Der Klinikarzt 2005; 34(10): 280-285
DOI: 10.1055/s-2005-922090
In diesem Monat

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der moderne Anästhesist - Perioperativer Mediziner im Krankenhaus der Zukunft

The Modern Anaesthetist - Peri-operative Physicians in the Hospital of the FutureD. Kettler1 , J. Radke1
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Georg-August-Universität Göttingen (em. Direktor: Prof. Dr. Dr. h.c. D. Kettler)
  • 22 Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Direktor: Prof. Dr. J. Radke)
Further Information
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Anschrift für die Verfasser

Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. D. KettlerFRCA

Zentrum Anästhesiologie, Rettungs und Intensivmedizin

Georg-August-Universität Göttingen

Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen

Publication History

Publication Date:
04 November 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Schon jetzt ist der Anästhesist an zahlreichen Schnittstellen der operativen Versorgung tätig und künftig für die Rolle des Koordinationsarztes zur perioperativen Führung von Patienten prädestiniert. Seine vielfachen Kontaktstellen und sein Querschnittswissen befähigen ihn zur Übernahme einer interdisziplinären strukturverbundenen Rolle im Krankenhaus - auch in einer entsprechenden Führungsposition. Im Fach der Anästhesiologie ist eine differenzierte, qualifiziert aufgebaute Struktur erforderlich: Nur eine verbesserte Qualifizierung des Assistenzpersonals, die mit einer Erweiterung des Aufgaben- und Verantwortungsbereiches einhergeht, ist in der Lage, sowohl die humanen als auch die ökonomischen Engpässe zu verringern. Der Anästhesist selbst aber muss kompetenter Partner aller operativen Disziplinen sein, angefangen vom präoperativen Assessment bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus. Als perioperativer Manager begleitet er den Weg des Patienten durch alle Schritte der Diagnostik und Therapie. Hierdurch wird der Schritt vom Narkosearzt zum perioperativen Mediziner vollzogen.

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Summary

The anaesthetist is already actively involved in numerous interfaces of surgical care, and is thus predestined to take over the role of the coordinating physician for the peri-operative patient care. His numerous contacts and comprehensive skills render him particularly suited to take on the responsibilities of an interdisciplinary structure-binding role in the hospital - also in a managerial position. In the specialty of anaesthesiology, a differentiated qualified structure is needed: only an improvement in the qualifications of assistant staff, associated with an expansion of tasks and responsibility can reduce both personnel and economic bottlenecks. The anaesthetist himself, however, must be a competent partner for all operative disciplines ranging from pre-operative assessment to patient discharge from the hospital. As a peri-operative manager he accompanies the patient through all the diagnostic and therapeutic steps. In this way, the step from anaesthetist to peri-operative physician can be accomplished.

Schon heute sind viele Anästhesisten weit über die eigentliche Aufgabe hinaus dafür verantwortlich, den Patienten vor dem operativen Schmerz und Stress zu bewahren und ihn in den Bereichen Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie einschließlich der prosperierenden Palliativmedizin zu betreuen. Eine große Zahl von Anästhesisten ist in Steuerungs- und Leitungsfunktionen engagiert, die das ganze Krankenhaus betreffen. Qualitätssichernde und ökonomische Aufgaben kommen hinzu.

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Ein Berufsbild im Wandel

Bereits Ende der 80er Jahre haben sich die Aufgaben des Anästhesisten aus dem Operationssaal hinaus entwickelt, weg von der alleinigen Applikation von Anästhetika hin zu den so genannten „Critical Care Units”, den Schmerz- und Prämedikationsambulanzen, dem Aufwachraum und anderen nicht operativen Bereichen, zuletzt der Palliativmedizin.

Während dem Operateur die Verbesserung der Diagnostik, der prä- und postoperativen Therapie des Grundleidens und speziell der Operationstechnik obliegt, ist der Anästhesist, teils in Kooperation mit anderen Spezialdisziplinen, dafür verantwortlich, die entscheidende Voraussetzung für ein positives postoperatives Ergebnis zu erzielen: Er sorgt dafür, dass der Patient überhaupt erst operations- und narkosefähig ist. Nur noch 50 % seiner Arbeitszeit verbringt der Anästhesist heute im OP-Saal, den überwiegenden Rest arbeitet er auf der Aufwach-, der Intermediate-Care- sowie der Intensivstation und mit wechselnden Anteilen in der Notfallmedizin, der Schmerztherapie und der Palliativmedizin.

