manuelletherapie 2005; 9(3): 145-147
DOI: 10.1055/s-2005-858450
Kongressbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bericht über die 9. Internationale McKenzie-Konferenz vom 03. - 05.6.2005 auf Kreta

Die McKenzie-Methode in der Ära von Evidence-based PracticeM. Spitzenberg
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Publication Date:
25 July 2005 (online)

Zugegeben, die Verspätungen beim Hinflug Zürich-Athen-Heraklion trugen nicht gerade dazu bei, meine Vorfreude auf die diesjährige McKenzie-Konferenz zu erhöhen; aber erst einmal dort, beruhigten allein schon Sonne, kristallklares Wasser und eine wohltuende mediterrane Gelassenheit mein gestresstes Gemüt.

Die 9. Internationale McKenzie-Konferenz in Hersonissos auf Kreta mit gut 400 Teilnehmenden unterstrich eindrücklich die wachsende Bedeutung des McKenzie-Konzepts.

Nach der Konferenzeröffnung durch Chairman Dr. Polyzoides (Griechenland) und eines über Video übertragenen Grußworts von Robin McKenzie erfolgte bereits der 1. Schlagabtausch auf einem Treffen, das in Bezug auf kontroverse Ansichten nichts zu wünschen übrig ließ.

Obwohl er als invasiv tätiger Arzt auf dieser Konferenz einen eher schweren Stand hatte, verteidigte A. Hadjipavlou (Griechenland) in seinem Vortrag Spielt die versteifende Operation (Fusion) auch in Zukunft noch eine Rolle? überzeugend die Sichtweise der Chirurgie. Als 2. Redner antwortete Alf Nachemson (Schweden) in gewohnt vehementer Art und Weise auf die Zukunftsfrage für Fusionsoperationen mit einem klaren Nein. Zwar räumte er in einem späteren Workshop der Fusion einen gewissen Wert bei der Behandlung der Spinalkanalstenose bezüglich Verbesserung der Gangstrecke und der Reduktion von Beinschmerzen (nicht aber von Low Back Pain, LBP) ein, machte aber während des Vortrags unmissverständlich klar, dass verschiedene Studien nach 5 Jahren Follow-up keinen signifikanten Unterschied zwischen Fusion und konservativer Behandlung zeigen, außer dass konservative Therapie kostengünstiger ist. Anhand kürzlich veröffentlichter Studien versuchte Nachemson zu belegen, dass die Endresultate chirurgischer Fusion und eines 3-wöchigen, auf kognitiver Verhaltenspsychologie basierendem Trainingsprogramms gleichwertig sind. Weiterhin führte der Referent an, dass vor allem Operationstechniken mit ventralem Zugang (z. B. Einsetzen künstlicher Bandscheiben durch den Bauchraum) ein bis zu 50 % erhöhtes Risiko einer postoperativen Sexualstörung in sich bergen.

Mit drohend erhobenem Zeigefinger und beeindruckendem Stimmvolumen ließ Nachemson abschließend keinen Zweifel daran, weitere chirurgische Maßnahmen nach fehlgeschlagener Erstoperation zu verwerfen, da wissenschaftliche Daten die sinkende Erfolgsrate nach jeder weiteren invasiven Intervention belegen.

Das 1. Vortragsintervall wurde von M. Schepers aus den Niederlanden ergänzt, der den Zuhörern die Vielzahl möglicher minimal-invasiver Behandlungsmethoden (Injektionstechniken) näher brachte.

