Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(10): 501-502
DOI: 10.1055/s-2005-863082
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Patientensicherheit

Patient safetyM. Rothmund1
  • 1Klinik für Visceral- Thorax- und Gefäßchirurgie, Klinikum der Philipps-Universität Marburg
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eingereicht: 15.12.2004

akzeptiert: 16.12.2004

Publication Date:
03 March 2005 (online)

Patientensicherheit ist seit der Publikation des schockierenden Berichts des „Institute of Medicine” (IOM) der USA „To err is human” im Jahre 1999 eines der wichtigen Themen in den Gesundheitssystemen der industrialisierten Welt. Nach dem Bericht kommen in amerikanischen Krankenhäusern häufig Fehler der unterschiedlichsten Art vor und führen, so schätzen die Autoren, zu mindestens 44 000, möglicherweise 98 000 Todesfällen pro Jahr. Nimmt man die letztgenannte Zahl an, gehören Fehler im Krankenhaus zu den zehn häufigsten Todesursachen und rangieren damit vor Brustkrebs, AIDS und Verkehrsunfällen [1] [6].

Die Öffentlichkeit wird vor allem auf das Thema aufmerksam, wenn ein medizinischer „GAU” passiert. Wenn eine neue, ungenügend geprüfte Therapie zu teilweise katastrophalen Ergebnissen führt (z. B. Robodoc), wenn aufgrund einer Seitenverwechslung ein gesunder Lungenlappen entfernt oder ein falsches Bein amputiert oder wenn ein inkompatibles Herz transplantiert wird [3]. Die operative Medizin ist hier besonders exponiert, weil Fehler und Konsequenzen einfacher zu durchschauen und auch eher nachzuweisen sind.

Nicht nur deshalb, sondern auch weil der Anspruch, möglichst wenig Fehler zu machen, in den operativen Fächern besonders groß sein muss, hat die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie als erste Fachgesellschaft „Patientensicherheit” zum Leitthema ihres Jahreskongresses gemacht, vor allem aber, um über Strategien zur Fehlervermeidung nachzudenken. Fehler in Diagnose und Therapie führen überall in der Medizin zu unerwünschten Ereignissen, nicht nur in der Chirurgie, nicht nur in Krankenhäusern. Selten sind sie Folge eines groben Fehlers eines Einzelnen. Viel häufiger sind unerwünschte Ereignisse die Konsequenz kleiner, sich zu einer gefährlichen Reihe addierender Unaufmerksamkeiten oder Folge von Kommunikationsstörungen, etwa inkompletten Übergaben bei Schichtwechsel des ärztlichen oder pflegerischen Personals. Unerwünschte Ereignisse sind somit unbeabsichtigte und bei adäquatem Verhalten vermeidbare Schädigungen von Patienten während einer Behandlung, die den Tod, lebenslängliche Beeinträchtigung oder zumindest eine Verlängerung des Krankenhaus-Aufenthaltes nach sich ziehen [8].

Andere Bereiche, z. B. Industrie und Luftfahrt, sind uns Medizinern in Sachen Fehlerprävention und -erkennung um Jahrzehnte voraus. Nach L. Leape, der sich schon seit vielen Jahren mit Fehlern, ihren Ursachen und ihrer Vermeidung befasst, hat man im Krankenhaus ein Risiko von 1 : 200, eine schwere oder gar tödliche Komplikation zu erfahren; im Gegensatz zu einem Risiko von 1 : 2 000 000, wenn man ein Flugzeug besteigt (zitiert nach 5). Nach einer australischen Untersuchung erfahren 16,6 % aller Krankenhaus-Patienten ein unerwünschtes Ereignis [13], in Londoner Hospitälern sind es 11,7 % [12]. Eine schon ältere Untersuchung aus der Gruppe von Leape zeigt, dass Behandlungsfehler bei 1 % der Patienten zu bleibenden Schäden oder zum Tod führen [4]. Aus Deutschland gibt es keine vergleichbaren Zahlen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Situation ähnlich ist wie in anderen Ländern.