Ökonomischer Druck - auch auf das Fach der Anästhesie - entstand durch die Auffassung, dass das wirtschaftliche Wachstum am besten zu fördern ist, indem die Ressourcen zu einem großen Teil der Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben (einschließlich des Gesundheitssystems) und weniger für die Produktion von Verbrauchsgütern eingesetzt werden sollte. Ungeachtet der Kosten sollte das Gesundheitssystem jedem Bürger zur Verfügung stehen. Extrem hohe Personalkosten, ein Überangebot an Hospitalbetten und eine Explosion von medizinischen Interventionen sowie ein erhebliches wirtschaftliches Wachstum im Gesundheitssektor waren die Folge. Shapiro beschreibt diese Entwicklung als eine „risikofreie ökonomische Szene” unabhängig von marktwirtschaftlichen Einflüssen [9]. Die Anästhesie partizipierte an diesem System in vielerlei Hinsicht.

Ende der 70er Jahre fand in den USA ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der ökonomischen Auffassungen statt: Marktwirtschaftliche Kräfte sollten hier die allmächtige Rolle des Staates für die Sozialgesellschaft ersetzen. Gegenwärtig haben diese Auffassungen auch in Deutschland Hochkonjunktur, und das deutsche Gesundheitswesen erlebt aufgrund der so genannten Kostenexplosion einen ökonomisch bedingten Wandel bisher ungeahnten Umfangs, der nicht mehr allein durch die Sozialabgaben der Bevölkerung und staatliche Subventionen befriedigt werden kann. Die Anästhesiologie hat ihren Anteil an dieser Entwicklung.

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Finanzierung sicherstellen

Die Voraussetzung für die weitere Finanzierung der Anästhesieleistungen ist die Ausweitung und Verbesserung unseres Angebots [9]. Die Anästhesie soll ökonomischer werden. Dazu gehören qualifizierte perioperative Leistungen wie

  • präoperative Risikoeinschätzung und adäquate Vorbereitung des Patienten

  • Beachtung des Wirtschaftlichkeitsprinzip durch adäquate (reduzierte) präoperative Untersuchungen

  • psychologische Führung der Patienten

  • Einflussnahme auf die effektive OP-Saalnutzung

  • ambulanter Anästhesieservice mit kurzen Aufwachzeiten

  • Optimierung des Patientenflusses im Krankenhaus: Poliklinik - Normalstation - OP - Aufwachraum - Intermediate Care/Intensivstation - Normalstation

  • Optimierung der postoperativen Schmerztherapie.

Dabei ersetzt der perioperative Anästhesist den früheren individuellen Anästhesisten, der durch seine eigenen Individualleistungen existierte und am weiteren komplexen Prozess im Krankenhaus kaum Anteil hatte. Dieser Ausweitung des „anästhesiologischen Angebots” stehen natürlich die begrenzten Ressourcen im Wege. Es kann immer nur darum gehen, an den unabweisbaren perioperativen Aufgaben zu partizipieren und dafür ein entsprechendes Konzept zu unterbreiten. Im Vordergrund steht das interdisziplinär zu erzielende, optimale Ergebnis.

Auch in Deutschland ist die für manch andere Disziplin bedrohlich erscheinende, wachsende Rolle des Anästhesisten in der perioperativen Medizin in der Diskussion. Prien und van Aken [8] schreiben dazu: „Bei vielen Operationen kann mittlerweile von der Notwendigkeit einer intraoperativen Intensivbehandlung gesprochen werden, gegenüber der das eigentliche Betäubungsverfahren an Bedeutung verliert und in den Hintergrund tritt. Die intraoperativ eingeleiteten Maßnahmen müssen fließend in die unmittelbar postoperative Versorgung übergehen. (...) Der Anästhesist wird also in Zukunft die perioperative Betreuung des Patienten im OP-Bereich übernehmen, die sich in drei Phasen gliedert:

  • frühe Risikoeinschätzung (Anästhesie-Ambulanz) und Risikooptimierung

  • präoperative Vorbereitung in der „Aufwacheinheit” (z.B. hämodynamische Optimierung, Einleitung von kontinuierlichen Regionalanästhesieverfahren)

  • Anästhesie und Sicherung der Vitalfunktionen im Operationssaal

  • unmittelbare postoperative Betreuung in der Aufwacheinheit.”

