psychoneuro 2005; 31(6): 321-325
DOI: 10.1055/s-2005-871979
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Kommentar zum Gutachten des IGSF - Neue stationäre psychosomatische Kapazitäten?

Jürgen Fritze1
  • 1Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim

Publication History

Publication Date:
30 June 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Im März 2005 hat das Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF, Kiel) sein im Auftrag des Hessischen Sozialministeriums erstelltes „Gutachten zur Strukturanalyse und Bedarfsermittlung im Bereich der Psychotherapeutischen Medizin (Psychosomatik) in Hessen” vorgelegt. Obwohl sich das Gutachten ausdrücklich schwer tut, die Indikationsspektren von Einrichtungen für Psychotherapeutische Medizin einerseits und für Psychiatrie und Psychotherapie andererseits von einander abzugrenzen, wurde nur ein Experte für das Fachgebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Herr Prof. Dr. Senf, als freier Mitarbeiter beigezogen, nicht aber ein Experte für das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie. Das Gutachten wird nachfolgend - insbesondere wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung und seiner potentiellen Fernwirkungen - bezüglich seiner Kernaussagen zusammengefasst und kommentiert.

IGSF geht von einer Strukturanalyse der bestehenden Krankenhausversorgung und komplementären Versorgungsangebote im Fachgebiet Psychotherapeutische Medizin aus. Unter Würdigung der zehnten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des statistischen Bundesamtes, Schätzungen der Morbiditätsentwicklung und der Verweildauer, sowie sich ändernden Rahmenbedingungen (neue Versorgungsformen wie z.B. die integrierte Versorgung; neue Entgeltsysteme) kommt IGSF zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2010 in Hessen ein Bedarf an 2097 Behandlungsplätzen (0,34 je 1000 Einwohner) im Fachgebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie bestehen werde, von denen derzeit 71 explizit ausgewiesen seien, während weitere 1612 Plätze implizit in anderen Fachabteilungen für psychosomatisch Kranke bzw. im Fachgebiet „Psychiatrie und Psychotherapie” vorgehalten würden.

Es werde also bis zum Jahr 2010 ein Bedarf von zusätzlich 485 Plätzen zu decken sein, hiervon 20 % als teilstationäre Plätze.

Als ersten Schritt schlägt IGSF vor, in den Jahren 2005 und 2006 an fünf bis sechs Standorten in Hessen neue Abteilungen mit jeweils 40 bis 50 Plätzen auszuweisen.

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Warum wurden Daten von Rehabilitationskliniken abzufragen versucht?

Rehabilitationskliniken erbringen den weitaus überwiegenden Teil der stationären psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlungen. Sie erbringen diese Leistungen überwiegend überregional. Sie unterliegen nicht der Bedarfsplanung. Das Gutachten erlaubt nur zu erahnen, warum dennoch deren Belegungsstatistik zu erfassen versucht wurde. Es wird nicht transparent, wie die Ergebnisse in die Bedarfsanalyse eingegangen sind. Nur „13 der 35 angeschriebenen Rehabilitationskliniken (in Hessen) haben die angeforderten Daten vollständig an das Hessische Sozialministerium bzw. direkt an die IGSF GmbH geschickt”. Welche Bedeutung diesem methodischen Mangel des Gutachtens beizumessen ist, soll hier dahingestellt bleiben.

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Indikationsspektrum

Das IGSF legt als tatsächlichen Bedarf eine Auswertung der amtlichen Diagnosestatistik aller Krankenhäuser in Hessen im Hinblick auf ein vorher definiertes Diagnosespektrum „der Psychotherapeutischen Medizin (Psychosomatik)” zugrunde. Dieses Diagnosespektrum wird apodiktisch vorausgesetzt, ohne eine für den Bürger, den in Anspruch nehmenden Patienten oder den einweisenden Arzt nachvollziehbare Operationalisierung für die Abgrenzung gegenüber Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie anzubieten. Ohne Operationalisierung bleibt es subjektivem Ermessen überlassen, welche Einrichtung als indiziert ausgewählt wird.

