PiD - Psychotherapie im Dialog 2005; 6(2): 222-226
DOI: 10.1055/s-2005-866827
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Was macht dein Leben lebenswert?”

Erik  Bosch im Gespräch mit Steffen  Fliegel und Arist  von Schlippe
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Publication Date:
23 May 2005 (online)

PiD: Herr Bosch: Sie haben vor kurzem ein Buch über Ihre Arbeit mit geistig Behinderten geschrieben: „Wir wollen nur euer Bestes” [1] . Wir möchten dies zum Anlass nehmen für ein Gespräch über „Andersartigkeit” und Psychotherapie. Wie würden Sie den Begriff „Andersartigkeit” im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit verstehen?

Erik Bosch: Eigentlich kann man sich die Frage stellen: Gibt es überhaupt so etwas wie „Andersartigkeit”? Sind wir uns nicht viel eher ähnlich? Ich arbeite jetzt 25 Jahre mit Menschen mit einer geistigen Behinderung. Am Anfang stand für mich die Unterschiedlichkeit im Vordergrund, aber mehr und mehr habe ich entdeckt, wie ähnlich wir doch eigentlich sind. Man kann das besonders merken, wenn man über die Frage nachdenkt, was das eigene Leben lebenswert macht. Es geht um die Qualität des Lebens („Quality of Life”), also um Beziehungen, um Freiheit, um respektiert werden und um das Entwickeln eigener Fähigkeiten. Auch geistig behinderte Menschen wollen eine gute Variationsbreite im Leben erfahren. Wenn ich in Fortbildungen diese Frage stelle, dann gibt es dieselben Reaktionen, die es auch im Leben eines Menschen gibt, der unserer Obhut anvertraut ist. Das ist so interessant. Wir haben alle dieselben Bedürfnisse! Gibt es eigentlich Andersartigkeit?

Sie stellen also eher die Ähnlichkeit ins Zentrum Ihrer Arbeit. In welcher Art und Weise arbeiten Sie mit geistig behinderten Menschen?

Ich habe als Betreuer und als Heilpädagoge lange praktische Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt. In meinen Büchern setze ich mich auseinander mit der Frage, wie wir mit Menschen mit einer geistigen Behinderung umgehen, mit Themen wie Begegnung, Tod, Sexualität, Aggression usw. Aktuell bin ich eher im Bereich von Fortbildungen und Tagungen für Leute tätig, die mit Menschen mit einer geistigen Behinderung arbeiten. Im Dezember haben wir eine große Tagung für Menschen mit einer geistigen Behinderung veranstaltet. Das Thema lautete: „Reden über Sex.” Da haben wir mit 100 Behinderten geredet, über Sex und über Masturbation, über Miteinander-Schlafen und Sich-zur-Wehr-setzen usw. Solche Tagungen könnten eine gute Unterstützung sein im Sinne einer Emanzipation dieser Zielgruppe. Und so treffe ich noch immer geistig behinderte Leute.

Wie sieht Ihr Alltag aus? Leben Sie mit den Behinderten zusammen in einer Einrichtung oder gehen Sie dort hin?

Ich habe lange Zeit mit Behinderten zusammengelebt und sie betreut. Jetzt arbeite ich in zwei Betrieben mit mehreren Kollegen zusammen.

Auch wenn Sie von der Ähnlichkeit ausgehen, sehen Sie vermutlich auch Unterschiede. Wo sehen Sie die Spezifika der Arbeit mit Behinderten, was ist das Besondere?

Wir gehen aus vom Bewusstsein: „Wir sind uns ähnlich, wir haben dieselben Bedürfnisse”, aber es gibt natürlich Unterschiede. So sind die meisten geistig Behinderten abhängig von der Art und Weise, wie unsere Grundeinstellung aussieht.

Was meinen Sie damit?