In der 2. Vortragsreihe des Tages machte zunächst Ron Donelson (USA) darauf aufmerksam, dass vielen klinischen Richtlinien für LBP seit 25 Jahren ein „Blackbox”-Modell zugrunde liegt, das von 85 % über unspezifischen LBP klagenden Patienten ausgeht, die Beschwerden also keiner spezifischen Gewebestruktur zugeordnet werden können. Auf diesem Modell basierende RCT-Studien (Randomised controlled trials) führen nach Donelson nicht selten zu irreführenden Ergebnissen. Als Folge davon zeichnen sich die daraus abgeleiteten Behandlungsstrategien durch Ineffektivität aus. Einen möglichen Ausweg aus der Misere sieht er in der Klassifikation von Patientengruppen, wie es das McKenzie-Konzept vorsieht. Die Einteilung in Patienten, deren Beschwerden zentralisieren (ZE) und damit eine Directional Preference (DP) zeigen und in solche, die nicht mit Zentralisation reagieren, bringt ein wenig Licht in die Blackbox. Zwar kann auch eine Klassifizierung die Frage nach der genauen Ursache der Beschwerden nicht abschließend klären, ein solches Vorgehen hilft aber, die richtige Behandlungsstrategie zu erkennen und somit effizienter zu therapieren. In diesem Zusammenhang erwähnte Donelson eine im Dezember 2004 veröffentlichte Studie von Audrey Long [1], auf die später noch Bezug genommen wird.

Die nachfolgende Rede von Peter Croft (UK) enthielt die interessante und provokative Frage, ob es zulässig ist, die Behandlung unserer Patienten nur auf die Basis rein wissenschaftlich erhobener Daten zu stellen und sie so als individuelle Persönlichkeit zu einem austauschbaren Subjekt der Wissenschaft zu degradieren. Wie auch in seinem späteren Workshop (Is the Main Effect of McKenzie Therapy Specific or Nonspecific?) plädierte Croft für eine kritische Reflexion unserer erreichten Behandlungsresultate: „Wird ein gutes Behandlungsresultat nur durch die gezielte Beeinflussung einer Gewebestruktur oder einer Pathologie erzielt, oder spielt z. B. ein durch die Behandlung erreichter Angstabbau beim Patienten nicht sogar die wichtigere Rolle für das Resultat? Wie können Kliniker sicher sein, dass nicht schon alleine der Prozess der Diagnose, dem Patienten zuzuhören und die Zuwendungen, die der Patient während der Behandlung erfährt, nicht ein (der?) entscheidender Faktor für ein gutes Behandlungsresultat sind?”.

Nick Bogduk (Australien) hatte die Anwesenden vorgewarnt, sein Referat Double Standards in Research Evidence werde ein eher ironischer Beitrag. Er hielt Wort und belegte gerade dadurch eindrücklich, wie unprofessionell auch in der Ära der Evidence-based Practice Untersucher zu ihren Daten gelangen können. Bogduks Aufforderung an die Teilnehmer des Kongresses lautete daher: „Begnügt euch nicht mit dem Lesen von Abstracts, sondern schaut die publizierten Studien genau an, bevor ihr leichtfertig vermeintlich wissenschaftliche Ergebnisse übernehmt!”

Eine Diskussionsrunde über das weitere Vorgehen nach fehlgeschlagener chirurgischer Intervention beendete den wissenschaftlichen Teil des 1. Konferenztags.

Ein Glück, dass sich die Griechen als hervorragende Gastgeber erwiesen und dem etwas ermüdeten Konferenzteilnehmer und seinen Kollegen und Kolleginnen einen Willkommensgruß offerierten. Bei angenehmen Temperaturen auf einer Terrasse, umrahmt vom rötlichen Schein der untergehenden Sonne, in der einen Hand einen Teller mit typischen kulinarischen Köstlichkeiten, in der anderen ein Glas Wein, nahm der Tag einen sehr angenehmen Ausklang.

Der 2. Tag begann mit einem Remake des antiken Prozesses gegen Sokrates in Form einer Diskussion über den Nutzen biomechanischer Forschung für den klinischen Alltag. Als Befürworter biomechanischer Forschung versuchten die Briten Michael Adams und Patricia Dolan die Zuhörer auf ihre Seite zu ziehen. Dabei wurde unter anderem auf die Studie von Snook [2] hingewiesen, nach der sich durch Vermeidung übermäßiger Flexionsbewegungen in den ersten 2 Morgenstunden LBP signifikant verringerte. Laut Dolan ist diese Studie ein gutes Beispiel dafür, dass Forschungsergebnisse durchaus auch direkt in den klinischen Alltag umgesetzt werden können.