Als zum Spektrum der Psychotherapeutischen Medizin gehörig definiert das Gutachten „Schwerpunktdiagnosen” des Faches sowie Diagnosen „in Grenzbereichen zur Psychiatrie”. Zitat: „Bei den Kernbereichen der Versorgung mit Schwerpunktdiagnosen, die über die ICD-10-Klassifikation erfasst sind, handelt es sich um die Störungen F41 bis F45, F48, F50 bis 52, F54, F55 und F59. Psychosomatische Symptome, Syndrome und Störungen in anderen medizinischen Fachgebieten einschließlich der Psychiatrie, bei denen psychosomatische diagnostische und therapeutische Kompetenzen - z.B. bei Compliancestörungen, somatopsychischen Störungen, Anpassungsstörungen, beim Krisenmanagement - gefragt sind, sind in der ICD-10-Klassifikation nicht zufrieden stellend abgebildet. Den Grenzbereich zur Psychiatrie betreffen die Diagnosen F32 bis F34, F60 und - je nach Rahmenbedingungen und Komorbiditäten - auch die Diagnosen F40 bis F42.”

Da das Fachgebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie interdisziplinär ausgelegt sei, gehörten psychosomatische und somatopsychische Störungen, Syndrome und Symptome aus allen anderen medizinischen Fachgebieten (einschließlich Psychiatrie) in das Versorgungsspektrum. Allerdings könne die Zahl der Patienten, die mit einer somatischen Diagnose aus dem Krankenhaus entlassen werden, hinter der sich eine Diagnose aus dem Spektrum der Psychotherapeutischen Medizin verberge, nicht erfasst werden. Die Zahl dieser Patienten werde - so die TRANS-OP Studie der Forschungsstelle für Psychotherapie Stuttgart - auf bis zu 30 % geschätzt.

Würde man dem IGSF folgen und die Störungen F41 bis F45, F48, F50 bis 52, F54, F55 und F59 tatsächlich zum Kernbereich der Zuständigkeit des Gebietes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie deklarieren, dann wären - auf der Basis der Diagnosestatistik des statistischen Bundesamtes (2002) - in Deutschland 51 % der Kranken mit diesen Krankheiten in Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie (oder 12 % aller in diesen Einrichtungen versorgten Patienten) fehlalloziert, weitere 44 % in somatischen Einrichtungen fehlalloziert, nur 5 % in Einrichtungen der Psychosomatische Medizin und Psychotherapie korrekt alloziert. Bezieht man F40 ein, so ergäben sich 94 % (52 % plus 42 %) fehlallozierte und nur 6 % korrekt allozierte Patienten. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Krankenhausplanung nicht vernünftig sein kann.

Eine Operationalisierung, unter welchen Bedingungen die „den Grenzbereich zur Psychiatrie betreffenden Diagnosen F32 bis F34, F60” in den Zuständigkeitsbereich der Psychosomatische Medizin und Psychotherapie gehören sollen, ist dem IGSF-Gutachten nicht zu entnehmen. Eine Methodik, wie der Anteil der Kranken „aus dem Grenzbereich zur Psychiatrie” im IGSF-Gutachten quantifiziert wurde, ist im IGSF-Gutachten nicht zu finden. Es wird nur dargelegt, „bei psychischen Störungen, wie z. B. Depression oder Persönlichkeitsstörungen, stehen für die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie diese als komorbide Störungen zur Behandlung, nicht als primäre und ausschließliche Erkrankungen.” „Eine Abgrenzung der Versorgungsaufgaben vor allem der Psychiatrie gegenüber erscheint problematisch”. Wenn das also problematisch ist, kann das nur bedeuten, dass auf dieser Basis eine Krankenhausplanung unmöglich ist.

Dass „die IGSF GmbH der Begrenzung der Diagnosen aus dem Grenzbereich der Psychiatrie auf die vier Diagnosen, die typischerweise auch in psychosomatisch ausgerichteten Fachabteilungen zu finden sind und die sich häufig vom psychodynamischen Geschehen her schwer von der Psychiatrie abgrenzen lassen, folgen konnte”, ist als inhaltliche Begründung nicht tragfähig. Dasselbe gilt „für den Ausschluss von Suchterkrankungen, die nach allgemeiner Auffassung nicht in den Bereich der Psychotherapeutischen Medizin gehören”. Was ist die wissenschaftliche Grundlage einer solchen „allgemeinen Auffassung” (wenn es die denn gäbe). Gerade die Suchterkrankungen könnten als Prototypen für psychosomatische Krankheiten aufgefasst werden, indem hier die psychische Krankheit „Sucht” mit vielfältigen somatischen Folgekrankheiten einhergeht. Wenn sich das IGSF-Gutachten auf eine „allgemeine Auffassung” beruft, so handelt es sich bei dieser Floskel um eine Scheinbegründung ohne wissenschaftliche Fundierung. Indem das IGSF-Gutachten aber damit anerkennt, dass Suchtkranke in Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln sind, bestätigt das IGSF-Gutachten, dass die anderen beanspruchten Indikationen ebenfalls in Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln sind.

