2 Psychosomatische Diagnostik
Ein psychosomatischer Zusammenhang mit einer organischen Störung kann nicht alleine
aus dem Fehlen eines adäquaten organischen Befundes hergeleitet werden. „Wir haben
bei der Untersuchung nichts gefunden, also müssen Sie etwas Psychisches haben”, ist
eine für den Patienten falsche und verletzende Feststellung, die impliziert, dass
er nicht richtig krank sei und er sich seine Erkrankung nur einbilde oder simuliere.
Zu fordern ist in jedem Fall eine positive Diagnostik unter Berücksichtigung der soziobiografischen
Anamnese und der aktuellen Lebenssituation [3], das bedeutet den Nachweis einer psychischen Störung wie Angst oder Depression oder
den Nachweis eines psychischen Zusammenhanges wie etwa der Beginn eines Ohrgeräusches
zeitgleich mit einem heftigen Streit.
2.1Welche Möglichkeiten haben wir als HNO-Ärzte, um eine psychosomatische Diagnose
zu stellen und eine entsprechende Therapie einzuleiten?
Unser wichtigstes ärztliches Instrument ist neben unserem Fachwissen die Fähigkeit,
einem Patienten einfühlsam und vorurteilsfrei zuzuhören und bereits im Erstgespräch
eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen. Dazu gehört auch, die „richtigen”
Fragen zu stellen. Wir versuchen damit, die körperlichen Symptome des Patienten in
einen verstehbaren Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte und seiner emotionalen
Situation zu bringen.
Im Folgenden wird ein Untersuchungsablauf dargestellt, der sowohl psychische als auch
organische Aspekte in angemessener Weise berücksichtigt.
Folgende Fragen sind dabei essenziell:
Frage 1
„Welche Beschwerden haben Sie?”
Die Schilderung soll in den eigenen Worten des Patienten erfolgen - „ich leide an
einem permanenten Klingeln im Ohr” und nicht „ich habe Tinnitus”. Der Arzt achtet
hierbei darauf, wie der Patient sich selber darstellt und welche Emotionen im Hintergrund
zu spüren sind („ich bin verunsichert”, „ich leide”, „ich bin genervt”).
Frage 2
„Wann war das Symptom zum ersten Mal da, was hat die Beschwerden ausgelöst, welche
Ereignisse traten zeitgleich damit auf?”
Des Weiteren wird nach Verschlechterungen oder Besserungen gefragt. Hier gilt es für
den Arzt oft hartnäckig zu sein, denn Patienten sagen zunächst meist „das weiß ich
nicht mehr” oder „es ist immer gleich schlimm”.
Der HNO-Arzt kann zu diesem Zeitpunkt mit seiner körperlichen Untersuchung beginnen
und dabei das Gespräch mit dem Patienten weiter fortführen. Bitte beachten Sie, dass
auch bei Patienten, die bereits auf den ersten Blick psychisch krank erscheinen, auf
eine organische Abklärung der Beschwerden nie verzichtet werden darf. Das Ergebnis
der körperlichen Untersuchung sollte dem Patienten in verständlicher und respektvoller
Form („die Hörprüfung hat eine normale Hörschwelle ergeben” und nicht „Sie haben nichts”)
mitgeteilt werden.
Frage 3
„Hat sich in dieser Zeit in Ihrem Leben etwas Wesentliches verändert? Gab es schlimme
Erlebnisse?”
Der nächste wichtige Punkt ist die Frage nach der individuellen Lebenssituation des
Patienten zum Zeitpunkt des Beschwerdebeginns. Das bio-psycho-soziale Modell von Uexküll
[4] sollte hierbei bedacht werden: Krankmachende Faktoren können im biologischen, psychischen
und sozialen Bereich liegen und Gesundheit bedeutet Wohlbefinden in all diesen Bereichen.
Der Arzt achtet hier auf mögliche Verbindungen zwischen Erkrankung und lebensgeschichtlichen
Krisen (Jobverlust, Scheidung, Tod einer Bezugsperson etc.).
Frage 4
„Haben Sie schon früher Probleme mit den Ohren/der Nase gehabt?”
Welche Krankheitserfahrung hat der Patient im betroffenen Organsystem, hatte er zum
Beispiel schon immer Probleme mit den Ohren oder hat auch die Mutter schon immer unter
Kopfschmerzen gelitten? Hier wird die lebens- und familiengeschichtliche Einordnung
aus der Sicht des Patienten deutlich.
Frage 5
„Was haben Sie bisher unternommen?”
Was hat der Patient bisher getan, um wieder gesund zu werden, welche Bewältigungsstrategien
(Coping) hat er bereits entwickelt? Wie erfolgreich war er damit? Bei wie vielen Kollegen
wurden bereits Behandlungsversuche unternommen? Diese Frage gibt Aufschluss darüber,
was bereits versucht worden ist, und welche Möglichkeiten der Therapien noch bestehen.
Frage 6
„Wie stellen Sie sich die Behandlung vor?”
Mit dieser Frage wird die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit thematisiert. Eine aggressive
Antwort des Patienten wie etwa „Das müssen Sie doch wissen, Sie sind doch der Doktor!”
signalisiert auch eine mangelnde Bereitschaft, aktiv mitzuarbeiten und Verantwortung
für sich zu übernehmen. Einen Patienten gegen seinen Willen zu behandeln ist sinnlos,
ihn beispielsweise ohne vorherige eigene Motivation zum Psychotherapeuten zu schicken
meist ohne großen Erfolg. Ebenso ist es nicht ratsam, eine naturheilkundliche oder
homöopathische Behandlung ohne Nachfragen, warum der Patient diese bevorzuge, mit
„die taugen alle nichts” herabzuwürdigen.
Der zeitliche Aufwand einer psychosomatisch orientierten Anamnese ist bei einem geübten
Untersucher nur unwesentlich länger als die „normale” HNO-Anamnese. Die Berücksichtigung
des bio-psycho-sozialen Modells bietet den unschätzbaren Vorteil, dass sich der Patient
mit seinen Beschwerden angenommen und ernst genommen fühlt und Vertrauen zum Arzt
aufbauen kann. Des Weiteren ist diese Art der Anamnese schon ein Teil der Therapie:
Sie fördert die Einsicht des Patienten in psychosomatische Zusammenhänge und reduziert
seine Abwehr gegen diesbezügliche Therapievorschläge.
2.2 Fragebögen
Fragebögen sind hilfreich und können Zeit sparen, ersetzen aber nicht das ärztliche
Gespräch. Vor dem Einsatz eines Fragebogens sollte der Untersucher eine klare Vorstellung
darüber haben, was er erfahren möchte. Des Weiteren muss der Patient zur Mitarbeit
bereit sein.
Der Tinnitusfragebogen nach Goebel und Hiller (TF) erfasst zum Beispiel die kognitive
und emotionale Beeinträchtigung durch Tinnitus [5]. Das Beck'sche-Depressions-Inventar (BDI) gibt Hinweise auf den Schweregrad einer
depressiven Symptomatik. Das Beck'sche Angstinventar (BAI) ermöglicht eine exakte
Aussage über das Vorhandensein und den Schweregrad klinisch relevanter Angst. Das
revidierte Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R) erfragt geschlechts- und altersspezifische
Persönlichkeitsfaktoren wie Lebenszufriedenheit, soziale Orientierung, Leistungsorientierung,
Aggressivität, Gesundheitssorgen, körperliche Beschwerden und mehr. Alle eben genannten
Fragebögen sind validiert und zeitlich akzeptabel. Weitere Informationen zu Fragebögen
gibt die Testzentrale des Hogrefe-Verlags in Göttingen.
3 HNO-Erkrankungen mit psychosomatischer Komorbidität
3.1 Erkrankungen der Ohren
3.1.1 Tinnitus
Tinnitus, das Hören von Geräuschen ohne äußere Schallquelle, ist so etwas wie eine
typische Erscheinung der Zeit, in der wir leben. Das Symptom wird zur Krankheit, wenn
der Patient beginnt, zu leiden. Die Therapie des Tinnitus war vor 50 Jahren nahezu
ohne Bedeutung, heute im Medienzeitalter ist sie ein Massenphänomen und Millionengeschäft.
Die Anzahl der angebotenen Therapieformen und therapeutischen Kombinationen [6]
[7], die Vielfalt der verwendeten Begriffe und der Mangel an vergleichenden Studien
machen eine Beurteilung extrem schwierig. Hinzu kommt, dass gute Studien selten sind
[8]. Es werden die verschiedensten Therapieelemente miteinander, teilweise auch mit
medikamentösen Verfahren, kombiniert. Eine Vergleichbarkeit ist daher kaum möglich.