Ich darf ein Beispiel geben: Johann, 40 Jahre alt, sein kognitives Niveau ist etwa im Alter von sieben Jahren, sein emotionales Niveau liegt bei zwei: Sage ich „ja”, sagt er „nein”! Er wohnt mit einigen geistig behinderten Leuten zusammen, u. a. mit Joke. Joke sitzt auf dem Sofa, er auch und er steckt seine Hände zwischen ihre Beine. Wie reagiere ich dann? In Umgebung A wird nicht reagiert. Die Betreuerin sieht seine Erektion, reagiert aber nicht. In Umgebung B reagiert die Betreuerin vielleicht: „He, wie interessant” und man fängt an mit sexueller Aufklärung. So können sie sehen, wie diese Leute abhängig sind von unserer Grundeinstellung. Das ist natürlich bei allen Menschen so, aber es ist sehr spezifisch für diese Zielgruppe, denn das emotionale Niveau dieser Menschen liegt oft bei einem Alter von 0, 1, 2, 3 Jahren. Das sieht man nicht. Johann spricht wie Sie und ich, er hat ein gutes Vokabular, er sieht normal aus, aber er kann sich nicht gut zur Wehr setzen. Psychoanalytisch gedeutet befindet er sich emotional in der oralen und in der analen Phase. Er ist sehr abhängig von einem bestimmten Betreuungsstil. Wenn man das nicht sieht, kann man jemand überfordern. Aber dennoch müssen wir so mit den Leuten umgehen, dass Emanzipation möglich wird, dass sie wohnen können wie wir, dass sie leben können wie wir. Aber das erfordert eine bestimmte Grundhaltung unsererseits.

Das ist vielleicht ein interessanter Anknüpfungspunkt für die Frage nach den Zielen überhaupt, also für heilpädagogische, aber auch für psychotherapeutische Arbeit. Worauf kann so eine Arbeit denn abzielen? Ich habe verstanden, dass es für Sie ein wichtiger Punkt ist, so viele Bereiche des Lebens wie möglich autonom zu gestalten. Wie lassen sich die Bereiche abgrenzen? Woran kann man sehen, in welchen Bereichen man eingreifen muss und in welchen es gerade wichtig ist, nicht einzugreifen, die Autonomie zu achten?

Auf der einen Seite fokussieren wir auf Normalität, versuchen, den Menschen so zu begegnen, wie wir möchten, dass man uns begegnet. Das ist die Seite der Autonomie, die Sie erwähnt haben. Das ist an sich sehr gut: Was jemand selbst kann, das tut er selbst. Doch wo ist eigentlich die Grenze, dass ich eingreife in das Leben eines anderen und wer bin ich, dass ich das mache? Das ist eine sehr aktuelle Frage. Man kann auch zu viel normalisieren und dann gibt es „Normalisierungsterror”. Und dann lasse ich eigentlich jemanden im Stich. Meiner Meinung nach wäre es gut, über das Spannungsfeld nachzudenken zwischen dem, was man kann, und der Belastbarkeit. Dann sehen wir oft, dass Leute mit einer geistigen Behinderung eben ein geringes emotionales Niveau haben. Nehmen wir z. B. Karla. Sie ist eine Klientin von mir, 20 Jahre, sie sieht sehr gut aus, die Männer schauen ihr nach, kognitives Niveau sieben Jahre, aber emotional ist sie zwei. Sie schmiegt sich an alle Männer an, vor einigen Monaten ist sie missbraucht worden. Karla sagt nun: „Ich möchte gerne ein Kind!” Ja, - Autonomie - und ich denke: „Kann sie ein Kind erziehen?” Ich sehe es so, dass sie das nicht kann und dann greife ich ein; nicht dass ich entscheide, aber ich benutze meinen Einfluss und gebe unter anderem sexuelle Aufklärung. Das hat zu tun mit der Tatsache, dass ich weiß, wie ihr emotionales Niveau aussieht, ich sehe die große Diskrepanz zwischen der Außenseite, dem Aussehen, der Körperlichkeit, der Beredsamkeit, aber zu gleicher Zeit ist sie ein Kleinkind.

Wenn ich nun nicht den üblichen Zugang habe und mit Menschen arbeite, die auf einem anderen kognitiv-emotionalen Niveau leben, dann kommen wir zu einer wichtigen Frage, nämlich: Wie komme ich dazu, ein therapeutisches Ziel dieser Arbeit zu bestimmen? Ich kann die Menschen nicht einfach fragen, was sie erreichen wollen und wobei ich ihnen helfen kann. D. h. die Zielsetzung muss ja in einer anderen Form erfolgen. Wie kommen Sie zu einer Zielsetzung?