Kaum überzeugen kann auch die „Logik” dafür, dass (Zitat) „die Diagnosen F61, F63, F64 und F68, die in den anderen dargestellten Konzepten zum Diagnosespektrum des Fachgebietes Psychotherapeutische Medizin gezählt werden, nicht in das Diagnosespektrum einbezogen wurden, da der Schwerpunkt bei der Behandlung dieser Diagnosen im Bereich der Psychiatrie liegt. F61 (Kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen) taucht schon einmal als komorbides Problem auf, ist jedoch keine Störung mit einer primären Indikation für eine stationäre Behandlung im Fachgebiet Psychotherapeutische Medizin. Darüber hinaus handelt es sich um eine seltene Diagnose.” Die Aussage, der Schwerpunkt liege im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie, stellt schlicht eine Tautologie dar, aber keine wissenschaftliche Begründung. Indem das IGSF-Gutachten aber anerkennt, dass gerade die schweren Persönlichkeitsstörungen in Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln sind, bestätigt das IGSF-Gutachten, dass die anderen beanspruchten Indikationen ebenfalls in Einrichtungen der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln sind. Oder ist (etwa) gemeint, das Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sei für „leichte” Störungen zuständig, Psychiatrie und Psychotherapie für schwere? Die wiederholte Unlogik der Argumentation des Gutachtens zeigt, dass die Abgrenzung des Indikationsspektrums gegenüber Einrichtungen für Psychiatrie und Psychotherapie willkürlich erfolgt.

Originell ist die Feststellung des IGSF-Gutachtens, „dass die Psychiatrie in den letzten Jahren zunehmend Versorgungsbereiche für sich reklamiert hat, die in der bisherigen Entwicklung ... von dem Fachgebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Krankenversorgung sowie in Lehre und Forschung vertreten worden sind. Da das Fachgebiet interdisziplinär angelegt ist, gibt es natürlich Überschneidungen, naturgemäß besonders mit der Psychiatrie”. Es kann nicht um das Reklamieren von Versorgungsbereichen gehen, sondern um die Frage, wo - seit vielen Jahren - tatsächlich die Behandlung stattfindet. Entsprechend hat auch das Bundessozialgericht die Kapazitäten eines Krankenhauses, hier also der Einrichtungen für Psychiatrie und Psychotherapie, als bedarfsnotwendig erachtet, wenn die Kapazitäten tatsächlich in Anspruch genommen werden.

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Bio-psycho-sozialer Anspruch oder psychotherapeutischer Fokus?

Das IGSF-Gutachten begründet die „deutsche Besonderheit” eines eigenständigen Fachgebietes „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie” damit, „dass bis in die 90er Jahre die Psychiatrie nicht bereit war, die Psychotherapie als wissenschaftliche Methode zu akzeptieren und zu integrieren.” Selbst wenn dies teilweise zutreffen sollte, so hat sich dies mit der Einführung des Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapie (1992) auch formal grundlegend geändert. Dies ignoriert das IGSF-Gutachten durchgängig, indem es stereotyp nur vom Gebiet „Psychiatrie” spricht, welches in dieser Form in Deutschland überhaupt nicht mehr existiert. Dieses Stereotyp verfolgt anscheinend das Ziel, dem Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie die psychotherapeutische Kompetenz abzusprechen und diese Kompetenz allein für das Gebiet Psychotherapeutische Medizin bzw. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zu beanspruchen. Damit steht das Gutachten im Widerspruch zu der seit 1992 gültigen Muster-Weiterbildungsordnung. Zutreffend ist allein, dass sich das Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Wesentlichen durch die Psychotherapie definiert, wogegen das Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie - auch in der Muster-Weiterbildungsordnung kodifiziert - tatsächlich den bio-psycho-sozialen Ansatz umfassend realisiert.

Das IGSF-Gutachten reklamiert als Spezifikum des Gebietes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie das „bio-psycho-soziale Modell”, ohne über die entsprechenden, umfassenden Grundlagen zu verfügen. Laut Muster-Weiterbildungsordnung (2003) „umfasst das Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie die Erkennung, psychotherapeutische Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Krankheiten und Leidenszuständen, an deren Verursachung psychosoziale und psychosomatische Faktoren einschließlich dadurch bedingter körperlich-seelischer Wechselwirkungen maßgeblich beteiligt sind”. Damit definiert sich das Gebiet allein durch die Psychotherapie, was mit dem beanspruchten, umfassenden bio-psycho-sozialen Ansatz nicht vereinbar ist. Somato- und soziotherapeutische Verfahren sind nicht spezifischer Gegenstand der Weiterbildung, auch wenn mindestens sechs Monate im Gebiet Psychiatrie und Psychotherapie abgeleistet werden müssen.