Es müssen dringend Schritte unternommen werden, um Anzahl und Schwere von Fehlern zu reduzieren:

1. Zunächst muss eine Fehlerkultur geschaffen werden, die es zulässt, über unerwünschte Ereignisse und Situationen, die fast zu ihnen geführt hätten („near misses”), offen zu sprechen, mit dem Ziel, Mechanismen und Verhaltensweisen zu erzeugen, die Fehler künftig vermeiden. Fehler dürfen nicht mehr unter den Teppich gekehrt und offiziell die Null-Fehler-Mentalität vertreten werden. Nach einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und des Berufsverbandes findet nur in 20 % der Kliniken, die junge Chirurgen ausbilden, eine Morbiditäts- und Mortalitätskonferenz statt. In den anderen wird über eventuelle Fehler nicht strukturiert oder gar nicht gesprochen. In den angelsächsischen Ländern wäre das ein Grund, einem Chef die Weiterbildungsermächtigung zu entziehen.

2. In Krankenhäusern müssen Fehlermeldesysteme eingerichtet werden. Nach dem Prinzip „no name, no shame, no blame” muss es möglich sein, anonym oder auch unter Nennung des Namens und ohne Furcht vor Bestrafung des Melders oder des „Schuldigen”, unerwünschte Ereignisse und „near misses” einer Stelle zu melden, die dann strukturelle Konsequenzen zieht. Scheidegger hat im deutschsprachigen Raum die Einrichtung von „Critical Incident Reporting”-Systemen (CIRS) propagiert [11]. CIRS verbreiten sich auch langsam in deutschen Krankenhäusern. Natürlich muss es auch CIRS für niedergelassene Ärzte geben [10].

3. Ferner bedarf es organisatorischer und erzieherischer Maßnahmen: Vermeidung überlanger Arbeitszeiten ohne Pause, Einsatz der Informationstechnologie (der „Palm” am Krankenbett), Prävention nosokomialer Infektionen und Durchführung von Operationen durch adäquat ausgebildete Chirurgen. Dazu gehört auch, dass wir eigene Daten aus unserem Gesundheitssystem generieren müssen, um die Ausgangslage in Deutschland zu beschreiben.

4. Es ist auch notwendig, mit Kostenträgern und Haftpflicht-Versicherern zu einem Konsens zu kommen, wie mit eklatanten Folgen von Fehlern, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, umzugehen ist. Es muss möglich sein, dem Patienten und seinen Angehörigen gegenüber, aber z. B. auch in Pressekonferenzen klar zu sagen, was geschehen ist, ohne Gefahr zu laufen, dass Versicherer und Kassen ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.

Letzlich muss klar sein, dass Fehlervermeidung nicht durch Aussortierung schwarzer Schafe erreichbar ist - obwohl dies gelegentlich auch einmal nötig sein wird. Vielmehr müssen die Systeme geändert werden. Wir brauchen redundante Sicherungsmechanismen, müssen kritische Situationen, in denen Fehler passieren können, durch Simulation und Analyse üben und wir müssen die richtigen Mitarbeiter durch die richtigen Methoden auswählen, die in sensiblen Bereichen der Gesundheits-Versorgung beschäftigt werden sollen. Die Fluggesellschaften machen es uns vor [9].

Der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal führt allerdings dazu, dass die Auswahl häufig begrenzt ist. Die Ausbildung derer, die sich für Gesundheitsberufe interessieren, kann jedoch verbessert werden, z. B. die Weiterbildung von Ärzten. Es reicht nicht aus, von Seiten der Ärztekammern für eine Erteilung einer Weiterbildungs-Ermächtigung die Bettenzahl sowie Zahl und Art von Eingriffen, die in dieser Klinik durchgeführt werden, als entscheidende Bewertungskriterien heranzuziehen. Es muss auch gefragt und gelegentlich vor Ort überprüft werden, wie weitergebildet wird. Interessiert sich der Chef für Weiterbildung? Gibt es zugängliche Fachliteratur? Wird man zum Lesen stimuliert? Ist die Weiterbildung in dieser Klink strukturiert? Der Beitrag von Ansorg et al. in diesem Heft (S. 508-513) stellt die Ergebnisse einer Befragung von mehr als 500 Chirurgen in Weiterbildung vor [7].

Auch in der Fortbildung kann vieles besser werden. CME-Punkte sammeln ist nicht einmal die halbe Miete. Selbst wenn die meisten Fortbildungsveranstaltungen gut und Industrie-unabhängig wären, ist noch nicht gesagt, dass der Zuhörer das Vorgetragene in seinem Berufsalltag umsetzt. Continuous Professional Development (CPD) ist wichtiger als CME und wird in vielen Ländern schon überprüft. Werden neue Erkenntnisse wirklich angewandt? Sind die Krankenakten - elektronisch oder auf Papier - ordentlich geführt? Werden Arztbriefe informativ und kurz zeitnah geschrieben? Sind Zuweiser und Patienten mit dem Arzt zufrieden? Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat zusammen mit dem Berufsverband hier ein Pilotprojekt gestartet.