Die bisher populärste Form all dieser Kombinationsverfahren, die Tinnitus-Retraining-Therapie,
die von Hazell und Jastreboff etabliert wurde, hat aufgezeigt, dass Counselling-Beratung
ein wichtiges und erfolgreiches Therapieelement in der Behandlung des chronischen
Tinnitus ist [9]
[10]. Es gibt mittlerweile diverse Varianten mit unterschiedlichen Erfolgsquoten [11].
Ich möchte den Begriff des Counsellings noch besonders erwähnen. Hierbei handelt es
sich um eine krankheitsbezogene Beratung, bei der sich der HNO-Arzt die Zeit nimmt,
dem Patienten organische und psychische Besonderheiten und Zusammenhänge seiner Symptome
zu erklären; etwas was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Es gibt
Untersuchungen, die dies als den wesentlichen Bestandteil der Tinnitus-Retraining-Therapie
ansehen [12].
Folgende therapeutische Einzelkomponenten werden in den meisten Therapien in unterschiedlicher
Weise kombiniert: Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson,
Biofeedback, Hypnose, Tai Chi, Qi Gong, Yoga, Akupunktur, tiefenpsychologisch fundierte
Gesprächstherapie, kognitive Verhaltenstherapie. Bei den meisten Patienten scheint
es sinnvoll zu sein, mehrere Verfahren zu kombinieren, wobei verhaltenstherapeutische
Methoden insgesamt häufiger verwandt werden als analytische [13].
Chronischer Tinnitus bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen kann am besten als
psychophysiologische Störung unter Berücksichtigung psychologischer und sozialer Aspekte
erklärt werden. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität kann erheblich sein und begleitend
treten oft Angststörungen, Depressionen sowie Konzentrations- und Schlafstörungen
auf [14]. Die Patienten fühlen sich sowohl auf der emotionalen als auch auf der kognitiven
Ebene beeinträchtigt [15]. Interessant ist, dass bereits in frühen Stadien des Tinnitus interindividuelle
Unterschiede bestehen, die auf eine hohe psychische Belastung, Depressivität sowie
maladaptive Stressverarbeitung hindeuten [16] und somit eine frühzeitige psychosomatische Intervention sinnvoll erscheinen lassen.
Randomisierte und kontrollierte Studien weisen eine Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie,
Biofeedback und progressiver Muskelrelaxation nach [17]
[18]
[19]
[20]
[21]. Kognitive Verhaltenstherapie ist als stressreduzierende Maßnahme auch via Internet
wirksam [22]
[23]. Alleiniges Counselling und Gruppentherapie nach Kröner-Herwig erwiesen sich als
vergleichbar wirkungsvoll [24]. Der Aufmerksamkeitslenkung kommt in der Tinnitustherapie eine besondere Bedeutung
zu, sie kann mit unterschiedlichen psychologischen Verfahren gefördert werden [25]. Entspannungsverfahren sind als Methode der Aufmerksamkeitslenkung auf positive
Krankheitsbewältigungsaspekte grundsätzlich empfehlenswert.
Biofeedback erwies sich besonders dann als effektiv, wenn Muskelverspannungen und
Stresssituationen im Vorfeld nachgewiesen wurden [26]. Die Zufriedenheit der Patienten war in der Regel hoch, bedingt durch eine verbesserte
Fähigkeit, mit dem Ohrgeräusch umzugehen. Die Tinnitustagebücher ergaben aber nur
geringe Effekte auf den Tinnitus selbst [18].
Selbsthypnose und aufmerksames Zuhören ärztlicherseits sind ebenfalls in der Lage,
die Schwere des Tinnitus zu reduzieren [27]. In einer skandinavischen Studie berichteten 73 Prozent der Patienten ein Verschwinden
des Geräusches während der Sitzungen im Vergleich zu 24 Prozent bei Behandlung mit
einem akustischen Stimulus [28]. Ein Langzeiteffekt war nur in der Selbsthypnose-Gruppe nachweisbar.
Die Kombination von Verhaltenstherapie mit Entspannungsverfahren im Sinne des Erlernens
von Coping-Strategien erbrachte eine signifikante Reduktion der Belästigung durch
das Ohrgeräusch und eine Verbesserung der Stimmungslage über einen dreimonatigen Follow-up
[29]. Weiterhin fanden sich positive Effekte hinsichtlich Schlafstörungen, Kopfschmerzen
und Schwindelgefühlen. Bei dieser Studie gab es allerdings keine Kontrollgruppe. Andere
Autoren bestätigen die Wirksamkeit dieser multimodalen Therapieformen [17]
[30].
In all diesen Studien wurden die Effekte der Therapiegruppen in der Regel mit einer
Kontrollgruppe, die als Wartekontrolle geführt wurde, verglichen. Kritisch anzumerken
ist, dass es keine einzige Studie gibt, die einen Rosenthaleffekt sicher ausschließt.
Hierzu bedarf es einer Kontrollgruppe, die die gleiche ärztliche Zeit und Aufmerksamkeit
erfährt wie die Verumgruppe, aber mit einer nachgewiesenermaßen wirkungslosen Therapie.
Ein weiterer Kritikpunkt sind die zum Teil sehr kleinen Gruppen von nur wenigen Patienten.
Keine Wirksamkeit wurde für Akupunktur in Studien nachgewiesen. Ein einzelner Fallbericht
beschrieb eine positive Wirkung von Tai Chi auf das Ohrgeräusch [31].
Ebenso war Yoga als alleinige Tinnitustherapie ohne nachweisbare Effekte [32].
Hypnose als Verfahren der Tiefenentspannung zeigte positive Effekte, erwies sich aber
in der Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie und Stressmanagement breiter
wirksam. Lediglich einige Fallbeschreibungen und kleinere Studien berichten über erfolgreiche
Heilungen oder Besserungen durch Hypnose alleine [33]
[34]
[35]
[36]. Die Patienten kamen besser mit ihrem Ohrgeräusch zurecht, obwohl Lautstärke und
Qualität unverändert waren [37].
Fazit für die Praxis: Wir empfehlen, bereits beim Erstgespräch den Patienten auf die Bedeutung psychischer
Faktoren, entweder als Ursache oder als Folge des Tinnitus, hinzuweisen. Des Weiteren
ist ein neurootologisches Counselling bei allen Hörstörungen sinnvoll - ein Patient,
der die Zusammenhänge versteht, hat weniger Angst [38]
[39]. Beim dekompensierten Tinnitus sollten die soziale Unterstützung, soziale Stressbelastung
sowie Coping-Strategien als wichtige Prognosefaktoren beachtet werden [40]. Je mehr der Patient unter Tinnitus leidet, desto stärker profitiert er von einer
integrierten psychosomatischen und otologischen Therapie [41]. Psychotherapeutische Gespräche in Kombination mit verschiedenen Entspannungsverfahren
wie Progressive Muskelrelaxation, Biofeedback oder auch Hypnose sind wirkungsvoller
als Entspannungsverfahren alleine. Psychologische Verfahren scheinen langfristig erfolgreicher
zu sein als medikamentöse Behandlungen, die oft nur kurzfristige Effekte erzielen
[8]. Die meisten Studien beziehen sich auf kognitive Verhaltenstherapie, weniger auf
tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie. Beides sind Verfahren, die nur von
ausgebildeten Psychotherapeuten durchgeführt werden können, also eine Überweisung
seitens des HNO-Arztes erfordern.
Für den HNO-Arzt in Praxis und Klinik durchführbar und abrechenbar sind Gespräche
im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung von mindestens 20 Minuten Dauer. Meiner
Erfahrung nach gelingt es bei den meisten Patienten mit etwa fünf Gesprächen eine
Stabilisierung und Besserung des Krankheitsbildes oder eine Motivation für eine weitere
psychotherapeutische Therapie zu erzielen.
3.1.2 Hyperakusis und Phonophobie
Hyperakusis bedeutet eine Überempfindlichkeit über das gesamte Frequenzspektrum des
Hörvermögens. Bei einer ängstlichen Persönlichkeit oder Angststörung kann es zu einer
Phonophobie kommen, einer stark gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber speziellen
Geräuschen unabhängig von deren Lautstärke [38]. Hyperakusis kommt oft infolge eines Tinnitus vor. Wie beim Tinnitus sind die Schulung
der Hörwahrnehmung und Aufmerksamkeitslenkung wichtige Therapiebausteine [42]. Die psychosomatische Therapie orientiert sich hier an der Angstkomponente, die
im Fokus der Behandlung stehen sollte. Der Abbau des Vermeidungsverhaltens und die
Neubewertung angstauslösender, akustischer Reize stehen dabei im Mittelpunkt der Therapieplanung.