Das bio-psycho-soziale Konzept ist seit Jahrzehnten für die internationale psychiatrische Wissenschaft Grundlage der Vorstellungen zur Pathogenese wie auch der - eben immer multimodalen - Therapie psychischer Krankheiten. Selbst wenn in fernerer Vergangenheit der bio-psycho-soziale Ansatz von der deutschen Psychiatrie tatsächlich unzureichend berücksichtigt worden sein sollte, so gilt dies heute nicht mehr und so kann dies heute nicht mehr als Argument für einen Bedarf an psychosomatischen Bettenkapazitäten herangezogen werden. Dieser Bedarf wird - soweit es sich um originär psychische Krankheiten handelt - durch psychiatrische Einrichtungen gedeckt.

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Bedarf an bio-psycho-sozialer Kompetenz in der Somatik

Eine andere Frage ist, inwieweit der Bedarf an einem bio-psycho-sozialen Zugang zu Kranken durch somatische Einrichtungen gedeckt wird. Das IGSF-Gutachten stellt zutreffend fest, dass „in Diagnostik und Therapie neben der Analyse und Behandlung der Symptome stärker auf den einzelnen Kranken selbst, seine Erlebnisse, seine Vergangenheit und seine Zukunftserwartung” einzugehen sei. „Diese prinzipielle ärztliche Grundeinstellung hat für alle Bereiche der Medizin Gültigkeit”. Entsprechend zutreffend ist auch die These, „die Psychosomatische Medizin ist mit einem somato-psycho-sozialen Ansatz prinzipiell interdisziplinär angesiedelt”. Diese These besagt aber gerade, dass Psychosomatik in allen Fachgebieten stattfinden muss, dass alle Kranken des psychosomatischen, bio-psycho-sozialen Ansatzes bedürfen. Das aber bedeutet gerade, dass es abgesehen von einer Kerngruppe somato-psychischer Krankheiten (das ist die Gruppe F54 „Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten”) keinen Bedarf an bettenführenden psychosomatischen Abteilungen gibt. Sehr wohl aber gibt es einen großen - und weitgehend ungedeckten - Bedarf an Ärzten mit Kompetenz für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in somatischen Einrichtungen. Diesen kann man pragmatisch - wie von der DGPPN seit Jahren gefordert - weitgehend durch nicht-bettenführende Abteilungen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie decken. In diesem Sinne formuliert das IGSF-Gutachten grundsätzlich zutreffend: „die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie stellt psychotherapeutische Kompetenz als Service-Leistung den anderen Fachgebieten zur Verfügung, vergleichbar mit der Anästhesie, die ebenfalls Service-Leistungen für verschiedene Fachgebiete anbietet”. Nur leider wird dieser Anspruch in der Realität nicht erfüllt.

Das IGSF-Gutachten stellt fest, „psychosomatische und somatopsychische Störungen, Syndrome und Symptome aus allen anderen medizinischen Fachgebieten (einschließlich Psychiatrie) gehören in das Versorgungsspektrum”. Dies trifft für die somatischen Fachgebiete zu, gilt aber eben nicht für das Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie, denn dieses Gebiet verfolgt gerade umfassend den bio-psycho-sozialen Ansatz. Entsprechend haben gerade die inzwischen 180 Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland im Wege der Konsiliar- und Liaisontätigkeit die Vernetzung von Körpermedizin und psychosomatisch-psychotherapeutischem Ansatz weit voran gebracht.

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Unberücksichtigte Quellen

Zum Wesen eines Gutachtens gehört, neutral alle Informationsquellen und die darin enthaltenen Argumente zu erfassen und abzuwägen und keine tendenziöse Vorselektion zu treffen. Das IGSF-Gutachten genügt dieser Grundforderung nicht, indem es bedeutsame Quellen ignoriert. Eine Diskussion oder auch nur Erwähnung der gut begründeten und publizierten Aussagen der DGPPN zu diesem Thema fehlt.