Die Basis ist Gleichwertigkeit. Wir reden mit der einzelnen Person, wir können ja miteinander reden. Die meisten haben Wörter, manche nicht so viele Wörter, aber meist ist Reden möglich. Und dann geht es darum, dass wir im Team unsere Grundhaltung anschauen. Ein wichtiger Punkt ist, sich in die Lage eines anderen versetzen zu können, nach der Bedeutung seines Verhaltens zu suchen. Ich sehe ein Verhalten, aber das ist die Außenseite. Was ist eigentlich die Bedeutung dieses Verhaltens? Wir denken über die Bedeutung dieses Verhaltens nach und versuchen die Geschichte des Menschen zu „lesen”. Die Kunst ist es, einen anderen Menschen gut lesen zu können und auch mit Leuten im Team darüber zu reden. Ich habe einen subjektiven Blick für all diese Menschen, aber meine Kollegen auch. Wir versuchen, darüber zu reden und unsere subjektiven Blicke intersubjektiv zu machen, sodass wir spüren, dass wir dieselbe Wellenlänge haben. Sonst wäre dieser Mensch Opfer der Willkür, er wäre abhängig von meinen Normen und Werten.

Willkür heißt, ich würde das übertragen, was ich denke und fühle. Dadurch dass Sie das Team einbeziehen, werden verschiedene subjektive Blicke möglich und so kommt Intersubjektivität zustande. Sie haben ja gerade gesagt, dass eine bestimmte Grundhaltung notwendig sei. Wie können Menschen oder Fachleute, die mit geistig behinderten Menschen arbeiten, diese Grundhaltung erlangen?

Es hat sehr viel zu tun mit der Frage, ob es in der Organisation, in der wir miteinander arbeiten, eine deutliche Grundeinstellung gibt. Innerhalb der Grundhaltung ist die kritische Selbstreflexion sehr wichtig. Das ist eine professionelle Forderung. Daher ist es so wichtig, dass man in der Organisation miteinander darüber redet und dass man positiv kritisch miteinander zusammenarbeitet.

Würden Sie sagen, dass diese Arbeit grundsätzlich die Eingebundenheit in eine Organisation erfordert, dass man Rückhalt in der Kollegenschaft hat, mit der man eine gemeinsame Grundeinstellung teilt?

Das gilt im Grunde für jeden Menschen in jeder Organisation, ob man dort mit Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychiatrischen Patienten oder kranken Leuten arbeitet, es ist immer sehr wichtig, dass man zusammen eine deutliche geteilte Grundeinstellung formuliert.

Würden Sie dann sagen, es ist eigentlich gar nicht möglich, dass man als niedergelassener Psychotherapeut in einer Einzelpraxis mit einem/einer geistig Behinderten arbeitet, weil da genau dieses tragende Netzwerk fehlt?

Ich würde das nicht so extrem formulieren. Worum es mir geht, ist eigentlich, dass ich ohne Feedback „lebendig tot” bin. Ich brauche immer Feedback, auch wenn ich alleine mit einem Klienten arbeite. Mich selber infrage zu stellen und mit anderen Menschen darüber zu reden, wie ich einem anderen begegne, das ist eine professionelle Grundhaltung. Ich denke dabei weniger an die Supervision mit einem einzelnen Menschen. Übrigens gibt es glücklicherweise eine Entwicklung in Holland - und soweit ich weiß, auch in Deutschland -, dass immer mehr Leute, die geistig behindert sind, alleine wohnen.

Eine wichtige Frage in der Psychotherapie ist ja: Was für einen Auftrag bekomme ich vom Klienten und wie entwickle ich diesen Auftrag in einen therapeutischen Kontrakt hinein? Ich höre von Ihnen, dass es nicht immer so einfach ist, einen Auftrag direkt von dem Klienten zu bekommen, sondern dass die Intersubjektivität das ersetzt, was wir sonst „therapeutischen Kontrakt” nennen. Kann man das so sagen?

Ich glaube, dass ein professioneller Mensch lernen kann, sich so zu entwickeln, dass er selber auf der Suche ist nach der Bedeutung des Verhaltens des Klienten, und dass er zurückhaltend sein kann mit eigenen Normen und Werten. Ich bin nicht allein in der Welt, ich brauche den anderen, um klar zu bleiben. Es ist die Frage, ob ich mich selber in Betracht ziehe und wie ich mit meinen eigenen Emotionen umgehe. Es ist gut, sich in kritischer Selbstreflexion selber sehr gut zu beobachten.