Es muss auch über bauliche und apparative Voraussetzung für Patientensicherheit gesprochen werden. Sind im komplexen High-tech-System Krankenhaus die Geräte geprüft, der Notfallkoffer regelmäßig gewartet, Ärzte und Schwestern in dem Umgang mit ihnen eingewiesen?

Patientensicherheit ist ein weites Feld. Als erster Schritt wurde Ende letzten Jahres das „Aktionsbündnis Patientensicherheit” gegründet. Es wird getragen von der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, den Kassen, dem Deutschen Pflegerat und anderen und wird von einer Reihe von Experten beraten. Ziel ist es, die obengenannten Schritte einzuleiten, also die Entstehung einer Fehlerkultur, die Einrichtung von CIRS in Krankenhäusern und Praxen und mehr. „Patientensicherheit” wird nicht nur auf dem Chirurgenkongress, sondern auch auf dem Deutschen Ärztetag ein Hauptthema sein. Skepsis ist angebracht, sollte jedoch nicht entmutigen. Berwick sieht vier Gründe, warum Medizin in den USA nicht sicherer werden kann: 1. Die meisten Akteure im Gesundheitwesen sehen das Problem nicht. 2. Wenn es gesehen wird, sind die Schlussfolgerungen steinzeitlich. 3. Erhöhung von Patientensicherheit kostet Geld, und 4. der radikale Wandel der Denkweise wird schwer umzusetzen sein [2]. Fünf Jahre nach dem IOM-Report fühlen sich Patienten in den USA nicht sicherer, obwohl er viel Beachtung gefunden hat. Im Jahre 2004 berichten ein Drittel der Befragten über unerwünschte Ereignisse bei ihrer eigenen Behandlung oder bei Verwandten. 40 % glauben, dass die Qualität des Gesundheitsystems in den letzten fünf Jahren schlechter wurde und 50 % machen sich Sorgen über Patientensicherheit [1].

Wir sollten es in Deutschland besser machen. Es gibt etwas zu tun, lasst es uns anpacken.

Literatur

  • 1 Altmann D E, Clancy C, Blendon R J. Improving patient safety - five years after the IOM report.  New Engl J Med. 2004;  351 2041
  • 2 Berwick D M. Errors today and errors tomorrow.  New Engl J Med. 2003;  348 2570-2571
  • 3 Campion E W. A death at duke.  New Engl J Med. 2003;  348 1083-1084
  • 4 Hiatt H H, Barnes B A, Brennan T A, Laird N W, Lawthers A G, Leape L L. et al . A study of medical injury and medical malpractice.  New Engl J Med. 1989;  321 480-484
  • 5 Hopkins Tanne J. AMA moves to tackle medical errors.  Brit Med J. 1997;  315 970
  • 6 Kohn L T, Corrigan J M, Donaldson M S. To err is human. Building a Safer Health Care System, National Academy Press, Washington, D.C 1999
  • 7 Ansorg J, Hassan  I, Fendrich V, Polonius M J, Rothmund M, Langer P. Qualität der chirurgischen Weiterbildung in Deutschland.   Dtsch Med Wochenschr. 2005;  130 508-513
  • 8 Michel P, Quenon J L, deSarasqueta A M, Scemana O. Comparison of three methods for estimating rates of adverse events and rates of preventable adverse events in acute care hospitals.  Brit Med J. 2004;  328 199-202
  • 9 Müller M. Safety lessons taken from the airlines.  Brit J Surg. 2004;  91 393-394
  • 10 Rohe J, Beyer M, Gerlach F M. Erstes Fehlerberichts- und Lernsystem für Hausärzte. Warum künftig jeder Fehler zählt.  Der Hausarzt. 2004;  18 62-63
  • 11 Scheidegger D. Voraussetzungen für eine Risikokultur im Spital. Ausg. 4 Hospital Management Forum „competence”, Jean Frey Fachmedien, Zürich 2002: 11-15
  • 12 Vincent C, Neale G, Woloshynowych M. Adverse events in British hospitals: preliminary retrospective record review.  Brit Med J. 2001;  322 517-519
  • 13 Wilson R M, Runciman W B, Gibberd R W, Harrison B T, Newby L, Hamilton J D. The quality in Australian health care study.  Med J Aust. 1995;  163 458-471
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