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Qualitätsmanagement

Qualität ist in der Anästhesie multidimensional zwischen Patient, Operateur, Krankenhaus und Kostenträger angesiedelt. Dabei hat die Qualität jeweils unterschiedliche Inhalte: Erste Priorität ist die optimale Betreuung der Patienten, in zweiter Linie sollten für den Operateur intra- und postoperativ die besten Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Letztendlich gilt es, optimale klinische Ergebnisse zu einem vertretbaren Preis zu produzieren, der für viele komplexe Leistungen durch die Diagnosis Related Groups (DRGs) vorgegeben ist.

Neben den prä-, intra- und postoperativen Maßnahmen des jeweiligen operativen Fachs ist für den Patienten - insbesondere, wenn er mit Risiken belastet ist und/oder großen operativen Eingriffen entgegen sieht - die lückenlose perioperative Versorgungskette besonders wichtig. Neben dem Operateur, der in allen Versorgungsbereichen für das Grundleiden zuständig ist, muss der Anästhesist für die vitalen Funktionen verantwortlich sein.

Hierbei sollte es nur eine perioperative Zuständigkeit geben, die nicht in Phasen aufteilbar ist [1]. Der Anästhesist ist kein „peripatetic trouble-shooter” [7]. Als perioperativer Mediziner trägt er vielmehr dazu bei, das perioperative Management eines Patienten unfragmentiert, standardisiert und eingebunden in multiple, effektiv kommunizierende Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel umzusetzen [2].

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Präoperative Versorgung

Der erste Kontakt mit dem Anästhesisten findet heutzutage entweder notfallmäßig in der präklinischen Rettungsmedizin oder routinemäßig bei der präoperativen Untersuchung statt. Vor der eigentlichen Prämedikationsvisite wird immer häufiger ein anästhesiologisches Konsil angefordert. Hierin wird festgelegt, welche Untersuchungen zur Prämedikationsvisite vorliegen müssen, um beispielsweise ein komplexes oder multimorbides Krankheitsprofil eines Patienten abzuklären.

Das präoperative Prämedikationsgespräch hat die wichtige Aufgabe, durch die Evaluation der Anamnese und die körperliche Untersuchung die Verfassung des Patienten für die Narkose und die Operation zu ermitteln. Zudem muss das anästhesiologische intra- sowie postoperative Prozedere inklusive der postoperativen Schmerztherapie festgelegt, dem Patienten erläutert und erklärt werden. Nur so wird die Angst reduziert und die schriftliche Einwilligung kann eingeholt werden. Gleichzeitig ist die medizinische Behandlung des Patienten so zu koordinieren, dass die Kosten verringert und die sechs negativen „D's” des Outcomes verbessert werden - „death, disease, disability, discomfort, dissatisfaction and dollars” (Klafka und Rolzen, zitiert nach [3]).

Diese Aufgabe obliegt naturgemäß dem Anästhesisten, da er den Patienten in der Regel den gesamten Weg begleitet und aus seiner breit gefächerten Erfahrung heraus das perioperative Risiko des Patienten gut abschätzen und ihn entsprechend fundiert beraten und aufklären kann.

Bereits seit längerem übernimmt der Anästhesist zunehmend die übergeordnete Aufgabe des Managements und der Koordination der Behandlung des Patienten in der Komplexität seiner Krankheit [3]. Er beurteilt präoperativ die Laborbefunde des Laborarztes, die Lungenfunktion, das EKG und die Echokardiografie. Bisher nimmt der Anästhesist jedoch seine Aufgaben noch eher als Anästhesist wahr [11].