Aber es ist doch auch eine gewisse Lebenserfahrung notwendig, um dieses Einspüren in die Bedürfnisse des Menschen, mit dem ich arbeiten will, möglich zu machen. Also das Team ist dazu da, dass ich nicht einfach meine eigenen Lebenserfahrungen, Werte und Normen übertrage, aber ich brauche Erfahrungen und eine gewisse Standfestigkeit auch, um mich in das einfühlen zu können, was der andere braucht. Wenn ich selbst wenig Lebenserfahrung habe, so ist mein Eindruck zumindest, würde mir diese Seite fehlen.

Es geht letztlich um die Frage: „Wer bin ich selbst?” Jeder Mensch hat eine eigene Geschichte: Wie groß ist der Einfluss dieser eigenen Erziehungs- und Entwicklungsgeschichte auf die Chance, die einer bekommt, er selber zu sein? Und es wäre sehr gut, auch mit anderen darüber zu reflektieren, etwa in der Intervision.

Was macht den Unterschied in der Alltagspraxis für einen Psychotherapeuten aus?

An dieser Stelle möchte ich auf etwas kommen, was wir den „hermeneutischen Zirkel” genannt haben (s. Abb. [1]).

Abb. 1 Der hermeneutische Kreis.

Bitte geben Sie uns dazu einige Erläuterungen.

Dieses Kreismodell symbolisiert die Persönlichkeit eines Menschen. Es stammt aus einem Buch über sexuelle Aufklärung von Menschen mit einer geistigen Behinderung, das ich zusammen mit meiner Kollegin Ellen Suykerbuyk geschrieben habe.[2] Auch da kommen wir wieder auf die Kunst des Verstehens zurück. Bei Menschen mit geistiger Behinderung sehen wir oft eine große Diskrepanz zwischen der oberen Seite dieses Kreises, der kognitiven Seite, der Beredsamkeit, und der unteren, dem emotionalen Niveau. Viele Leute, die geistig behindert sind, befinden sich in der oralen oder analen Phase. Sie erfragen entweder sehr viel Bestätigung, befinden sich in Symbiose, sind grenzenlos, oder sie sind noch immer wie ein Kleinkind mit ihrer Identität, mit ihrer Ich-Entwicklung beschäftigt. Das kann man spüren, denn manche kämpfen mit mir und sind mit den Grenzen beschäftigt. Man kann sehr müde davon werden, aber es ist gut, sich dann die Frage zu stellen, wo befindet sich dieser Mensch emotional? Wenn ich das verstehe, verstehe ich diesen Menschen besser und dann muss ich darüber nachdenken, wie ich jemanden betreue, der sich emotional auf diesem Niveau befindet. Ich schlage hier einen bestimmten Stil vor, den „oralen und analen Betreuungsstil”. Ein Mensch kann im Umgang mit mir spüren, ob ich ihn total akzeptiere. Das heißt nicht, dass ich alles toleriere, sondern Akzeptanz ist, dass ich ihm vermittle, dass ich mit seiner Lebendigkeit im Kontakt bin.

Was bedeutet es, im Kontakt mit der Lebendigkeit von jemand zu sein, der sich in der oralen Phase befindet?

Dass ich ihn oft anfasse, berühre, wenn er das mag und ich bin selber auch natürlich sehr empfindsam, ich werde auch gerne angefasst. Aber wir können Abstand davon nehmen, denn unser emotionales Niveau ist etwas höher. Aber stellen Sie sich nur einmal vor, Sie kommen in eine Gruppe von Leuten und haben das Gefühl: „Ich bin nicht willkommen!” - dann sind Sie schnell zurück in der oralen Phase und fragen nach Bestätigung. Die Menschen, mit denen wir arbeiten, fragen immer nach Bestätigung, sie sind total abhängig von der Frage, ob wir sehen, auf welchem emotionalen Niveau sie sich befinden.

Sie haben einmal geschrieben: „Man spricht mehr mit dem Körper”, das heißt, dass Sie dann in einem viel stärkeren Maße als gewohnt auch den Körper einsetzen als Medium zur Gestaltung der Beziehung?