Nick Bogduk als Gegner konterte mit dem Argument, viele Studien leiteten ihre Ergebnisse von Tier- oder Kadaverexperimenten, die nicht zwingend auch für den menschlichen Organismus gelten müssten. Gerade die Tatsache, dass während einer Patientenbehandlung weiterhin unklar ist, was sich genau biomechanisch im Körper abspielt und die Behandlungsergebnisse trotz dieser Wissenslücke oft genug zufrieden stellend sind, unterstreicht seine These (No Need for Biomechanics).

Kim Burton (UK) wies in diesem Zusammenhang noch auf die Eingleisigkeit biomechanischer Forschung hin. Er betonte, ein Mensch sollte nicht auf eine biomechanische Systemeinheit reduziert werden. Zwar sind solche Forschungsfelder von Bedeutung, vernachlässigen aber verschiedene Aspekte des Individuums Mensch, wie z. B. die psychosozialen Faktoren.

Die Entscheidung der Konferenzteilnehmer fiel dennoch eindeutig zugunsten biomechanischer Forschung aus. „Richter” Colin Davies (Kanada) nahm das Votum entgegen und verurteilte die unterlegene Seite zur vorherbestimmten Strafe. Anders als bei Sokrates wurde den Verlierern kein Giftbecher, sondern Coca Cola gereicht, was je nach persönlichem Geschmack auch als hartes Los angesehen werden kann.

Im weiteren Verlauf des Vormittags stand das Thema Management von LBP bei über 50-Jährigen im Vordergrund. Wer hier neuere Erkenntnisse oder Richtlinien für die Therapie älterer Menschen erwartet hatte, wurde ein wenig enttäuscht. Es blieb bei Altbekanntem, wie z. B. zunehmende Bandscheibendegeneration, degenerative Veränderungen an den Facettengelenken und Reduktion muskulärer Aktivität. Immerhin unterstrich Vert Mooney (USA) in seiner Rede den Wert des McKenzie-Assessements auch für die ältere Bevölkerungsgruppe, da sich auch bei diesen Patienten eine Directional Preference (DP) und damit eine Behandlungsstrategie finden lässt, wenn auch seltener als bei jüngeren Patienten.

Ted Dreisinger (USA) zeigte in einem weiteren Vortrag den Zusammenhang von gezieltem Krafttraining bei älteren Menschen und der Verbesserung von Kraft, Ausdauer, Gleichgewicht und funktioneller Unabhängigkeit auf.

Ein Überblick über die Epidemiologie von Schmerzen in der älteren Population, vorgetragen von Peter Croft, rundete diesen Vormittag ab.

In der 2. Tageshälfte hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, verschiedene Workshops zu besuchen und Referate zu hören. Dabei reichte der Bogen von der Einführung in die Untersuchung und Behandlung der Extremitäten nach McKenzie über die Vorstellung neuer Studien bis hin zur Frage, ob MRI-Untersuchungen und das McKenzie-Assessment miteinander konkurrieren oder sich ergänzen.

Am letzten Konferenztag brachte der Chirurg G. Sapkas (Griechenland) den Anwesenden die Operationsmethode mittels B-twin Expandable Cage System näher. Dabei wird ein Röhrchen in den Intervertebralraum eingeführt, das sich nach der Implantation durch technische Maßnahmen verkürzt und gleichzeitig auffaltet und so den Wirbelzwischenraum erhöht. Als Indikationen für diesen invasiven Eingriff nannte er degenerative Bandscheibenprozesse, Spondylolysthesis und Spinalkanalstenose.

Diesen Ausführungen durfte nochmals Alf Nachemson mit seinem Referat über die Rolle der konservativen Behandlung von LBP antworten, der die Zuhörer in die von der Cochrane Collaboration Back Review Group definierten Qualitätskategorien zur Effizienz einer Behandlungsmethode (Level A = strong evidence, Level B = moderate evidence, Level C = limited evidence, Level D = no evidence) einführte. Laut Nachemson hat sich für chronische Rückenbeschwerden ein Zusammenspiel verschiedener physikalischer Therapien (darunter auch das McKenzie-Konzept) und einem auf der Verhaltenspsychologie basierenden Trainingsprogramm als effizient (Level A) erwiesen. Natürlich fehlte gegen Ende seiner Rede nicht der Hinweis, dass er chirurgische Eingriffe für wenig effizient hält.

