. Aber wir wissen es nicht. Trotzdem und trotz des letalen Verlaufs wollten wir darüber publizieren.

Meine Anfrage bei von Uexküll nach seiner Quelle beantwortete er schnell und unkonventionell. Leider könnte er angesichts seines unsystematischen Arbeitens die Quelle nicht mehr angeben. Er ermunterte mich aber gleichzeitig zu der Veröffentlichung, die dann wenig später unter dem Titel „Zur Problematik des Syndromwechsels - vom Asthma bronchiale zur Psychose” publiziert werden konnte mit P. Hahn als Koautor.

Und dann gab es noch einen weiteren Brief von ihm auf meine Frage, ob ich angesichts der spärlichen Ausstattung der Station für psychosomatische Kranke im Aachener Uniklinikum den Ruf auf den neu eingerichteten Lehrstuhl überhaupt annehmen dürfte. Die von außen betrachtet unzureichenden Versorgungsmöglichkeiten für akut Kranke (s. o. Asthma bronchiale) ließ mich ernsthaft zögern. Er schrieb und deutete um:

„Mein Problem, ob Klinik oder Poliklinik der „richtige Weg für den psychosomatischen Bereich der neunziger Jahre sei oder nicht?” käme ihm vor wie eine Frage an das Delphi’sche Orakel. Dessen Antwort sei nicht schwer zu erraten: „Die Gepflogenheiten der jungen Kollegen ihre Entscheidung über viele Jahre hinauszuzögern, ob sie einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin annehmen sollen oder nicht, ist ein klarer Beweis für die Fakultäten und Kultusministerien für die Überflüssigkeit des Faches.”

So einfach war das vor gar nicht langer Zeit (1990). Meine Frage war zwar nicht beantwortet. Trotzdem war klar: Ich hatte keine Wahl und beugte mich der Macht des Faktischen. Ich bekam in Aachen eine Klinik und eine Poliklinik: Die Vorteile waren eindeutig: Neben den Chancen einer psychosomatischen Versorgung von körperlich und psychisch schwerkranken Patienten unter stationären Bedingungen und einer sehr intensiven Begleitforschung einschließlich der Fragen: Was kommt denn dabei heraus? Was bringt es den Patienten, ihren Angehörigen, Ärzten und Kassen? ließen sich wesentliche Aus- Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Studenten, Schwestern, Pfleger und Ärzte in der Weiterbildung entwickeln, über die wir a. a. O. berichtet haben u. a. auch über die „integrierte Balint-Arbeit“, „Balint-Arbeit im Krankenhaus“, über die Balint-Preise für Medizinstudenten, die sich schon während ihres Studiums mit diesem neuen Paradigma befassten. Es hat sich aus unserer Sicht gelohnt. Es kam mehr heraus, als ich je zu hoffen wagte. Bis heute bin ich Thure von Uexküll für seine Entscheidungshilfe dankbar. Ohne ihn hätte es keine Psychosomatik im Aachener Klinikum gegeben. Obwohl - wie erwähnt - Prof. Dr. med. Thure von Uexküll schon im Gründungssenat der neuen Medizinischen Fakultät in Aachen sich Ende der 60er-Jahre für die Psychosomatik stark gemacht hatte, hatte es bis zu dem erwähnten Ruf noch viele Jahre gedauert. Zu tief waren die Verantwortlichen in einem biomedizinischen Modell verstrickt. Von 1991-2003 aber hatten wir die Realisierungschance für die großen Möglichkeiten der Psychosomatischen Medizin, die sich aus dem biopsychosozialen Modell ergaben. Auch dafür sind wir den Verantwortlichen dankbar.

In der 6. Auflage seines Lehrbuchs der Psychosomatischen Medizin (2003) über das Susanne Altmeyer im Balint Journal (4/03) referierte, werden diese Möglichkeiten von 106 ausgewiesenen Autoren sachkundig und kritisch dargestellt. Die theoretischen Grundlagen einer integrierten Medizin, der klinischen Konzepte, der Diagnostik und Therapie, der Institutionalisierung und der Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Dieser theoriemächtige, kritische und oft recht distanziert wirkende Arzt und pragmatische Visionär teilte seine Utopie mit Michael Balint (FAZ vom 13.10.2004). Ihre Utopie wurde unsere Utopie. Die Utopie der Überwindung der Spaltung von Handlung und Sprache, von Subjekt und Objekt, von Macht und Ohnmacht.

Wir danken Thure von Uexküll dafür, dass er nie von seiner Forderung der Umsetzung der Utopie einer menschlichen Medizin, (gr.: ou topos = engl.: no where) in eine „now here“ Medizin abgewichen ist. „Now here“ stehen wir wieder an einer neuen Schwelle des Überganges. Er hat die letzte Schwelle überschritten und neugierig, wie er ist, wird er auch „drüben“ nach den Freiräumen suchen, die „Leben gelingen“ lassen können, uns aber hat er mit seinem Leben, seinem Werk und seiner Disziplin Mut gemacht, unsere Schwellen hier zu überschreiten. Mit ihm verliert nicht nur die Deutsche Medizin, sondern die Welt einen ihrer großen Pioniere.

Prof. Dr. med. E. R. Petzold

Goethestraße 5

72127 Kusterdingen

Email: erpetzold@gmx.de

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