Weiterhin sind kognitiv verhaltenstherapeutische Ansätze geeignet. Expositionsbehandlung,
positive Verstärkung und soziales Kompetenztraining haben sich in Einzelfallbeschreibungen
als wirksam dargestellt. Ebenso wie beim Tinnitus ist der zusätzliche Einsatz von
Entspannungsverfahren sinnvoll.
Fazit für die Praxis: Was für den Tinnitus gilt, trifft zum Teil auch für die Hyperakusis und die Phonophobie
zu. Die Beratung des Patienten über physiologische und psychische Besonderheiten,
wie in diesem Fall die Angstkomponente, ist von entscheidender Bedeutung. Entspannungsverfahren
jeder Art wirken angstlösend und sind sinnvoll in die Behandlung zu integrieren.
3.1.3 Hörsturz
Beim Hörsturz hat der Patient einen plötzlichen und nachweisbaren Innenohrschaden
erlitten. In verschiedenen Untersuchungen zeigte sich, dass in über 70 Prozent der
untersuchten Fälle [43] der Hörsturz in akut psychisch belastenden Situationen auftrat. In der Regel konnte
dabei die akute Belastung als Dekompensation eines chronischen Konfliktes aufgefasst
werden. Hoher Leistungsanspruch, Pflichtbewusstsein, ausgeprägte Sensibilität und
eine Unterdrückung aggressiver Impulse verbunden mit Schuldgefühlen sind oft charakteristische
Eigenschaften der Patienten [44]
[45]. In einer Studie [46] wurde die psychische Struktur von Patienten mit Hörsturz untersucht. Patienten mit
einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur profitierten nicht von einer organischen
Therapie.
Psychophysiologische Faktoren können ebenfalls rheologische Faktoren beeinflussen.
Die Therapie des Hörsturzes sollte daher sowohl organisch orientierte Verfahren, wie
in den Leitlinien der DGHNO empfohlen, als auch psychisch orientierte Verfahren beinhalten.
Eine Säule der Therapie bei diesen psychisch belasteten und angespannten Patienten
sind logischerweise Entspannungsverfahren.
Prognostisch positiv wirkten sich tragfähige Beziehungsstrukturen, eine emotional
stabile Persönlichkeit sowie die Reduktion von Stressfaktoren aus [47].
Fazit für die Praxis: Bereits beim Erstgespräch sollte nach akuten als auch chronischen Stressbelastungen
gefragt werden. Die Patienten sind sich dieser oft bewusst und reagieren auf das ärztliche
Interesse an ihrer Person meist positiv. Neben dem Angebot organischer Behandlungsverfahren
sind Ermunterungen Entspannungsverfahren zu lernen äußerst sinnvoll. Wenn Autogenes
Training oder Progressive Muskelrelaxation in der Praxis nicht möglich sind, können
beispielsweise Kurse bei der Volkshochschule vorgeschlagen werden. Die in der letzten
Zeit häufiger angebotenen und von vielen Patienten gerne ausgeübten fernöstlichen
Übungen wie Tai Chi, Qi Gong und Yoga dienen ebenso der Entspannung. Der Patient sollte
nur dann krankgeschrieben werden, wenn eine Krankschreibung seine Stressbelastung
auch wirklich reduziert. Sollte der Patient zu Hause stark belastet sein oder Angst
um seinen Arbeitsplatz haben, ist dies ärztlicherseits mit zu berücksichtigen.
3.1.4 Psychogene Hörstörung
Unter psychogener Hörstörung wird eine unbewusste, meist symmetrische, doppelseitige
Schwerhörigkeit mittleren bis hohen Grades verstanden. Charakteristisch ist, dass
die Störung nur bei den subjektiven Hörprüfungen angegeben wird und bei den objektiven
Verfahren (OAE, BERA) nicht nachweisbar ist. Auch eine ungezwungene Unterhaltung oder
Telefonieren ist ohne Probleme möglich [4]. Psychotherapeutisch gesehen handelt es sich meist um ein Konversionssymptom. Bei
Kindern konnten Konfliktsituationen im schulischen und familiären Bereich beobachtet
werden [48]. Es wird vermutet, dass es sich bei einem Teil der plötzlichen Hörstürze um psychogene
Hörstörungen handelt, die nicht erkannt werden [49]. Randomisierte Diagnostik- und/ oder Therapiestudien hierzu gibt es nicht.
Fazit für die Praxis: Der Patient benötigt Zeit, um über seine Probleme, Ängste und Befürchtungen und nicht
nur über seine Schwerhörigkeit zu sprechen. Es ist sinnlos, ihn unverblümt mit der
Tatsache zu konfrontieren, dass er keinen organischen Hörschaden hat. Dagegen ist
es essenziell für die Therapie, dass der Patient erkennt, welche Bedeutung die subjektiv
empfundene Schwerhörigkeit in seinem Leben hat. Das Ziel ist dem Patienten zu ermöglichen,
die Zusammenhänge zwischen der Schwerhörigkeit und seinen psychischen Problemen zu
erkennen. Die Bewältigung der Konfliktsituation ist eine der wichtigsten Voraussetzungen
zur Überwindung der psychischen Fehlhaltung [50]. Einige Autoren empfehlen auch gerade bei Kindern suggestive Behandlungsmethoden
[51].
Bei Erwachsenen und bei kurzer Krankheitsdauer ist die Prognose im Allgemeinen gut.
Bei Kindern sollte eine psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen werden.
3.1.5 Schwerhörigkeit und Taubheit
Der hochgradige Hörverlust bis zur Taubheit, erworben oder angeboren, stellt für einen
Menschen einen massiven Schicksalsschlag dar. Hier handelt es sich also um eine somatopsychische
Situation. Darüber wie viele schwerhörige Patienten verbittert und depressiv soziale
Kontakte abbrechen und vereinsamen gibt es bisher keine Statistiken. Aber jeder HNO-
und Hausarzt kennt dieses Problem. Der Schwerhörige oder Gehörlose ist nicht nur ein
normales Individuum minus Gehör, sondern er selbst und oft auch seine Mitmenschen
zweifeln an seinen intellektuellen Fähigkeiten und seiner sozialen Kompetenz. Dies
hat oft aggressives Verhalten zur Folge. Schwerhörigkeit wird daher meist lange verheimlicht.
Die mangelnde Akzeptanz Hörgeräte zu tragen ist das sichtbare Zeichen der Abwehr des
Patienten. Bei schwerhörigen Kindern ist ebenso der psychische Zustand der Eltern
zu berücksichtigen, die in vielen Fällen über eine deutlich erhöhte psychische Belastung
auch über den Zeitpunkt der Diagnosestellung hinaus klagen.
Aus diesen Überlegungen resultiert der therapeutische Ansatz (Studien gibt es nicht).
Fazit für die Praxis: Empathie, das bedeutet mitfühlendes Zuhören und Hineinversetzen in die Lage des Patienten
(Balint), sind nonverbale Kommunikationsmittel, die bei der Betreuung von Schwerhörigen
und Tauben eine entscheidende Rolle spielen. Diese Patienten benötigen ärztliche Zeit,
um ihre Nöte und Ängste auszudrücken und Aggressionen abzubauen.
3.1.6 Morbus Menière
Die klassischen Hauptsymptome des Morbus Menière sind attackenweise auftretender Drehschwindel
mit Übelkeit, Tieftonhörverlust und Tinnitus. Die ohne Vorwarnung plötzlich auftretenden
Anfälle lösen bei vielen Patienten Angst und phobische Reaktionen aus. Der „richtige”
psychosomatisch orientierte Umgang mit der ersten traumatisierenden Attacke ist von
entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Erkrankung [52]. Unumstritten ist die Tatsache, dass Stress als Begleitumstand oder Auslöser beim
Morbus Menière eine Rolle spielt [53].
Fazit für die Praxis: Wichtig von Seiten des Arztes ist empathisches Verstehen für die vom Patienten als
existenziell bedrohlich angesehene Situation, eine Aufklärung über das physiologische
Geschehen beim Morbus Menière sowie über die möglichen organischen und psychologischen
Therapieverfahren. Die Kombination von einem vestibulären Training und einem körperbetonten
Entspannungsverfahren, wie zum Beispiel Progressiver Muskelrelaxation, hat sich unserer
Erfahrung nach als hilfreich erwiesen.
3.1.7 Schwindel
Schwindel ist eine subjektive Empfindung einer Gleichgewichtsstörung in physischer
und/oder psychischer Hinsicht [4].
Schwindel ist besonders in der Allgemeinmedizin ein häufiges Leitsymptom und oft die
psychophysiologische Begleitreaktion auf Stress, Angst und Depression [54]
[55]. Ebenso können Angst und starke Unsicherheit Schwindelsymptome auslösen [56]. Eine einseitige, lediglich somatische Abklärung unter Missachtung psychosomatischer
Faktoren birgt die Gefahr einer Chronifizierung.