Genau, nicht nur dass wir einander anfassen, das ist sehr wichtig, aber auch, dass wir schauen: „Was sagt jemand zu mir mit seinem Körper?” Eigentlich sagen wir mit Wörtern nichts und gleichzeitig reden wir in der Therapie, wir reden, reden, reden. Aber es geht nicht um die Wörter, es geht um die Art und Weise, wie ich zur gleichen Zeit Sie anschaue, ob ich wegnicke usw. Mit Wörtern sagt man eigentlich nicht so viel, ohne Wörter sagt man oft mehr, ja, grenzenlos viel - aber, das sind keine Neuigkeiten, die ich erzähle. Ohne Wörter kann man Geschichten schreiben, Bücher schreiben und es ist gut, dass wir diese Bücher „lesen”.

Sie haben jetzt ein paar Voraussetzungen genannt, die Fachleute brauchen, die mit Menschen mit einer geistigen Behinderung arbeiten. Eine wichtige Voraussetzung wäre, die Körpersprache erkennen und lesen zu können. Mich würde noch mal interessieren: Welche Grenzen sehen Sie in dieser Arbeit, wo würden Sie sagen, jemand ist nicht geeignet, mit geistig behinderten Menschen fachlich zu arbeiten?

Meiner Meinung nach hat das alles damit zu tun, ob man sich kritisch selbst reflektiert. Und dann geht es um die Frage, - einen Moment, darüber muss ich sehr gut nachdenken - eigentlich geht es um die Frage: „Kann ich mich selbst geben, will ich mein eigenes Handeln kritisch betrachten, will ich meine eigene Sozialisations- und Entwicklungsgeschichte in Erwägung ziehen, will ich mich selber infrage stellen, kann ich über meine eigenen Emotionen sprechen und reden?” Ich möchte Ihnen hier ein Beispiel geben: Ich arbeitete mit Menschen mit einer geistigen Behinderung und ich hatte sehr viel Angst vor dem Tod, aber das wusste ich nicht, denn ich hatte es unterdrückt. Ich hatte so viel Angst und ich unterdrückte alles, also konnte ich natürlich auch nicht mit jemandem umgehen, der Angst vor dem Tod hatte. Dann wäre mein Vater beinahe gestorben, und ich war tief erschreckt. Da entdeckte ich, dass es eigentlich um die Angst vor meinem eigenen Tod ging. Ich habe einen Gehilfen dabei gehabt, und ich habe dem Tod in meinem eigenen Leben Raum gegeben. Jetzt unterstütze ich Leute, die Angst vor dem Tod haben. Das hat alles mit Selbstakzeptanz zu tun. Ich denke, die Frage ist zentral: „Kann man mit einem anderen Menschen leben und arbeiten?” Das hat nichts zu tun mit Menschen mit einer geistigen Behinderung, aber bei diesen Menschen möglicherweise noch mehr. Diese Leute konfrontieren mich so sehr mit mir selber, sie stellen sehr viele Fragen über Aggression, über Sexualität, sie sind direkt, spontan, naiv, nicht behutsam, und die fordern sehr schnell eine Reaktion und konfrontieren mich so besonders mit meinen eigenen Themen.

Die Kommunikation ist unmittelbarer, direkter?

Von diesen Menschen habe ich das Ehrliche, das Direkte, das Unkomplizierte gelernt …

Was ist denn für Sie das besonders Schöne an der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung?

Die Begegnung, die respektvolle Begegnung! Wenn das gelingt, ist es wunderschön. Es geht natürlich immer um Begegnung, aber diese Leute stellen die Fragen so direkt, auch wenn sie die Fragen nicht aussprechen. Sie sind in ihrem Verhalten oft so unglaublich spontan und direkt. Am Anfang habe ich nichts von diesen Leuten verstanden, aber eigentlich stellten diese Leute mir die Frage: „Was macht dein Leben lebenswert?”

Was mir noch nicht ganz klar geworden ist: In Ihrem hermeneutischen Zirkel ist ja auch die psychische und psychiatrische Seite enthalten. Was brauchen denn Menschen mit geistigen Behinderungen von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten? Welche Ziele können sie verfolgen, was können sie diesen Menschen geben?