Ebenso unterbleibt die gutachterliche Beschäftigung mit den vorhandenen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern - deutschlandweit sind dies 180. Diese Einrichtungen sind erst im Zuge der Reform der psychiatrisch, psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung entstanden. Die auf diese Weise weit fortgeschrittene Verbesserung der psychotherapeutischen Kompetenzen in den bestehenden somatischen Fachabteilungen findet in dem Gutachten der IGSF keine Erwähnung.

Schwerer wiegt das Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem Gutachten, das die Arbeitsgemeinschaft leitender Medizinalbeamter (AGLMB) im Jahr 1997 im Auftrag der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) zur Vorbereitung der Krankenhausplanung erstellt hat. In diesem Gutachten wurde u.a. eine Definition des Begriffes „Psychosomatik” vorgelegt. Danach sind „psychosomatische Erkrankungen in einem allgemeinen Sinne dadurch definiert, dass psychische Faktoren die Funktionen des Organismus bzw. einzelner Organe beeinflussen und zu Funktionsstörungen und/oder Organveränderungen führen.” Gemäß dieses Gutachtens sind unter dem Begriff „psychosomatische Erkrankungen” folgende Krankheitsbilder zusammenzufassen: „Funktionelle Psychosomatosen als Erkrankungen, denen primär keine körperlichen Ursachen zugrunde liegen (sog. primäre funktionelle Störungen, beispielsweise Herzphobien, Anorexia nervosa), Somato-Psychosomatosen als organische Erkrankungen, deren Entstehung und Verlauf durch psychische Einflüsse und soziale Faktoren maßgeblich mit verursacht werden (z.B. Morbus Crohn, Asthma bronchiale)”; darüber hinaus zählen „zur Psychosomatik auch die Unterstützung bei der subjektiven Verarbeitung organischer Krankheiten (z.B. in der Onkologie)”. Das Gutachten der AGLMB stellt klar: „Psychosomatische Erkrankungen sind mehr oder weniger Gegenstand aller klinischen Disziplinen”.

Vor dem Hintergrund dieser - zutreffenden - Einschätzung der AGLMB signalisiert das IGSF-Gutachten mit der Formulierung „Auch wenn für die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie klare Zuständigkeiten festzustellen sind, gibt es, wie überall in der Medizin, Überschneidungen” ein aussichtsloses Ringen um Identität jenseits des psychotherapeutischen Ansatzes. Das Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie definiert sich im Wesentlichen - so auch in der Musterweiterbildungsordnung festgeschrieben - durch sein Verfahren, die Psychotherapie, und diese ist - wie das Gutachten zutreffend feststellt - interdisziplinär einzusetzen, „als Service-Leistung, vergleichbar mit der Anästhesie, die ebenfalls Service-Leistungen für verschiedene Fachgebiete anbietet”.

Der Einschätzung der AGLMB entsprechen die „Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung vom 11.11.1988”. Dort heißt es (Seite 46) explizit: „Die Expertenkommission empfiehlt daher die Einrichtung von Liaison-Diensten an Allgemeinkrankenhäusern, die von Ärzten mit spezifischer Bereichsweiterbildung Psychotherapie bzw. Psychoanalyse und qualifizierten Kenntnissen in der jeweilig zu betreuenden medizinischen Disziplin wahrgenommen werden sollen”. Und weiter (Seite 554): „Gerade unter Kostengesichtspunkten hält es die Expertenkommission für verfehlt... psychosomatisch/psychotherapeutische Bettenstationen an Allgemeinkrankenhäusern in großem Umfang einzurichten”.

In ihrer Stellungnahme zu diesen Empfehlungen führt die Bundesregierung aus (Seite 22): „Die stationäre Bettenkapazität reicht aus. Die Bundesrepublik Deutschland liegt hinsichtlich der angebotenen Bettenzahl im psychosomatisch/ psychotherapeutischen Bereich weltweit an erster Stelle”. Und weiter: „Eine stärkere Integration der Psychotherapie in die medizinische Behandlung ist in Hinblick auf die hohe Zahl psychosomatischer und psychoneurotischer Patienten, die in Allgemeinkrankenhäusern und in Allgemeinpraxen behandelt werden, unerlässlich. Inwieweit hierzu das Instrument der von der Expertenkommission empfohlenen sog. Liaison-Dienste an Allgemeinkrankenhäusern eine Lösung bietet, ..., oder ob diese notwendigen Hilfen von Konsiliardiensten abgedeckt werden können, ohne dass hierzu bestimmte Kooperationsmodelle vorgegeben werden, wird sich entsprechend den regionalen Bedarfs- und Angebotsmöglichkeiten entscheiden müssen”.