Als perioperativer Mediziner wird er jedoch notwendige Zusatzuntersuchungen selbst anfordern oder die Behandlung beginnen und den Chirurgen bei dem weiteren Prozedere beraten. Damit könnte die Anästhesieambulanz zukünftig zu einem immer wichtigeren perioperativen Anästhesieplanungs- und Management-Zentrum werden, in dem Anästhesievoruntersuchungen, Aufklärung, Prämedikation, Anästhesieplanung, OP-Ablaufplanung, akute und chronische Schmerztherapie festgelegt und koordiniert werden. Allerdings wird sie nicht die Aufgaben der gesamten perioperativen Medizin übernehmen können.

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Intraoperative Phase

Die Aufgabe des Anästhesisten während der Operation ist die Durchführung der Narkose, das Monitoring und die Dokumentation des Narkoseverlaufs. Nicht selten übernimmt er auch die Koordination verschiedener anderer Aufgaben im Operationssaal oder auch die Kontrolle über das Zeitmanagement für den Chirurgen, indem er beispielsweise an das Zeitlimit der angelegten Blutsperre bei Extremitäteneingriffen erinnert. Zudem koordiniert er die internen Abläufe der verschiedenen Berufsgruppen wie beispielsweise des anästhesiologischen und operativen Pflegepersonals, der Operateure, der Transportpfleger und der Reinigungskräfte.

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Postoperative Phase

Seit langem ist der Anästhesist insbesondere in die postoperative Betreuung der Patienten vom Aufwachraum oder der Intensivstation bis hin zur postoperativen akuten oder chronischen Schmerztherapie inklusive der Palliativmedizin involviert oder führt sie gemeinsam mit den operativen Disziplinen durch. Dabei ist der Anästhesist nicht der einzige Arzt, der sich diesem Themengebiet qualifiziert widmen kann.

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Organisation der postoperativen Nachbetreuung

Prinzipiell sollte die jeweils qualifizierteste Fachrichtung die Betreuung der Patienten übernehmen und nicht zwangsweise derjenige Arzt, auf dessen Station der Patient liegt - zumal sich erst kürzlich gezeigt hat, dass die perioperative Schmerztherapie in Deutschland aus organisatorischen und fachlichen Gründen bislang ineffektiv und inadäquat ist [6].

Häufig legt der Anästhesist in der postoperativen Phase die intravenöse Flüssigkeitstherapie fest, veranlasst bestimmte Röntgenaufnahmen, Laborabnahmen und die antithrombotische Prophylaxe. Allerdings ist die postoperative Nachbetreuung durch einen Anästhesisten bisher nur dann unkompliziert möglich, wenn sich der Patient im Aufwachraum oder auf der interdisziplinären anästhesiologischen Intensivstation befindet.

Oft kann der Anästhesist die Nachbetreuung des Patienten auf der chirurgischen Station im Sinne der perioperativen Medizin jedoch nicht umfassend gewährleisten, weil er nur punktuell und in eingeschränktem Maße in die postoperative Betreuung des Patienten auf der Normalstation involviert ist. Vielfach ist nach einschlägiger Erfahrung seine Mitwirkung auch gar nicht erwünscht.

Es ist darüber hinaus lange bekannt, dass die perioperative Mortalität der Patienten in den ersten drei postoperativen Tagen am höchsten ist [4]. Die frühzeitige Verlegung von Patienten birgt zusätzliche Gefahren durch mögliche Kommunikationsdefizite zwischen den Ärzten und Pflegern verschiedener Stationen: Oft werden Befunde zeitverzögert nachgeschickt oder die weitere Diagnostik durch unterschiedliche Organisationsstrukturen unkoordiniert in die Wege geleitet. Daraus lässt sich der Bedarf für eine kontinuierliche perioperative Überwachung und Therapie der Patienten durch den Anästhesisten ableiten.

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Die perioperative Anästhesiestation (PAS)

Bereits in den letzten Jahren haben sich die Aufgaben des Aufwachraums in Richtung einer „perioperativen Anästhesiestation (PAS)” weiterentwickelt [8]. Ursprünglich dienten die Aufwacheinheiten vor allem dem Zweck, bei rationeller Nutzung personeller und apparativer Ressourcen die Inzidenz postoperativer Komplikationen zu verringern. Inzwischen sind jedoch weitere Aufgaben hinzugekommen:

  • die kurzfristige Übernahme intensivmedizinischer Funktionen

  • unmittelbare präoperative Maßnahmen

  • postoperative Initialstellung der Analgetikatherapie

  • Platzierung von zentralvenösen Kathetern

  • die Betreuung unerwartet hospitalisierter Patienten nach ambulanten Narkosen.