Sehr viel! Ich bin kein Therapeut, aber ich arbeite natürlich sehr oft mit Therapeuten zusammen. Es geht meiner Meinung nach mehr um nonverbale therapeutische Formen, wie z. B. psychomotorische Therapie, Spieltherapie usw., also Formen, wo Wörter nicht so wichtig sind. Man kann natürlich auch mit Zeichnungen arbeiten, mit Gymnastik usw. Es gelingt nicht immer, zur Verarbeitung von Leid zu kommen, das Leid zu bewältigen. Aber man kann doch sehr viel machen, Sicherheit geben etwa. Ich kenne einen Mann, geistig behindert, der von drei Männern sexuell missbraucht worden ist. Er hat ein großes Trauma erlebt und sehr viele Überlebensmechanismen ausgebildet, sich ganz zurückgezogen, vertraut niemandem mehr. Aber glücklicherweise hat er eine psychomotorisch arbeitende Therapeutin, und er lernt, dieser Frau zu vertrauen. Die Therapie geht gut, dieser Mann beginnt wieder die Grenze abzutasten und die Betreuer stellen sich die Frage, ob es gut gehen wird mit Karl, er ist so mit den Grenzen beschäftigt. Die Therapeutin sagt: „Nein, das geht gut! Seht ihr, wie gut die Therapie geht? Jetzt geht er von der oralen in die Richtung der analen Phase, lernt wieder Grenzen setzen, sich zur Wehr setzen, Autonomie und Identität erfahren.” Aber er könnte auch bei einer Spieltherapeutin sein und dort seine Geschichte zeichnen. Ich habe sehr viel Respekt vor Therapeuten, die gut zusammenarbeiten mit anderen Berufsgruppen.

Multidisziplinarität spielt eine große Rolle in diesem Feld? Haben Sie Erfahrung oder eine Vorstellung, wie die verschiedenen Qualitäten aufeinander abgestimmt werden können?

Ja, ich stelle mir vor, dass man überall in der Welt, aber auch professionell im Umgang mit Menschen mit einer geistigen Behinderung mehr zusammenarbeitet. Man kann zusammenarbeiten und zusammen arbeiten. Aber da der Klient im Mittelpunkt steht, müssen wir zusammenarbeiten. Das heißt, dass ich jemanden konkret auf sein Verhalten anspreche, das heißt auch, jemandem ein Kompliment zu geben. Ich war gerade vor einigen Wochen in einer Organisation. Ich fragte: „Gebt ihr einander viele Komplimente?” - „Nein, das machen wir nie!” Da habe ich gefragt: „Wie kann ein Team mit einem Klienten zusammenarbeiten, wenn es die eigenen Qualitäten nicht nutzt!” Vor allem in Bezug auf Psychotherapie, Verhaltenstherapie etwa ist es doch sehr wichtig, dass jemand, der mit einem Klienten arbeitet, weiß, was der Therapeut macht. Ich meine nicht, dass man alles erzählen muss, ich meine, dass der andere weiß, wie die Phasen in einer Therapie aussehen. Dann verstehe ich im Alltag die Reaktionen meines Klienten besser. Eine enge Abgestimmtheit der verschiedenen Disziplinen wäre sehr gut für den Klienten, aber auch für mich selbst, denn das steigert auch die Arbeitsfreude.

Ich möchte noch einmal auf das Thema der Konfrontation mit existenziellen Themen zurückkommen. Sie sagen, die sind in dieser Arbeit besonders hervorstechend, weil sie sich in unserer Mittelschichtsprache meist verstecken. Aggression, Sexualität, Tod und Sterben - können Sie über diese existenziellen Bereiche noch etwas sagen?

Wieder reden wir eigentlich über respektvolle Begegnung, also über den Rahmen, die Grundeinstellung. Meiner Meinung nach reden wir zu oft über einen anderen und zu wenig über uns selber. Wenn es um Sexualität geht, bin ich mit eigenen existenziellen Fragen konfrontiert: Da ist z. B. ein homosexueller Mann, der liebt einen anderen homosexuellen Mann und sie wollen keine Kondome gebrauchen, ein Problem. Und dann gibt es einen Betreuer und der hat Mühe mit seiner eigenen Sexualität. Da ist es gut, dass man lernt, über sich selber nachzudenken, dass es einen Raum gibt, wo man lernen kann, loszulassen: Schön, dass wir uns einig sind über die Tatsache, dass dieser Klient im Mittelpunkt steht.

Sind eigentlich geistig behinderte Menschen, die ja einer besonderen Obhut anvertraut sind, auch besonders gefährdet für sexuelle Übergriffe?