Angsterkrankungen wie zum Beispiel Agoraphobie (Platzangst) gehen oft mit einem Gefühl
des „Schwindelig-Seins” einher. Diese Erkrankungen sind eine Domäne der Verhaltenstherapie.
Eine akute Schwindelattacke ist ein kritisches Lebensereignis und als solches angstauslösend.
Mangelnde Coping-Strategien und dysfunktionelle Kognitionen können zu einer Persistenz
der Angst und damit der Schwindelsymptomatik führen [57].
Bei Kindern ist eine psychosomatische Erkrankung oft von dem Gefühl des „Schwindelig-Seins”
begleitet [58].
Kognitive Verhaltenstherapie in Kombination mit einem vestibulären Training hat sich
bei der Rehabilitation als effektiv erwiesen, ohne dabei allerdings einen Einfluss
auf Angst oder Depression zu haben [59].
Fazit für die Praxis: Die Abklärung psychischer Faktoren und eine gegebenenfalls interdisziplinäre Behandlung
sollte schon zu Beginn einer Schwindelerkrankung erfolgen, um eine Chronifizierung
zu vermeiden [60]. Eine entsprechende Psychoedukation des Patienten auch von Seiten des HNO-Arztes
ist erforderlich, damit der Patient seine Situation realistisch einschätzen kann („mir
ist schwindelig” oder „ich habe Angst, dass mir schwindelig wird”) [61]. Vorangegangene Belastungssituationen und Verlusterlebnisse müssen exploriert und
gegebenenfalls in einen für den Patienten verständlichen Zusammenhang mit seiner Schwindelsymptomatik
gebracht werden, um zu vermeiden, dass er sich frustriert für einen Simulanten hält.
Die Kombination eines vestibulären Trainings mit Entspannungsverfahren erscheint auch
hier sinnvoll. Bei ausgeprägter Angststörung ist der Einsatz von Psychopharmaka zu
überlegen [62].
3.2 Erkrankungen der oberen Atemwege
3.2.1 Akute und rezidivierende Infektionen/akute Rhinitis
Jeder von uns, sei er Patient oder Arzt, kennt das Phänomen, dass er schneller einen
Infekt bekommt, wenn er unter Stressbelastung steht (Nachtdienst!). Stressbelastung
kann zu einem erhöhten Auftreten von Atemwegsinfektionen führen. Erhöhter psycho-sozialer
Stress reduziert die lokale Immunantwort gegen virale oder bakterielle Infektionen
mit der Folge einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber Erkältungskrankheiten [63].
Stressmanagement ist in der Lage, Krankheitstage zu reduzieren, und zwar unabhängig
von der sIgA-Sekretion oder einer negativen Stimmungslage [64]. Entspannungstherapie bei Kindern mit positiven Suggestionen (Vermehrung der Immunglobuline)
führte zu einer Erhöhung des sIgA- als auch des sIgA/Albumin-Quotienten als Parameter
der lokalen Schleimhautimmunität [65].
Fazit für die Praxis: Therapiestudien gibt es nicht. In Anbetracht der Studienergebnisse zur Ätiologie
von Infektionen der Atemwege erscheint es gerade bei rezidivierenden Beschwerden sinnvoll
zu sein, eine erhöhte Stressbelastung zu erfragen und den Patienten auf diesbezügliche
Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Ein Plan für Stressmanagement und Entspannungsverfahren
als Prophylaxe sind sinnvolle Maßnahmen.
3.2.2 Chronische und allergische Rhinitis
Die chronische Rhinitis ist ein häufiges Krankheitsbild. Die charakteristischen Symptome
sind eine verstopfte Nase, Naselaufen und Niesreiz. Die Beschwerden sind meist in
unterschiedlicher Ausprägung vorhanden und bestehen über Jahre. Durch die dauerhaften
Beschwerden und die damit verbundene Beeinträchtigung kann es zu psychischen Störungen
kommen (somato-psychische Genese).
Untersuchungen zu psychosomatischen Aspekten sind selten, Therapiestudien nicht vorhanden.
Umgangssprachliche Ausdrücke wie „die Nase von etwas voll haben” beschreiben bildlich
aber einen Zusammenhang von körperlichen Symptomen und der psychischen Verfassung.
Allergische und psychosomatische Reaktionen scheinen auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten
zu haben. Das eine beinhaltet ein klar definierbares immunologisches Geschehen, das
andere beschreibt eine objektiv schwer erfassbare und im psycho-immunologischen Ablauf
kaum zu beweisende Reaktion.
Psycho-immunologische Studien haben aufgezeigt, dass allergische Reaktionen durch
hypnotische Suggestionen gehemmt werden können [66]. In experimentellen Studien konnte weiterhin belegt werden, dass die Histaminkonzentration
im Plasma unter Stress ansteigt [67]. Allergien können durch Autosuggestion entstehen und starke Ängstlichkeit lässt
die Haut sensibler auf potenzielle Allergene reagieren. Mehrere Studien aus Ungarn
[68]
[69] zeigen eine Korrelation von allergischen Beschwerden mit Depression und Angst. 74
Prozent der untersuchten Patienten mit Panikstörungen zeigten auch eine behandlungsbedürftige
Typ-1-Allergie.
Auch beim Menschen konnte der Zusammenhang von Stress und erhöhter allergischer Reaktion
belegt werden, allerdings sind diese Untersuchungen meist bei Asthma und Neurodermitis
durchgeführt worden [70]. Während es bei Asthma und Neurodermitis bereits Therapiestudien und psychosomatisch
orientierte Behandlungskonzepte [71]
[72] gibt, liegen zur allergischen Rhinitis bisher keine brauchbaren therapeutischen
Konzepte oder Studien vor, so dass hierzu bisher nur spekuliert werden kann.
Fazit für die Praxis: Eine Allergie ist ein multifaktorielles Geschehen. Gerade bei perennialen Allergikern
oder bei multiplen Sensibilisierungen spielen auch nach meinen Erfahrungen Angst und
Depression als Komorbidität eine Rolle. Ob sie schon vor der Allergie bestanden oder
im Rahmen einer chronischen, die Lebensqualität beeinträchtigenden Erkrankung aufgetreten
sind, ist nicht zu beurteilen.
Therapeutisch ist es sinnvoll, den Patienten auf die Möglichkeit des Vorliegens einer
zusätzlichen Angst und/oder Depression aufmerksam zu machen - „ich kann verstehen,
dass diese ständigen Beschwerden Sie depressiv werden lassen oder Sie Angst haben,
dass es immer schlimmer wird”. Auch hier können suggestive Entspannungsverfahren je
nach psychischer Ausgangslage des Patienten Erleichterung bringen. Des Weiteren ist
wie bei allen chronischen Erkrankungen das Erlernen von Coping-Strategien sinnvoll.
Bei Verdacht auf eine relevante Angststörung oder Depression ist die Überweisung zum
Fachpsychotherapeuten angezeigt. Wenn sich der Patient vom Arzt ernst genommen fühlt
und er das ärztliche Bemühen um Hilfe spürt, wird auch eine Überweisung zum Psychotherapeuten
nicht mehr so problematisch sein.
3.2.3 Klinisches Öko-Syndrom (Sick-building-Syndrom)
Hierbei handelt es sich um Patienten, die nach einer vermeintlichen oder tatsächlich
vorhandenen Belastung mit chemischen Substanzen eine massive Überempfindlichkeit gegenüber
jedwede Art von Chemikalien entwickelt haben. Eine organisch fassbare Schädigung ist
zumeist nicht nachweisbar, des Weiteren auch keine diesbezüglichen Allergien. Die
Beschwerden der Patienten sind oft massiv, die Lebensqualität erheblich eingeschränkt.
Bisher konnten bei den betroffenen Patienten von ärztlicher Seite aus nur psychosomatische
und zum Teil auch neurotische Störungen festgestellt werden. Dies wird von den meisten
Patienten jedoch vehement abgelehnt, so dass entsprechende therapeutische Versuche
zum Scheitern verurteilt sind. Bisher gibt es keine brauchbaren Behandlungskonzepte
von psychosomatischer oder psychiatrischer Seite [71].
Fazit für die Praxis: Die betroffenen Patienten sind oft sehr schwer zugänglich, insbesondere wenn von
ärztlicher Seite die Kausalität bestimmter chemischer Substanzen für die Beschwerden
infrage gestellt wird. Oft sind schon diverse Therapien auch aus dem alternativen
Bereich versucht worden. Die Patienten sind mit ihrem hohen Leidensdruck „leichte
Beute” für unseriöse Anbieter.