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Integration statt Monopolisierung

Die Expertenkommission wie auch die Bundesregierung sahen also bereits im Jahr 1988 und die AGLMB im Jahr 1997 die entscheidende, notwendige Maßnahme in der Integration psychosomatischer Kompetenz und nicht in deren Separation in Form von eigenständigen, bettenführenden Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern. Wissenschaftlich ist tatsächlich - wie im IGSF-Gutachten ausgeführt - belegt, dass „in der medizinischen Primärversorgung (Allgemeinärzte, Allgemeinkrankenhäuser) der Anteil psychisch bzw. psychosomatisch Erkrankter in der Größenordnung von 30 % bis 40 %” liegt und dass „in der Allgemeinpraxis allenfalls die Hälfte richtig diagnostiziert werden”. Der Deutsche Gesundheitssurvey hat diese Daten objektiviert. Für die Behauptung aber, dass „bei mindestens 30 % aller Patienten psychogene Ursachen für die geäußerten Beschwerden maßgeblich verantwortlich” sind, fehlt die Evidenz. Mit gutem Grund verwendet die Muster-Weiterbildung in diesem Zusammenhang nicht das Wort „verantwortlich”, sondern das Wort „beteiligt”.

Dass bei einem ähnlichen Anteil psychische Ursachen in der einen oder anderen Weise - eben im Sinne des bio-psycho-sozialen Konzeptes - mitverantwortlich sind, soll nicht bezweifelt werden. Für die Behauptung, diese psychischen Ursachen ließen „sich mit medikamentöser Behandlung nicht beeinflussen”, fehlt aber wiederum jede Evidenz. Wenn die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ihren Anspruch als „Service-Leister für verschiedene Fachgebiete” zum Nutzen der Kranken einlösen will, muss sie sich mehr als nur verbal von einem ausschließlich psychotherapeutischen Vorgehen lösen.

Zweifellos wäre es nützlich, „Service-Leister für verschiedene Fachgebiete” vermehrt in diese Fachgebiete zu integrieren. Entsprechend fordert das IGSF-Gutachten für die neu zu errichtenden Abteilungen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, „die Träger der Einrichtungen sind zu verpflichten, Konzepte zur integrierten Versorgung im Bereich der Psychotherapeutischen Medizin unter enger Einbindung des ambulanten und des rehabilitativen Bereichs zu entwickeln”. Diese Forderung ist aber - so wünschenswert die Integration ist - aus rechtlichen Gründen illusorisch: Die Krankenhausplaner können hierzu nicht verpflichten, denn Verträge über integrierte Versorgung gemäß §§ 140a ff SGB V unterliegen der Vertragsfreiheit.

Bedeutsamer aber ist, dass die Forderung nach Integration den Kern der Sache trifft: Ärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie brauchen eigene Betten nur für einen sehr viel enger als von dem IGSF gefassten Kernbereich (F54 „Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten”). Ansonsten muss ermöglicht werden, dass sie als „Service-Leister für verschiedene Fachgebiete” den psychosomatischen Ansatz in die somatischen Fachgebiete tragen.

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Schlussfolgerung

Das IGSF-Gutachten liefert gute Argumente für die Integration nicht-bettenführender oder allenfalls begrenzt bettenführender Abteilungen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Allgemeinkrankenhäuser. Der vom IGSF-Gutachten ermittelte künftige Bedarf an psychosomatischen Behandlungsplätzen im Jahre 2010 wird nicht in eigenständigen psychosomatischen Abteilungen bestehen, sondern dort, wo diese Krankheiten bereits jetzt behandelt werden, also in somatischen Einrichtungen und in Einrichtungen für Psychiatrie und Psychotherapie. Würden Betten-führende psychosomatische Abteilungen ausgebaut, so wäre das eine auf eine Methode - die Psychotherapie - reduzierte Krankenhausplanung, also Anbieterzentrierung statt Patientenzentrierung, also das Gegenteil von Integration. Nur Einrichtungen für Psychiatrie und Psychotherapie können gemäß Weiterbildungsordnung den ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Zugang gewährleisten. Eine andere Schlussfolgerung ist schon deshalb unmöglich, weil es dem IGSF-Gutachten nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte, nachvollziehbar und wissenschaftlich begründet zu operationalisieren, wann eine Krankheit aus ICD-Kapitel V in einer Einrichtung der Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Abgrenzung zu einer Einrichtung der Psychiatrie und Psychotherapie zu behandeln sein soll.

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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Gesundheitspolitischer Sprecher

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

Asternweg 65

50259 Pulheim

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