Der Anästhesist ist als verantwortlicher Mediziner für diese Station gut geeignet, weil die intraoperativ eingeleiteten Maßnahmen fließend in die unmittelbar postoperative Versorgung übergehen müssen. Diese Kontinuität durch eine willkürliche Zäsur zu unterbrechen, wäre kontraproduktiv. Eine klare Zuständigkeit und Struktur der perioperativen Medizin könnte auch die juristische Lage vereinfachen - zumal sich viele Behandlungs- und Organisationsfehler in der unmittelbaren postoperativen und postanästhesiologischen Phase ereignen [10].

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Der Anästhesist als Team-Manager

Nicht nur die Tätigkeit als Narkosearzt, Intensivmediziner, Rettungsmediziner und Schmerztherapeut macht den Anästhesisten in logischer Konsequenz zu einem interdisziplinären Bindeglied, auch seine multimodale Funktion hat bereits traditionell interdisziplinären Charakter. Hilfreich und im Interesse des gesamten Krankenhauses ist dabei der Versuch, die Grenzen zwischen den beteiligten Fachdisziplinen aufzuweichen und interdisziplinäre Stationen und Arbeitsgruppen zu bilden, um so die vergangene uni-disziplinäre und unkoordinierte Entscheidungsfindung des perioperativen Managements durch eine verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit zu ersetzen. Hierdurch können Frustrationen reduziert und das Patienten-Outcome verbessert werden.

Eine Möglichkeit der interdisziplinären Teambildung sind interdisziplinäre Schulungsprogramme [2] mit Anästhesisten, Chirurgen und/oder anderen perioperativ beteiligten Medizinern. Die Fähigkeiten, die hier erlernt werden sollen, setzen die Anästhesisten jedoch bereits seit langem um. Dazu zählen die Logistik, Planung und Koordination, die Patienteninformation, das präoperative Risikomanagement und dessen Optimierung, prozedurenspezifische Managementprotokolle für die Risikominimierung, stressreduzierende anästhesiologische und chirurgische, teilweise evidenzbasierte Prozeduren, Analgesie, Flüssigkeitsmanagement sowie die Therapie von „little big problems”, wie etwa postoperative Übelkeit und Erbrechen.

Darüber hinaus kann der Anästhesist auch ökonomische Vorteile für das Krankenhaus erzielen, indem er ein adäquates präoperatives Assessment mit minimalen Laboranforderungen und anderen klinischen Befunden durchführt und lediglich die essenziell notwendigen diagnostischen Prozeduren anordnet. Hierdurch fühlt sich nicht nur der Patient sicher und zufrieden. Zum einen muss der Operateur weniger Zeitverzögerungen in Kauf nehmen. Zum anderen fallen für die Krankenkassen weniger Kosten an, und die Krankenhausleitung kann eine effizientere Nutzung der OP-Kapazität nachweisen. Jede Komplikation verlängert den Krankenhausaufenthalt und führt zu unerwünschten Kosten für das Krankenhaus.

Interdisziplinäre Führungsaufgaben - im Sinne der Aufgabe als Teammanager im Team - sind der Persönlichkeit eines Anästhesisten häufig „auf den Leib geschrieben”. Er steht von Beginn seiner beruflichen Tätigkeit an in engem Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen, angefangen von den Patienten über die ärztlichen Kollegen, Krankenpflegepersonal, Labor- und radiologischem Personal bis hin zu Lagerungs-, Reinigungs- und technischem Personal.

In der Intensiv-, Notfall- und Rettungs- und Schmerztherapie kommt ihm darüber hinaus noch eine zentrale Bedeutung im Gespräch und Umgang mit Angehörigen zu. Anästhesisten finden sich überwiegend auch oft in der Position des OP-Managers und sind dabei meist direkt der Krankenhausleitung unterstellt.