Das wichtigste therapeutische Ziel ist hier, eine stabile Arzt-Patienten-Beziehung
aufzubauen. Der Arzt soll Ansprechpartner bleiben, auch wenn er selber keine Möglichkeit
einer Behandlung sieht, um den Patienten vor Schaden zu bewahren.
3.3 Erkrankungen des Pharynx
3.3.1 Glossodynie
Patienten mit Glossodynie oder Burning-Mouth-Syndrom gehören zu den „schwierigen”
Patienten. Betroffen sind meist Frauen mittleren Alters. Sie sind fokussiert auf ihre
Organbeschwerden, sie jammern, sie leiden unter starken Schmerzen, sie fordern organbezogene
Untersuchungen und Therapien und verweigern oft jede Einsicht in eine psychosomatische
Störung. Die Diskrepanz zwischen dem Erleben des Patienten und den nicht objektivierbaren
Läsionen im Mundschleimhautbereich ist erheblich. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist
dementsprechend problematisch [73]. Die Patienten erleben sich selbst als psychisch normal. Die Ätiopathogenese ist
zumeist unbekannt. Patienten, die unter Fibromyalgie leiden, geben auch gehäuft Schmerzen
im Mundbereich an [74]. Behandlungsstudien mit größeren Fallzahlen gibt es nicht, meist handelt es sich
um Einzelfallberichte. Wenn HNO-ärztlicherseits eine organische Ursache ausgeschlossen
wurde, wird oft eine psychogene Genese angenommen. Depressionen und Angsterkrankungen
werden meist als Komorbidität oder auch als Auslösefaktoren angegeben [75]. Andere Autoren sehen Persönlichkeitsveränderungen als entscheidender an als neurotische
Symptome wie Depression [76]. Ebenso spielen Stressfaktoren bei vielen Patienten eine entscheidende Rolle.
Daher ist zumindest zu Beginn der Behandlung die Gabe von Antidepressiva gegebenenfalls
auch Anxiolytika in Kombination mit Gesprächstherapie in Erwägung zu ziehen [77]. Es gibt einige Studien mit Empfehlungen für Verhaltenstherapie, aber evidence-based
ist die Datenlage nicht. Biofeedback und Hypnose als Entspannungsverfahren zur Reduktion
von Angstzuständen sowie kognitive Verhaltenstherapie, um maladaptive Gedankenmuster
der Patienten zu verbessern, sind ebenfalls Therapiemöglichkeiten in ausgewählten
Einzelfällen [78].
Fazit für die Praxis: Das Ziel der Behandlung ist der Aufbau einer stabilen Arzt-Patienten-Beziehung. Sie
ist die Voraussetzung jeglicher Therapieversuche und die einzige Möglichkeit, ein
Doktor-Hopping und daraus resultierende unnötige diagnostische und therapeutische
Maßnahmen zu verhindern. Gespräche im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung
sowie das Angebot von Entspannungsverfahren sind in einer ambulanten HNO-Versorgung
durchführbar. Hypnose sollte nur im Rahmen eines psychotherapeutischen Settings angewendet
werden. In vielen Fällen wird keine „Heilung”, sondern nur eine „Betreuung” der Patienten
möglich sein. Es ist zu beachten, dass chronische Schmerzzustände zu Persönlichkeitsveränderungen
und Depressionen führen können. Patienten mit Glossodynie sind gegebenenfalls in Zusammenarbeit
mit einer Schmerzambulanz oder einem Schmerztherapeuten zu therapieren. Nicht induzierte
Therapieversuche sind zu vermeiden, da Misserfolge die Symptomatik oft weiter verstärken.
3.3.2 Globus pharyngeus
Die Patienten leiden an einem Kloß- oder Fremdkörpergefühl im Hals, zum Teil auch
verbunden mit einer erhöhten Schleimproduktion und Räusperzwang. Der Ausschluss einer
malignen Erkrankung steht diagnostisch an erster Stelle. Auch ein gastro-ösophagealer
Reflux sollte bedacht werden. Bei den meisten Patienten wird jedoch keine kausale
organ-pathologische Veränderung gefunden. Eine Studie in England fand 5 Tumore bei
699 retrospektiv untersuchten Patienten [79]. Ein psychogenes Globusgefühl ist ein klassisches Beispiel für ein Konversionssyndrom.
Konversion im psychodynamischen Sinn bedeutet, dass das Symptom der Preis ist, den
der Patient bezahlt, weil er starke negative Gefühle wie Angst, Scham, Trauer und
Wut nicht erträgt und nicht wahrhaben will. Das Ich des Patienten drückt die verdrängten
Emotionen in Form eines körperlichen Symptoms aus [4]. Das körperliche Symptom neutralisiert den psychischen Konflikt. Mit dem Globus
verbunden ist zumeist ein Anspannungszustand der pharyngealen und laryngealen Muskulatur,
der sich typischerweise in Stresssituationen verstärkt.
An erster Stelle in der Therapie steht das aufklärende Gespräch nach der sorgfältigen
HNO-Untersuchung. Bei erst seit kurzem bestehender Symptomatik ist damit oft schon
eine Besserung zu erzielen. Interessant ist, dass bei Patienten mit Konversionsstörungen
eine erhöhte Bereitschaft für hypnotische Suggestionen besteht [80]. In einer randomisierten, kontrollierten Studie wurde über ein signifikant im Vergleich
zur Wartegruppe besseres Ansprechen auf eine hypnotische Therapie berichtet, welches
auch im Follow-up nach sechs Monaten stabil war [81]. Bei chronifizierten Beschwerden konnte auch mit Stimmtherapie eine Verbesserung
erzielt werden [82]. Mehrere Einzelfallbeschreibungen und kleinere Studien berichten über Erfolge mit
kognitiver Verhaltenstherapie bei Konversionsstörungen sowohl bei Kindern wie auch
bei Erwachsenen [83]. In schweren Fällen kommt auch eine zusätzliche Behandlung mit Anxiolytika oder
Tranquilizern infrage.
Fazit für die Praxis: Bei diesen Patienten halte ich folgende an verhaltenstherapeutische Instruktionen
angelehnte Maßnahmen für sinnvoll: Sorgfältige Untersuchung, aber keine Flucht in
aufwendige therapeutische Maßnahmen (die Patienten geben in aller Regel willig ihre
Zustimmung auch zu Operationen); Erklären physiologischer und funktioneller Mechanismen
im Zusammenhang mit der Konfliktkonstellation; Akzeptieren der Symptomatik und nicht
versuchen, dem Patienten das Symptom wegzunehmen; erreichbare Ziele setzen, Belohnen
gesunden und Ignorieren krankhaften Verhaltens. Für Hypnosebehandlung und kognitive
Verhaltenstherapie ist eine Überweisung zum Fachpsychotherapeuten erforderlich.
3.3.3 Dysphagie und Phagophobie
Psychosomatische Aspekte und eine Konversionsstörung spielen oft eine Rolle bei oropharyngealen
Schluckstörungen, insbesondere wenn keine organische Ursache gefunden wurde. Betroffen
sind meist Frauen mit einem ängstlich-hypochondrischen Verhaltensmuster. Bei emotionalem
Stress und psychischer Komorbidität von Angst und Depression tritt eine Dysphagie
gehäuft auf [84]. Die Beschwerden treten meist nach einer organisch erklärbaren Schluckstörung wie
einer ausgeprägten Tonsillitis auf und persistieren aber nach Abheilen der Primärerkrankung.
Sie können sich sogar bis zur Schluckphobie, das bedeutet der Unfähigkeit, feste oder
flüssige Nahrung zu sich zu nehmen, steigern [85]
[86]. Die Symptomatik kann auch im Zusammenhang mit einem Globusgefühl auftreten sowie
besonders bei Kindern und Jugendlichen in Kombination mit einer Essstörung. Die Unfähigkeit,
mit kritischen Lebenssituationen fertig zu werden und zu adaptieren, drückt sich umgangssprachlich
in „etwas nicht schlucken können” oder „es bleibt im Halse stecken” aus.
Wegen der unterschiedlichen Formen der verhaltenstherapeutischen Ansätze sind Vergleiche
schwierig. Kleinere Studien und Einzelfallberichte geben positive Effekte an, größere
Gruppenprogramme ergaben keinen Wirksamkeitsnachweis [87]. Verhaltenstherapeutisch orientierte Übungsprogramme mit Änderungen der Ernährung
und Schluckübungen sind eine Möglichkeit, diesen Patienten zu helfen [88]
[89]. Phagophobie ist gekennzeichnet durch die Angst vor dem Schlucken und dadurch ausgelöste
Schluckbeschwerden. Wenn die Angsterkrankung im Vordergrund steht, ist eine psychologische
Diagnostik unumgänglich. Eine kleine Studie mit fünf Schulkindern, die an Globusgefühlen,
Dysphagie und Phagophobie litten, beschreibt den erfolgreichen Einsatz von Hypnose
und Hypnotherapien im Rahmen verhaltenstherapeutischer Interventionen [90]. Auch für Tumorpatienten, die an psychogen überlagerten Schluckstörungen leiden,
kommt dieser therapeutische Ansatz infrage. Bei ausreichenden kognitiven Fähigkeiten
des Patienten ist auch ein Videofeedback, welches bereits erfolgreich zur Schluckrehabilitation
nach Operationen eingesetzt wurde, zu überlegen [91].