Aus der Fülle der anschließend angebotenen Parallel Sessions möchte ich den von Kim Burton (UK) herausheben. Sein Vortrag Educational Strategies and Management of LBP versuchte die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die Frage zu richten, welche Hindernisse einer Gesundung entgegenwirken. Mit Hindernissen meinte der Dozent vor allem die im psychosozialen Bereich angesiedelten Vorstellungen, Ansichten und Meinungen einzelner Personen, aber auch der Gesamtheit der Gesellschaft. Diese „Mythen” (z. B. die Ansicht, Heilung erfordert Bettruhe oder eine Wiederaufnahme der Arbeit ist erst nach vollständiger Genesung sinnvoll) hielten sich über Jahre hartnäckig. Burton plädierte für den Abbau dieser Mythen während des persönlichen Umgangs mit den eigenen Patienten, wies aber zugleich auf die Notwendigkeit hin, dies in einem größeren Rahmen anzustreben. So hat z. B. eine Gesundheitskampagne in Großbritannien zu einem Umdenken innerhalb der Bevölkerung beigetragen.

Nachmittags stellte Audrey Long (Kanada) ihre 2004 veröffentlichte Studie Does it Matter which Exercise? - A Follow-up Cross-over Trail [1] vor. Aufgrund des McKenzie-Assessements wurden Versuchspersonen mit LBP herausgefiltert, deren Symptome durch eine bestimmte Bewegungsrichtung (Directional Preference, DP) zentralisierten. Das Ziel der Untersuchung galt der Frage, ob sich das Behandlungsresultat ändert, wenn Patienten, die eine nichtadäquate Behandlung (entgegen der DP) erhalten, später adäquat (entsprechend der DP) behandelt werden.

Dazu war bei 67 Personen zunächst eine nichtadäquate Therapie durchgeführt worden. Als Resultat hatten 49 Teilnehmer unveränderte Symptome und 18 Probanden eine Verschlechterung der Beschwerden angegeben. Alle 67 Teilnehmer hatten anschließend eine adäquate Behandlung erhalten. Von den 49 Personen, die vor dem Therapiewechsel unveränderte Symptome aufgewiesen hatten, berichteten nun 23 (46,8 %) von einem vollständigen Abklingen der Beschwerden und 20 (40,8 %) von einer teilweisen Verbesserung der Symptome. Von den 18 Teilnehmern mit einer Verschlechterung vor dem Therapiewechsel stellten 5 (27,8 %) ein vollständiges Abklingen und 10 (55,6 %) eine teilweise Verbesserung fest. Als Schlussfolgerung aus der Studie kann laut Long die eingangs gestellte Frage für die Mehrheit der beteiligten Versuchspersonen positiv beantwortet werden.

Es überraschte nicht, dass Audrey Long im Anschluss an ihr Referat mit der bronzenen Lady - dem McKenzie-Award für besondere Leistungen - ausgezeichnet wurde und dabei stehende Ovationen entgegennehmen durfte.

Mit der Einladung zur 10. Internationalen McKenzie-Konferenz vom 23. - 25.3.2007 in Queenstown/Neuseeland durch CEO Lawrence Dott ging eine vielseitige und interessante Konferenz zu Ende.

Was neben dem Fachlichen blieb, ist die Erinnerung an ein in allen Bereichen hervorragend organisiertes Meeting und die uns entgegengebrachte Herzlichkeit der griechischen Gastgeber.

Efcharisto (Danke)!

Literatur

  • 1 Long A, Donelson R, Fung T. Does it Matter Which Exercise?.  Spine. 2004;  29, No 23 2593-2602
  • 2 Snook S, Webster B, McGorry R. et al . The reduction of chronic nonspecific low back pain through the control of early moning lumbar flexion: a randomized controlled trial.  Spine. 1998;  23 2601-2807

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