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Personalsituation in der Anästhesie

Die repräsentative Umfrage des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten (BDA) im Dezember 2001 zur „Arbeitsmarktsituation in der Anästhesiologie” ergab, dass in den letzten zwölf Monaten vor der Umfrage 75 % freie Stellen zu besetzen waren, davon 21 Stellen für Chefärzte, 412 für Fachärzte, 461 für Assistenten und 295 Stellen für Ärzte im Praktikum. In nur 27 % der Fälle konnten die Stellen nahtlos besetzt werden, bei 11 % der Stellen dauerte es über zwölf Wochen, und 22 % blieben weiterhin vakant.

Die Situation hat sich bis zum heutigen Zeitpunkt erheblich verschärft, viele Kollegen haben weitaus besser dotierte Positionen im Ausland angenommen und auch die Ost-Westwanderung in Deutschland hat unübersehbar zu teilweise dramatischen Defiziten an qualifizierten Anästhesiologen, insbesondere an kleinen Krankenhäusern, geführt. Die Reduktion der Nettoeinkommen durch eine Verlängerung der Arbeitszeit oder die Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld fördern ebenfalls die Abwanderungstendenzen. Laut dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten ist der befürchtete Nachwuchsmangel für das Fachgebiet tatsächlich feststellbar. Betroffen sind hiervon nahezu alle Gebiete, wobei die Situation in den Ballungsräumen noch relativ entspannt ist.

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Assistenzberufe in der Anästhesie

Der programmierte Mangel an ärztlichem Personal zwingt auch die Anästhesiologen zu neuen, häufig bereits bekannten Überlegungen. Die Rede ist hier von einer Änderung der Qualifikationswege für das anästhesiologische Assistenzpersonal mit erweiterter Delegation von Tätigkeiten im Rahmen der Patientenbetreuung. Mit den höchstrichterlich abgesegneten Grundsatzurteilen „Die Narkose ist eine ausschließlich ärztliche Leistung” und dem Verbot der Parallelnarkose ist die vertraute und qualifizierte Zusammenarbeit mit den Anästhesie- und Intensivschwestern, die in den Anfangsjahren des Faches einen Großteil der praktischen Verrichtungen übernahmen, zu Ende gegangen. Diese Situation verstärkt den angesprochenen Mangelzustand noch erheblich.

Obwohl die Weiterbildung für das Anästhesie- bzw. Intensivpersonal einschließlich der Grundausbildung insgesamt fünf Jahre dauert und damit der Dauer des Medizinstudiums entspricht und das zweijährige Curriculum praktische und zahlreiche theoretische Abschnitte der Anästhesie und Intensivmedizin enthält und mit einem staatlichen Examen endet, haben die Anästhesieschwestern und -pfleger danach - drastisch ausgedrückt - die Funktion von Reinigungs-, Transport- und Handreichungspersonal. Einfache Überwachungstätigkeiten können zwar unter strenger Aufsicht schon jetzt an das Anästhesie-Pflegepersonal delegiert werden, tatsächlich ist aber aufgrund des Ärztemangels die Schwestern-/Pflegernarkose unter Aufsicht eines Arztes längst in vielen Operationssäle wieder üblich - ein rechtlich bedenklicher Zustand.

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Qualifizierte Anästhesieassistenz

Überlegungen, anästhesiologische Assistenten mit eigenverantwortlich wahrgenommenen Aufgaben in das Anästhesie-Team einzubinden, sind erstens nicht neu und zum Zweiten auch international sehr aktuell. Die Rede ist hier nicht von den bereits etablierten Verhältnissen wie etwa in Skandinavien oder den Niederlanden. Vielmehr wird auch in Ländern wie den USA und Großbritannien die Schaffung eines neuen Typus von Anästhesieassistenz vorangetrieben.

Es ist an der Zeit, auch in unserem Land, in der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten das Thema der qualifizierten Anästhesieassistenz neu zu beleben. Erste, unterschiedlich weit reichende Pilotprojekte in Frankfurt und Halle sowie im Bereich des Krankenhauskonzerns Helios laufen bereits.