Fazit für die Praxis: Auch von dieser Patientengruppe wird oft zuerst der HNO-Arzt konsultiert. Seine Aufgabe
ist der Ausschluss einer behandlungsbedürftigen organischen Erkrankung und die Beratung
über weitere Therapieoptionen wie zum Beispiel Schluckübungsprogramme, Videofeedback,
Hypnotherapien und kognitive Verhaltenstherapie. Je unbefangener der HNO-Kollege darüber
informiert, umso leichter wird es dem Patienten fallen, eine Überweisung zum Fachpsychotherapeuten
zu akzeptieren. Für die Gesprächstechnik gilt das beim Globus pharyngeus bereits Gesagte.
3.4 Erkrankungen des Larynx
3.4.1 Psychogene Dysphonie und psychogene Aphonie
Patienten mit psychogenen Stimmstörungen konsultieren oft als erstes einen HNO-Arzt
oder Phoniater, da sie eine organische Ursache ihrer Beschwerden annehmen. Im weiteren
Verlauf wird dann zumeist die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung
ersichtlich. Wichtig ist, dass bei der HNO-ärztlichen Untersuchung die Bereitschaft
des Patienten für eine psychotherapeutische Intervention gefördert werden kann. Psychogene
Stimmstörungen sind oft verbunden mit Angst, Depression, Konversionssymptomen und
Persönlichkeitsstörungen. Sie können psychodynamisch als kreative Fähigkeit eines
Menschen gesehen werden, mit einem chronischen inneren Konflikt umzugehen, und die
Reaktion auf ein traumatisches Stresserlebnis sein. Oft beginnt die Symptomatik mit
Heiserkeit nach einem viralen Infekt [92]. Die hypofunktionelle Form der Aphonie ist häufiger als die hyperfunktionelle. Wenn
die Störung noch nicht lange besteht, ist der psychische Konflikt für den Patienten
oft noch bewusstseinsnah und damit nachvollziehbar. Eine symptomzentrierte Kurzzeit-Psychotherapie
ist dann schon ausreichend. Eine konfliktaufdeckende analytische Therapie wird von
vielen Patienten nicht gewünscht [93]. Bei hyperfunktionellen Stimmstörungen kann die Kombination von logopädischer Behandlung
mit Biofeedback und kognitiver Verhaltenstherapie erfolgreich sein [94]. Eine kleine neue Pilotstudie kam zu dem Ergebnis, dass wenn Logopädie alleine keine
ausreichende Verbesserung erzielt, ein laryngeales und velopharyngeales Biofeedback-Training
weiterhelfen kann [95]. Biofeedback ermöglicht den Patienten, die Veränderungen der eigenen Stimme während
einer logopädischen Behandlung, die sonst subjektiv schwer zu erfassen sind, besser
beurteilen zu können. Bei interpersonellen Konflikten beruflicher oder familiärer
Art ergaben sich in einer Studie mit 30 Patienten gute Erfolge mit einer Kombination
aus Stimmtherapie und der Förderung kommunikativer Fähigkeiten [96]. Über Hypnotherapie gibt es nur wenige Einzelfallberichte mit zum Teil nur temporären
Verbesserungen.
Fazit für die Praxis: Die Abgrenzung zwischen funktionellen und psychogenen Beschwerden ist problematisch,
insbesondere, wenn es sich um gemischte Krankheitsbilder mit einer organischen und
einer psychischen Komponente handelt [97]. Generell kann man davon ausgehen, dass je kürzer die Beschwerden bestehen, der
Patient umso eher mit der Möglichkeit psychischer Auslösefaktoren konfrontiert werden
kann. Gerade bei der psychogenen Aphonie kann durch das Provozieren stimmhafter Laute
wie Husten oder Räuspern ein Überraschungseffekt und oft auch eine Besserung der Symptomatik
erzielt werden. Empathisches Verhalten des Arztes und Angstreduktion sind entscheidende
Therapieziele. Entspannungsverfahren wie auch Biofeedback sind daher sinnvoll auch
in Kombination mit Logopädie, mit dem Ziel, die oft pathologische Muskelanspannung
im Bereich der Larynxregion zu reduzieren. Bei ausgeprägten hypofunktionellen Störungen
steht die Stimmtherapie im Vordergrund. Tiefer gehende seelische Konflikte sind nur
durch psychotherapeutische Interventionen, verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch
fundiert, behandelbar.
3.4.2 Laryngeale Dysfunktionen: Laryngospasmus und Laryngismus
Paroxysmal auftretender Laryngospasmus bedeutet ein periodisches Auftreten von Atemnot
in Kombination mit einer Stimmstörung, gekennzeichnet durch eine paradoxe, inspiratorische
Adduktion der Stimmbänder. Laryngismus oder laryngeale Dystonie ist ein permanent
vorhandener Anspannungszustand der laryngealen Muskulatur, der sich klassischerweise
auf Injektionen mit Botulinumtoxin A bessert, der Laryngospasmus jedoch nicht. Es
handelt sich um Krankheitsbilder mit organisch nachweisbaren Befunden, die allerdings
psychisch überlagert sein können. Es wurde bisher kein psychogener Auslösemechanismus
nachgewiesen. Depressive Verstimmungen und Angstzustände wurden bei diesen Patienten
gehäuft beobachtet, aber als psychische Reaktion auf die Organerkrankung interpretiert,
die sich auch nach einer Botulinumtoxinbehandlung besserte [98]. Stimmtherapie in Kombination mit Psychotherapie sowie ausführliche Aufklärung des
Patienten und seiner Familie über die Ätiologie der Erkrankung sind sinnvolle therapeutische
Maßnahmen, die aber auch nicht immer befriedigende Ergebnisse zeigen [99]
[100].
Fazit für die Praxis: Bei diesen Krankheitsbildern steht die organisch orientierte Therapie im Vordergrund.
Begleitend erscheinen Entspannungsverfahren, Biofeedback und - bei psychischer Komorbidität
wie Angst und Depression - psychotherapeutische Interventionen, wie bereits bei der
psychogenen Dysphonie genannt, als sinnvoll.
3.5 Bruxismus und temporo-mandibuläre Dysfunktion
Beide Erkrankungsmodalitäten können auch als orale Parafunktionen bezeichnet werden,
sie haben gemeinsame Aspekte und zumeist eine multifaktorielle Ursache. Die Patienten
suchen oft wegen Ohrenschmerzen oder myofaszialen Schmerzen einen HNO-Arzt auf, der
keinen pathologischen Befund in diesem Bereich erheben kann. Manualtherapeutisch ausgebildete
Kollegen können in Zusammenarbeit mit einem Zahnarzt oder Kieferorthopäden vorhandene
Malokklusionen und Asymmetrien im Bereich des Kiefergelenks therapeutisch angehen.
Bei therapieresistenten Patienten müssen auch psychosomatische Komponenten bedacht
werden. In mehreren neueren kontrollierten Studien zeigte sich ein Zusammenhang von
Bruxismus mit psychischen Faktoren wie Depression, Panikstörungen, ängstlicher Erwartungshaltung
und besonders bei Frauen einer erhöhten Empfindlichkeit gegen Stressbelastung [101]
[102]
[103]. Unzufriedenheit im Beruf, aber auch Schichtarbeit, führten zu vermehrtem Auftreten
von Bruxismus [104].
Infolge dieser Ergebnisse werden, und dies auch seit vielen Jahren, Entspannungsverfahren,
Biofeedback und psychotherapeutische Interventionen empfohlen [105]. Bei Kindern und einem erhöhten Angstlevel sind muskelrelaxierende Verfahren eine
sinnvolle Therapieoption [106]. Die Mehrzahl der Patienten mit Bruxismus und mit temporo-mandibulärer Dysfunktion
spricht positiv auf muskelrelaxierende Therapie an, sei es in Form von Entspannungsverfahren
oder mit Hilfe von Biofeedback-Methoden [107].
Kognitive Verhaltenstherapie mit dem Erlernen von Coping-Strategien sowie Stress-Management
sind weitere Therapieempfehlungen, ebenso der kurzfristige Einsatz von Benzodiazepinen
[108]
[109]. Eine Besserung der Symptomatik durch Hypnose ist nur in Einzelfällen beschrieben
worden.