In Holland sind 60 % der Menschen mit einer geistigen Behinderung Opfer von sexuellem Missbrauch.

Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Zum einen meine Erfahrung in der Praxis, zum anderen wissenschaftliche Untersuchungen in England und Amerika, da redet man sogar über 70 bis 80 %. Das ist wirklich schrecklich, doch es ist auch logisch, dass es so viele Opfer gibt. Diese Menschen sind so abhängig, sie sind sehr körperlich eingestellt, sie fassen dich an, und im Umgang mit diesen Leuten gibt es sehr viel Berührung: Man darf jemandem beim Waschen helfen oder unter der Dusche, oder jemand ist im Bett und der sagt: „Ich habe so Angst im Dunkeln, komm' doch zu mir!” usw.

Das heißt, man muss als Betreuer ein sehr klares Bewusstsein der eigenen Grenzen haben.

Genau, ein Unterbereich der kritischen Selbstreflexion ist die Frage nach den eigenen Grenzen auf dem Gebiet von Sexualität, von Tod, von Aggression usw. Wenn ich die nicht kenne, habe ich hoffentlich Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich darüber reden kann und die mir helfen können, mich und meine Grenzen zu entwickeln. Wenn ich meine Grenzen nicht kenne, dann kann ich sie natürlich selber auch unreflektiert überschreiten.

Wie helfen Sie Menschen mit geistigen Behinderungen, sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen?

Sehr wichtig ist dann die Frage: Wie geben wir sexuelle Aufklärung bei diesen Leuten? Die meisten Leute mit einer geistigen Behinderung, - 70 % der geistig behinderten Männer - wissen nicht, wie man masturbieren kann. Aber sie versuchen es, denn sie haben dieselben sexuellen Bedürfnisse wie andere Männer. Sie berühren ihren Penis, kneifen ihn, sie machen keine guten Bewegungen und beschädigen sich selber. Es gibt sehr viel gar nicht so gemeinte Autoaggressionen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung. Ich finde es so wichtig, dass Menschen in einem Team wissen, was sie diesen Leuten mitgeben können auf dem Gebiet von Körperbild, von Normen und Werten, von Beziehungen und vom Wissen, wie sie sich zur Wehr setzen können.

Es werden also auch soziale Kompetenzen vermittelt, soweit das möglich ist, auch eine Form von Autonomie, d. h., dass sie nicht nur abhängig davon sind, die Sexualität von anderen Menschen zu bekommen, sondern die Möglichkeiten für sich selbst finden können.

Genau, da geht es um Selbstbestimmung, wie ich einen anderen Menschen so unterstützen kann, dass er selbst bestimmt, ob er masturbieren will, dass er schlafen kann mit seiner Freundin. Natürlich gibt es da auch Probleme auf dem Gebiet der Grenzen, denn beide Leute haben ein emotionales Niveau von zwei Jahren. Aber da unterstützen wir sie natürlich.

Können Sie noch zwei oder drei Sätze zu Ihren Projekten sagen, darüber was Sie jetzt in der nächsten Zeit vorhaben?

Sicher, ich arbeite jetzt mit Ellen an einem Buch über „Professionelles Kommunizieren”, das im Laufe dieses Jahres hier in Holland erscheinen wird. Auf Tagungen über sexuellen Missbrauch rede ich auch mit Menschen mit einer geistigen Behinderung, die sexuell missbraucht worden sind. Dann werden Ellen Suykerbuyk und ich eine Variante des hermeneutischen Zirkels vorstellen, die auf die Signale in emotionalen, sozialen und körperlichen Bereichen verweist, sodass ich sehen und spüren kann, ob jemand möglicherweise sexuell missbraucht worden ist.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

1 Bosch E. „Wir wollen doch nur Euer Bestes!” - Die Bedeutung der Kritischen Selbstreflexion in der Begegnung mit Menschen mit einer geistigen Behinderung. 2. Aufl. Tübingen: dgvt-Verlag, 2005

2 Bosch E, Suykerbuyk E. Sexuelle Aufklärung von Menschen mit einer geistigen Behinderung - Die Kunst des Verstehens mit der Methodik des hermeneutischen Kreises. 3. Aufl. Soest: Nelissen, 2004

Korrespondenzadresse:

Erik Bosch

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