Schon mit der Etablierung der Anästhesie- bzw. Intensiv-Pflegerweiterbildung hat die Anästhesie seinerzeit Maßstäbe gesetzt. Es gilt, in eine offene Diskussion einzutreten, die über die Einführung von entsprechend veränderten Curricula und Weiterbildungsgängen eine neue Qualität des Assistenzpersonals zum Ziel hat. Dabei ist durchaus eine zumindest teilweise Trennung der Curricula Intensivschwester und Anästhesieassistent denkbar.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es wird hier nicht der selbstständigen Schwester-/Pflegernarkose das Wort geredet. Die Anästhesiologie ist und bleibt eine akademische Disziplin mit ärztlichen Aufgaben, die aber auch ein entsprechend motiviertes und speziell ausgebildetes Assistenzpersonal verdient.

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Der Anästhesist in Führungspositionen

Anästhesisten mit Mehrfachqualifikationen über ihr Fach hinaus, wie beispielsweise als Qualitätsmanager oder „Master of Public Health”, sind nicht ungewöhnlich und tragen dazu bei, dass Führungspositionen in Krankenhäusern häufig von Anästhesisten besetzt werden [5].

Die Anästhesie muss sicherstellen, dass die Rolle im OP ebenso wie in der Intensivmedizin, der präklinischen Medizin und in der Schmerztherapie mit einer hohen Fachkompetenz ausgefüllt wird. Um den interdisziplinären Ansatz zu wahren, sollen die Internisten, Chirurgen, Radiologen, Laborärzte und alle anderen medizinischen Fachkollegen ohnehin enge Partner des Anästhesisten bleiben. Die zukünftigen Herausforderungen im Krankenhaus können dabei nur gemanagt werden, wenn alle Berufsgruppen als multiprofessionelles und -funktionales Team zusammenarbeiten.

Im Rahmen der Fülle an neuen Aufgaben und Veränderungen, die durch die Einführung der DRGs auf die Krankenhäuser zukommen, wird die Anästhesiologie ihre strategische Ausrichtung überdenken und ihre Daseinsberechtigung im Gesamtunternehmen Krankenhaus neu definieren müssen. Von ganz entscheidender Bedeutung ist dabei eine effiziente Planung des Ressourceneinsatzes und eine optimierte medizinische Dokumentation.

Die Diagnosendokumentation nach ICD 10 ist für den Anästhesisten in unterschiedlichen Bereichen erforderlich. So ist der Anästhesist regelmäßig mit der Diagnosenerhebung in den Bereichen präoperative Diagnostik, Intensivmedizin und Schmerztherapie befasst. Diese Bereiche tragen nicht unerheblich zur Erhöhung der Anzahl von Nebendiagnosen sowie durch deren Schweregrad zur adäquaten Abbildung eines Patientenfalles und damit letztlich zum Erlös des Krankenhauses bei.

In Zukunft wird der zielgerichteten Steuerung von Patienten und der Vermeidung von langen präoperativen Verweildauern für noch ausstehende Diagnostik eine immer größere Bedeutung zukommen. Die Anästhesie kann sich hier mit ihren Leistungen im Rahmen der Anästhesieambulanzen in die Patientensteuerung und in die Diagnosendokumentation einbringen. Auch in diesem Zusammenhang wird der Anästhesist also ein wichtiges Bindeglied im Krankenhaus sein.

Im European Journal of Anesthesiology kommen Dahmen und Albrecht (3) zu dem Ergebnis, die Qualität in der Anästhesie sei multidimensional. Unser Fach dient einmal dem Patienten, dem Chirurgen und dem Krankenhaus, muss gleichzeitig aber den Ansprüchen der Krankenkassen und der Gesellschaft (Kostenreduktion) genügen. Jeder dieser Aspekte erfordert eine separate Qualitätsanalyse. Das Qualitätsmanagement hat nach den Autoren demnach die drei Aspekte

  • Vermeidung unnötiger Belastungen und Schäden für den Patienten

  • Schaffung optimaler Bedingungen für die operative Medizin und perioperative Versorgung

  • Begründung von Behandlungsalgorithmen für eine optimale Patientenversorgung (evidenzbasierte Medizin).