Fazit für die Praxis: Die Aufklärung der Patienten über physiologische Vorgänge beim Kauen und Zähneknirschen
und die Zusammenarbeit mit einem Zahnarzt steht am Beginn der Behandlung. Dann folgen
die verschiedenen Möglichkeiten der Entspannungsverfahren und Stressbearbeitung, wobei
die Arbeitsbedingungen des Patienten von Bedeutung sein können. Wenn Patienten es
wünschen, kann auch Hypnose als Methode der Tiefenentspannung in Erwägung gezogen
werden. Therapieresistente Fälle oder Patienten mit einer psychischen Komorbidität
benötigen psychotherapeutische Behandlung auch unter dem Aspekt, dass die Entwicklung
eines chronischen Schmerzsyndroms verhindert wird.
3.6 Dysmorphophobie
Bei der Zunahme der Nachfrage nach ästhetisch-plastischen Eingriffen auch im HNO-Bereich
sind Kenntnisse über das psychiatrische Krankheitsbild der Dysmorphophobie oder körperdysmorphen
Störung von Vorteil. Es handelt sich dabei um Patienten, die zwanghaft auf der Suche
nach der ewigen Jugend mit ihrer körperlichen Attraktivität („Dorian-Gray-Syndrom”)
beschäftigt sind. Sie sind fokussiert auf kleine vorhandene oder eingebildete Mängel
ihrer körperlichen Erscheinung [110]. Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem subjektiven Erleben des Patienten
und den objektivierbaren Befunden. Emotionaler Stress und sozialer Rückzug sind oft
die Folgen. Die Patienten drängen auf chirurgische Korrekturen, besonders betroffen
im HNO-Bereich sind die Nase, die Augenlider, die Ohrmuscheln sowie auch das gesamte
Gesicht. Typischerweise sind diese Patienten oft voroperiert, aber niemals damit zufrieden.
Depressionen und Angstzustände bis zur sozialen Phobie sind häufige Komorbiditäten.
Fazit für die Praxis: Da es sich um ein psychiatrisches Krankheitsbild handelt ist die Überweisung zum
Psychiater sinnvoll, nur meist wird der Patient diesem Rat nicht folgen. Der HNO-Arzt
kann diese Störung nicht behandeln, sie wird auch durch eine plastisch-ästhetische
Maßnahme nicht verbessert. Der Chirurg riskiert eher eine Klage, weil der Patient
mit dem Ergebnis immer unzufrieden sein wird. Daher ist es wichtig, diese Störung
aufgrund der oben genannten Kriterien zu erkennen und gegebenenfalls eine Operation
abzulehnen.
3.7 Maligne Erkrankungen des HNO-Gebietes
Die Erkrankung „Krebs” löst in nahezu jedem Menschen existenzielle Ängste aus. Die
meisten unserer Patienten verbinden damit Schmerzen, Leiden und Tod. Die Mitteilung
der Diagnose führt bei immerhin bis zu einem Drittel der Tumorpatienten zu einem post-traumatischen
Stresssyndrom im Sinne eines psychischen Traumas [111]. Zusätzlich zu der organbedingten Störung kommt es im Laufe einer lebensbedrohlichen
Erkrankung oft zu einer erheblichen Reduktion der Lebensqualität meist durch Depressionen
und Angstzustände. Die bösartigen Tumore des HNO-Bereiches sind noch durch zusätzliche
Besonderheiten gekennzeichnet: 1. Sie sind oft sichtbar oder die Behandlung hinterlässt
sichtbare Narben, das bedeutet, die Patienten sind für ihre Umwelt stigmatisiert und
2. in vielen Fällen von Pharynx- und Larynxtumoren ist die Kommunikations- und Schluckfähigkeit
nach der Behandlung deutlich beeinträchtigt. In Studien zeigen Patienten nach Laryngektomie
erhebliche Einschränkungen im Bereich der sozialen Akzeptanz, der sozialen Aktivitäten,
der sexuellen Aktivität sowie der Kommunikationsfähigkeit [112]. Zwanzig bis vierzig Prozent der Tumorpatienten erleiden eine erhebliche emotionale
Beeinträchtigung. Problematisch ist, dass in einer Studie bei Patienten mit HNO-Tumoren
und Patienten mit niedrigem sozialen Status das ärztliche Erkennen der Distressbelastung
besonders schlecht und infolgedessen die psychosoziale Unterstützung unzureichend
war [113]. Besonders jüngere Patienten erleben eine stärkere Beeinträchtigung der Lebensqualität
und mehr Angst als ältere. Sie benötigen daher mehr Unterstützung [114]. Angst und Depressivität sind insbesondere präoperativ stark erhöht, bei Frauen
stärker als bei Männern. Eine ungünstige Krankheitsverarbeitung liegt bei defensiven
Coping-Strategien wie Misstrauen, kognitiver Vermeidung und Gefühlskontrolle vor.
Suchtverhalten, bei HNO-Tumor-Patienten besonders ausgeprägt in Bezug auf Alkohol
und Nikotin, gehört auch dazu [115].
Die Interventionsmöglichkeiten sind hauptsächlich vom Zeitpunkt abhängig. Für die
Patienten steht die organbezogene Behandlung an erster Stelle und sie sind oft erst
nach erfolgter Behandlung und Rehabilitation bereit, sich tiefer mit den Ereignissen
auseinander zu setzen und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bei HNO-Patienten
kommt oft noch die Rehabilitation der Schluckfunktion, der Sprechfunktion und der
Stimme soweit wie möglich dazu. Verschiedene Therapieformen haben sich zur Intervention
bewährt: supportive Einzelberatung und Krisenintervention, alle Formen meditativer
oder entspannungsfördernder Maßnahmen, verhaltenstherapeutische Maßnahmen (zentriert
auf Entspannung, Erlernen von Coping-Strategien, positives Denken, „reframing”, kognitive
Umstrukturierung etc.), ausgedehnte tiefenpsychologisch fundierte Einzelbehandlung
sowie Paar- und Gruppentherapien [116]. Nach wie vor wird die Frage, ob durch psychosoziale Interventionsmaßnahmen auch
die Überlebenszeit beeinflusst wird, sehr kontrovers diskutiert. Aber eine Verbesserung
der emotionalen Situation Betroffener sollte im Fokus des Interesses der Behandlung
stehen. Dabei geht es besonders um die Reduktion von Angst, Depression und Verzweiflung,
einen Zuwachs des Gefühls an Kontrolle, die Vermittlung von Wissen über die Erkrankung
und ihre Behandlungsmöglichkeiten, eine Stärkung des Selbstwertgefühls sowie eine
Verbesserung der Compliance und Lebensqualität.
Fazit für die Praxis: Der behandelnde HNO-Arzt ist für den Tumorpatienten der wichtigste Ansprechpartner,
er behandelt den Tumor, er sichert das Überleben. Er sollte über das Ausmaß der individuellen
psychischen und sozialen Beeinträchtigungen seines Patienten informiert sein, Empathie
offen zeigen, erkennen können, ob sein Patient einen besonderen Betreuungsbedarf hat
und die weiteren notwendigen Maßnahmen koordinieren [117]. Das jedem Menschen eigene Körperbild ist durch den Tumor und noch verstärkt durch
Operation und Bestrahlung erheblich gestört. Des Weiteren ist die Sprechfähigkeit
oft beeinträchtigt. Ich halte daher auch körperbetonte Therapieformen, bei denen der
Patient nicht reden muss, für geeignet.
Der Umgang mit Sterben und Tod führt auch den Arzt oft an die Grenzen seiner psychischen
Belastbarkeit. Jeder todkranke Patient hat das Recht, über seine Ängste und Nöte zu
reden, jeder Arzt die Pflicht, ihm diese Möglichkeit zu gewähren. Dies wird ihm jedoch
nur gelingen, wenn er sich selbst mit dieser Thematik beschäftigt hat und er eigene
Ängste nicht verdrängen muss oder - noch schlimmer - auf den Patienten überträgt.
Selbsterfahrung und Balintgruppenarbeit sollten für onkologisch tätige Ärzte eine
Pflicht sein.
4 Übersicht therapeutischer Verfahren
4.1 Entspannungsverfahren
4.1.1 Autogenes Training
Autogenes Training (AT) ist ein Verfahren zur konzentrierten Selbstentspannung, das
als Einzel- sowie als Gruppentherapie möglich ist. Mittels aufeinander aufgebauter
Übungen erfolgt eine Sensibilisierung für körperliche Vorgänge und deren Beeinflussung.
Es ist ein von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen anerkanntes Verfahren und
damit im Rahmen eines Zusatzbudgets beziehungsweise über GOÄ abrechenbar.
Voraussetzungen für die Durchführung und Abrechnung sind von den Landesärztekammern
anerkannte Fortbildungskurse und ein Antrag an die jeweilige kassenärztliche Vereinigung.
4.1.2 Progressive Muskelrelaxation
Entspannung wird bei der Progressiven Muskelrelaxation (PM) durch den Wechsel von
Anspannung und Entspannung bestimmter Muskelgruppen erreicht. Das natürliche Entspannungserlebnis,
das auf eine starke Anspannung erfolgt, wird genutzt und in Entspannungssuggestionen
eingebaut. Das Verfahren kann von Therapeuten, aber auch in Form von Tonbändern oder
in der Kombination, genutzt werden.
Die Progressive Muskelrelaxation ist ein von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen
anerkanntes Verfahren und damit im Rahmen eines Zusatzbudgets abrechenbar. Es gibt
eine ganze Reihe von Studien, welche die Wirksamkeit bei psychosomatischen Erkrankungen
belegen. Die Voraussetzungen für die Durchführung und Abrechnung sind analog zum Autogenen
Training.
4.1.3 Biofeedback
Biofeedback bedeutet eine Rückmeldung der Aktivität physiologischer Vorgänge in Form
von Signalen optischer, akustischer oder anderer Art, mit dem Ziel, die eigene bewusste
Steuerung scheinbar autonomer körperlicher und seelischer Vorgänge zu ermöglichen.
Biofeedback ist ein nur von den privaten Krankenkassen bezahltes Verfahren und wird
fast immer im Einzelsetting durchgeführt. Der Nutzen für die klinische Anwendung ist
belegt, das Wirkungsspektrum wurde früher jedoch oft überschätzt [118]. Die Voraussetzung für die Durchführung des Verfahrens ist die Anschaffung eines
Gerätes. Die Einweisung wird in der Regel von den Firmen übernommen. Eine weitere
Ausbildung ist nicht erforderlich.
4.1.4 Yoga, Qi Gong, Tai Chi
Yoga ist die wohl älteste, seelenheilkundliche Beeinflussung und umfasst ein System,
das durch Seelentechniken und körperliche Praktiken zu höchster Weisheit führen und
von Leid befreien will. Die Hauptanwendung ist nach wie vor im nicht-therapeutischen
Bereich, allerdings werden zuverlässige und auch langfristige Verbesserungen besonders
bei Angst- sowie Spannungszuständen gefunden [118]. Es gibt keine Abrechnungsmöglichkeiten im Rahmen des EBM oder der GOÄ. Die Krankenkassen
bezuschussen aber oft entsprechende Kurse an den Volkshochschulen oder in Fitnessstudios.
Als alternatives Heilverfahren erweckt Qi Gong immer mehr Aufmerksamkeit. Es bedeutet
frei übersetzt „Energieübung” und besteht aus harmonischen Bewegungsfolgen, Atemübungen
und einer konzentrierten Lenkung der Vorstellungskraft. Die Haupteinsatzbereiche sind
die Erhaltung der körperlichen und geistigen Energie sowie, im Falle einer Erkrankung,
die Wiedererlangung der Leistungsfähigkeit und Verbesserung der Lebensqualität. Für
die Abrechnung und Durchführung gilt das für Yoga bereits Gesagte.
Tai Chi, bei uns auch als „Schattenboxen” bekannt, umfasst Bewegungsübungen, die Atmung
und Bewegung in einem strengen Ritual vereinigen. Es hat eine entspannende Wirkung
und fördert die Körperkondition und Koordination.
Für die Abrechnung und Durchführung gilt das für Yoga bereits Gesagte.
4.2 Hypnose
Hypnose ist ein ärztliches, psychotherapeutisches Verfahren. Es bedient sich der therapeutischen
Nutzung von Trancezuständen und die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, problematischen
Prozessen oder traumatischen Erlebnissen einen neuen Kontext zu geben. Es ist ein
suggestives Verfahren. Eine Trance ist ein natürliches Phänomen, das bei vielen Menschen
induziert werden kann. In diesem Zustand können die Ressourcen eines Menschen erweitert
und gestärkt werden. Hypnotherapeutische Verfahren können gut mit anderen Entspannungsverfahren
wie zum Beispiel Progressiver Muskelrelaxation kombiniert werden.
Die Anwendung setzt eine Weiterbildung an anerkannten Fortbildungsinstituten voraus.
Es kann dann bei entsprechender Qualifikation des Arztes sowohl über die gesetzlichen
als auch privaten Krankenkassen abgerechnet werden.
4.3 Gespräche im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung
Die „Psychosomatische Grundversorgung” ist eine Zusatzqualifikation (keine Zusatzbezeichnung),
die in von der jeweiligen Landesärztekammer anerkannten Kursen erworben werden kann.
Voraussetzung sind mindestens 50 Stunden Weiterbildung, davon 20 Stunden Theorie und
30 Stunden Übungen zur verbalen Intervention. Des Weiteren werden 30 Stunden Balintgruppen
benötigt. Es gibt mittlerweile auch private Versicherungen, die bei Abrechnung psychotherapeutischer
Ziffern die Qualifikation des Arztes fordern.
4.4 Verhaltenstherapie
Die Verhaltenstherapie geht davon aus, dass das Umgehen mit Erfahrungen im Leben und
damit auch mit Erkrankungen durch die erlebten Konsequenzen und ihre Integration in
das Selbst erklärbar ist. Durch eine Neubewertung von Situationen und dem Lernen neuer
Verhaltensweisen oder angemessener Problemlösestrategien gelingt es, Krankheitssymptome
oder ihre Wahrnehmung zu verändern. Körperwahrnehmung, Krankheitsbewältigung und Patientenschulung
sind bei Asthma und Neurodermitis bereits wissenschaftlich evaluiert in die Therapie
integriert [72].
Zur Durchführung der Verhaltenstherapie wird entweder der Facharzt für Psychotherapie
oder die Zusatzbezeichnung Psychotherapie benötigt. Diese Therapieform wird oft auch
von ausgebildeten Psychologen durchgeführt. Die Ausbildungsrichtlinien und ermächtigten
Institute sind bei den jeweiligen Landesärztekammern zu erfragen.
4.5 Tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie
Die Tiefenpsychologie und Analyse sehen die Erfahrungen eines Menschen in den ersten
Lebensjahren als Schlüssel zum Verständnis seines Verhaltens und Erlebens. Neurotische
Störungen wie Depressionen oder auch Angststörungen sind Behandlungsindikationen.
Zur Durchführung dieser Therapie wird entweder der Facharzt für Psychotherapie oder
die Zusatzbezeichnung Psychotherapie benötigt. Die Ausbildungsrichtlinien und ermächtigten
Institute sind bei den jeweiligen Landesärztekammern zu erfragen.
Eine tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie hat ein festes Setting, das bedeutet
immer zur gleichen Zeit ein- bis zweimal pro Woche eine Sitzung von 50 Minuten. In
der Regel werden mindestens 25 Stunden benötigt, in schwierigen Fällen können es aber
auch mehr als hundert sein.
Für den HNO-Arzt zu beachten sind die Ergebnisse einer neueren Studie zum Stand der
ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland [119]. Patienten warten im Durchschnitt 4,6 Monate auf eine Psychotherapie und jeder zweite
Patient, der eine Therapie haben möchte, wird abgelehnt. Aufgrund der unterschiedlichen
Bezahlung der gesetzlichen und privaten Krankenkassen warten die gesetzlich versicherten
Patienten länger als Privatpatienten auf einen Therapieplatz.
4.6 Psychopharmaka
Die Gabe von Psychopharmaka kann adjuvant zu psychosomatischen Therapieverfahren sinnvoll
sein, insbesondere wenn die Patienten zusätzlich zu ihren körperlichen Beschwerden
unter starken Angstgefühlen und/oder Depressionen leiden.
Die Verordnung ist bei akuten, reaktiven Beschwerden auch durch den HNO-Arzt möglich,
sollte aber nicht ohne begleitende, stützende Gespräche erfolgen. Eine psychiatrische
Konsiliaruntersuchung ist bei allen schwereren psychischen Erkrankungen, bei Therapieresistenz
oder Verläufen über drei Monate erforderlich.
Geeignete Medikamente für Angststörungen sind Benzodiazepine (Bromazepam-Lexotanil®,
Lorazepam-Tavor®), wobei das Suchtpotenzial zu beachten ist und der Patient über dieses
auch aufgeklärt werden muss. Bei Depressionen sind eher Neuroleptika angezeigt, wobei
besonders bei Anspannungs- und Unruhezuständen die neueren sedierenden Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
(SSRI) aufgrund des geringen Nebenwirkungsspektrums zu bevorzugen sind [120]. Ein Suchtpotenzial ist hier zu vernachlässigen.