In diesem kontinuierlichen kooperativen Konzept lassen sich dann auch zeit- und kostensparende Aufgaben wie die OP-Planung und Saalnutzung lösen. Darüber hinaus werden Patientenwünsche nach Komfort und Sicherheit sowie eine unangemessen hohe Morbidität und Mortalität vermieden. Letztere haben wiederum erhebliche Auswirkungen auf Verweildauer, Therapiekosten und das Krankenhausbudget. Es ist durchaus möglich, durch die Einführung einer multimodalen postoperativen Schmerztherapie, die frühe Extubation und Mobilisation substanzielle Einsparungen in der Intensivmedizin zu ermöglichen.

Um die Versorgungsqualität zu optimieren, müssen die Organisationsstrukturen im Krankenhaus radikal verändert werden: Die Barrieren zwischen den Fächern müssen verschwinden und ein wirklich interdisziplinärer Ansatz an deren Stelle treten. Der Anästhesist ist aus seiner bisherigen Position heraus bestens vorbereitet, hier eine führende Rolle zu spielen.

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Literatur

  • 1 Ahnefeld FW. Anästhesie. Optimale perioperative Betreuung?.  Anaesthesist. 1997;  46 S71-S73
  • 2 Dahl JB, Kehlet H. Perioperative medicine - an new sub-speciality, or a multi-disciplinary strategy to improve perioperative management and outcome.  Acta Anaesthesiol Scand. 2002;  46 121-122
  • 3 Dahmen KG, Albrecht DM. An approach to quality management in anaesthesia: a focus on perioperative care and outcome.  Eur J Anaesthesiol. 2001;  23 4-9
  • 4 Mangano DT, Hollenberg M, Fegert G. et al. . Perioperative ischemia in patients undergoing noncardiac surgery - I: Incidence and severity during the 4 day perioperative period. The Study of Perioperative Ischemia (SPI) Research Group.  J Am Coll Cardiol. 1991;  17 843-850
  • 5 Nesbit I. From gasman to hospital saviour: how far should we go?.  Anaesthesia. 2000;  55 1234-1235
  • 6 Neugebauer E, Hempel K, Sauerland S. et al. . Situation der perioperativen Schmerztherapie in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen, anonymen Umfrage von 1000 chirurgischen Kliniken.  Chirurg. 1998;  69 461-466
  • 7 Notcutt W. Anaesthesia, what's in a name?.  Anaesthesia. 2001;  56 273-274
  • 8 Prien T, van Aken H. Die unmittelbar perioperative Phase als Bestandteil der Anästhesie. Aufgaben einer perioperativen Anästhesiestation (PAS).  Anaesthesist. 1997;  46 S109-S113
  • 9 Shapiro BA. Why must the practice of anesthesiology change? It's economics, doctor!.  Anesthesiology. 1997;  86 1020-1022
  • 10 Ulsenheimer K. Ethisch-juristische Aspekte der perioperativen Patientenversorgung.  Anaesthesist. 1997;  46 S114-S119
  • 11 Webster NR. The anaesthetist as peri-operative physician.  Anaesthesia. 2000;  55 839-840
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Anschrift für die Verfasser

Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. D. KettlerFRCA

Zentrum Anästhesiologie, Rettungs und Intensivmedizin

Georg-August-Universität Göttingen

Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen

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Literatur

  • 1 Ahnefeld FW. Anästhesie. Optimale perioperative Betreuung?.  Anaesthesist. 1997;  46 S71-S73
  • 2 Dahl JB, Kehlet H. Perioperative medicine - an new sub-speciality, or a multi-disciplinary strategy to improve perioperative management and outcome.  Acta Anaesthesiol Scand. 2002;  46 121-122
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  • 10 Ulsenheimer K. Ethisch-juristische Aspekte der perioperativen Patientenversorgung.  Anaesthesist. 1997;  46 S114-S119
  • 11 Webster NR. The anaesthetist as peri-operative physician.  Anaesthesia. 2000;  55 839-840
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Anschrift für die Verfasser

Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. D. KettlerFRCA

Zentrum Anästhesiologie, Rettungs und Intensivmedizin

Georg-August-Universität Göttingen

Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen