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DOI: 10.1055/s-2005-922093
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Status Quo der Schmerztherapie - Die Versorgung von Schmerzpatienten durch den Anästhesisten
State of the Art of Pain Therapy - Medical Care of Pain Patients by AnaesthesiologistsAnschrift des Verfassers
Prof. Dr. Jan Hildebrandt
Schmerzambulanz, Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin
Georg August Universität - Bereich Humanmedizin
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
04. November 2005 (online)
- Zusammenfassung
- Summary
- Entwicklung der Schmerztherapie
- Postoperative Schmerztherapie
- Klientel von Schmerzambulanzen
- Behandlungsspektrum chronischer Schmerzen
- Probleme der Patientenversorgung
- Literatur
Zusammenfassung
Diagnostik und Therapie akuter und chronischer Schmerzen sind als Aufgabengebiet von Anästhesisten inzwischen etabliert. Hierzu gehören neben der postoperativen Schmerztherapie in Form der patientenkontrollierten intravenösen Analgesie (PCA) auch die regionalen Analgesieverfahren wie die epidurale Analgesie oder die periphere Nervenkatheteranalgesie sowie die - meist medikamentöse - Therapie von starken Tumorschmerzen und die Behandlung chronischer Schmerzen. Letztere ist kompliziert und setzt sowohl eine spezielle Aus- und Weiterbildung des Anästhesisten voraus als auch aufwändige strukturelle Bedingungen wie eine enge interdisziplinäre Kooperation, zusätzliches Personal wie beispielsweise Psychologen und Physiotherapeuten und die Möglichkeit, Blockaden unter Durchleuchtung und/oder CT-Kontrolle durchzuführen. Fast alle schmerztherapeutischen Institutionen an Kliniken werden von Anästhesisten geleitet. Dennoch gibt es viele Probleme - angefangen von einer ungenügenden räumlichen, technischen und personellen Ausstattung bei zunehmend schwierigem Patientenklientel, bis hin zu fehlenden Möglichkeiten zur Durchführung multidisziplinärer bio-psycho-sozialer Therapiekonzepte wie dies in Form einer tagesklinischen Behandlung möglich wäre.
#Summary
Diagnosis and therapy of acute and chronic pain as a task for anaesthesiologists meanwhile is well established. This concerns postoperative pain (PCA and regional analgetic procedures), treatment of severe cancer pain, and treatment of chronic pain as well. The latter is difficult and special knowledge and education of anaesthesiologists, structural conditions like interdisciplinary cooperation, additional staff (i.e. psychologists and physiotherapists), and the possibility to do nerve blocks under x-ray control are absolutely necessary. Anaesthesiologists are in charge of nearly all pain clinics in Germany. Nevertheless there are many problems like increasing complicated patients or missing possibilities for intensive interdisciplinary bio-psycho-social treatment.
Diagnostik und Therapie akuter und chronischer Schmerzen sind als Aufgabengebiet von Anästhesisten inzwischen etabliert. Ausgangspunkt für die internationale Entwicklung der Schmerztherapie war die Tätigkeit des Anästhesisten John Bonica [3]. Die Schmerztherapie bestand entsprechend der Ausbildung der Anästhesisten zunächst hauptsächlich aus Blockadetechniken mit Lokalanästhetika oder neurolytischen Substanzen wie Alkohol oder Phenol.
In Deutschland wurde die Schmerztherapie mit der Gründung der Schmerzklinik Mainz im Jahr 1971 durch Gerbershagen institutionalisiert [4]. 1975 wurde die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) gegründet, 1989 der Arbeitskreis Schmerztherapie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) ins Leben gerufen. Ebenfalls im Jahr 1989 richtete die Universität Göttingen erstmals eine Professur „Algesiologie” am Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin ein.
#Entwicklung der Schmerztherapie
#Schmerztherapie in den Neunzigern: Bittere Realität
In Deutschland gab es Anfang der 90er Jahre drei Untersuchungen über Problem und Stand der Versorgung von Schmerzpatienten durch Anästhesisten an Universitätskliniken von Tolksdorf, Hildebrandt und Zenz [7]. Die Umfrage brachte ernüchternde Ergebnisse zu Tage [11]: Die Ambulanzen versorgten wenige Patienten, die räumlichen und personellen Verhältnisse waren durchweg ungenügend - so waren in nur zehn der 31 Universitätskliniken, die Schmerztherapie durchführten, Psychologen integriert -, die Aus- und Weiterbildung war unzureichend, und es wurde kaum Forschung durchgeführt. Außerdem fehlte eine interdisziplinäre Zusammenarbeit weit gehend.
Augenblicklich wird unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre klinische Medizin (DGIKM) und der DGSS an deutschen Krankenhäusern die Studie „Schmerzfreies Krankenhaus” durchgeführt, in der Häufigkeit, Ausmaß und Ursachen von Schmerzen untersucht und Strategien zur Verbesserung der Situation erprobt werden.
#Einführung der „Speziellen Schmerztherapie”
Nur wenige Konsequenzen folgten aus der Vereinbarung mit dem Berufsverband der Orthopäden zur interdisziplinären Zusammenarbeit im Jahr 1991. Eine Vereinbarung mit dem Berufsverband der Chirurgen zur Organisation der postoperativen Schmerztherapie wurde erstmals im Jahr 1993 getroffen [2] und 1997 präzisiert.
Im Jahr 1992 wurde das erste deutsche Repetitorium Schmerztherapie unter der Leitung von Zenz in Bochum institutionalisiert und die Schmerztherapie in den Weiterbildungskatalog für den Arzt für Anästhesie verankert. Mit zehn Fragen war die Schmerztherapie von 1993 im Prüfungskatalog zum zweiten Staatsexamen vertreten, wurde allerdings mit der neuen Ausbildungsordnung für Ärzte 2004 wieder gestrichen. 1995 wurde unter wesentlicher Beteiligung der DGAI die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS) gegründet. In Zusammenarbeit mit der DGSS und der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (STK) wurden entscheidende Vorarbeiten geleistet, um 1996 auf dem Deutschen Ärztetag die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie” einzuführen. Die Bundesärztekammer gab 1997 ein Kursbuch „Spezielle Schmerztherapie” heraus, das von der DIVS erarbeitet worden war.
#Vor allem Anästhesisten in Schmerztherapie tätig
Eine aktuelle systematische Umfrage über die Durchführung von Schmerztherapien an allen Kliniken Deutschlands [9] ergab, dass sowohl die ambulante als auch die teilstationäre und stationäre Schmerztherapie vor allem von Anästhesisten durchgeführt wird [Abb. 1]. Trotzdem ist die Unterstützung der Schmerztherapie durch den Bund Deutscher Anästhesisten (BDA) und die DGAI rundweg ungenügend.
Bei der Schmerztherapie muss zwischen der Behandlung von akuten oder subakuten und chronischen Schmerzen unterschieden werden. Ein Schmerz wird dann als chronisch definiert, wenn er trotz Behandlung länger als zwölf Wochen besteht. Die Therapie akuter Schmerzen wird in der Regel von den zuständigen medizinischen Fachgebieten durchgeführt. Eine Ausnahme bilden posttraumatische Schmerzen wie CRPS I („complex regional pain syndrome”), vormals M. Sudeck, und Neuralgien (z.B. Herpes Zoster), falls Nervenblockaden einen wesentlichen Therapiebeitrag leisten können.
#Postoperative Schmerztherapie
Die postoperative Akutschmerz-Therapie ist ein gutes und wichtiges Beispiel interdisziplinärer Kooperation zwischen Anästhesisten und Chirurgen. Patienten haben nach operativen Eingriffen einen Anspruch auf eine Schmerztherapie. Die Basisanalgesie, die für die meisten Patienten nach kleinen oder mittleren Eingriffen ausreicht, gewährleistet der behandelnde Chirurg. Nach stark schmerzhaften, größeren Eingriffen reicht deren Wirkung jedoch nicht aus [8].
#Patientenkontrollierte intravenöse Analgesie
Die Verfahren der speziellen Analgesie, wie die patientenkontrollierte intravenöse Analgesie (PCA) oder regionale Katheterverfahren, sind wesentlich wirksamer. Die PCA mit einem durch den Patienten selbst verabreichten, fraktionierten und gering dosierten starken Opioid kommt der individuell unterschiedlichen Schmerzempfindung und dem individuellen Analgetikabedarf entgegen. Die Schmerzlinderung ist hierbei stärker als bei der Basisanalgesie, problematisch sind jedoch dosisabhängige, opioidspezifische Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Sedierung und Hemmung der Magen-Darm-Tätigkeit.
#Regionale Analgesieverfahren
Diese Nebenwirkungen treten bei regionalen Analgesieverfahren nicht auf. Während der epiduralen Analgesie (EDA) oder der peripheren Nervenkatheteranalgesie werden Lokalanästhetika - entweder in Kombination mit Opioiden oder allein - vorzugsweise kontinuierlich, aber zunehmend auch patientengesteuert appliziert. Eine Vielzahl überwiegend randomisierter, kontrollierter Studien und mehrere Metaanalysen belegen die Vorteile der regionalen Analgesie im Vergleich zur systemischen Opioidanalgesie [Tab. 1].
Die vielschichtigen Vorteile einer regionalen Schmerztherapie gegenüber der systemischen Opioidanalgesie sind insbesondere nach viszeralen bzw. thorakalen Eingriffen mit einer mindestens 48-stündigen Epiduralanalgesie (EDA) bei Verwendung niedrig konzentrierter Lokalanästhetika mit oder ohne zusätzlichem Opioid nachgewiesen. Das gilt ebenso für die Katheteranalgesie peripherer Nerven mit einem Lokalanästhetikum nach Eingriffen am Kniegelenk und an der Schulter.
#„Fast-Track”-Konzept
Dieser weit reichende Nutzen lässt sich nur dann erzielen, wenn die regionale Schmerztherapie in ein multimodales interdisziplinäres Konzept zur perioperativen Therapie eingebunden ist. Dieses auch als „Fast-Track” bezeichnete Verfahren wurde ursprünglich für kolorektale Eingriffe aufgestellt und dann auf andere große viszerale Eingriffe übertragen. Auch nach anderen Eingriffsarten wie der Totalendoprothese des Kniegelenks führte die Integration der regionalen Analgesie in kostenreduzierende Konzepte aufgrund früher Mobilisation der Patienten zur Reduktion des Krankenhausaufenthalts. In den USA konnte mit dieser Vorgehensweise eine Entlassung nach etwa vier bis fünf Tagen erreicht werden.
Die Organisation verschiedener wirksamer Formen der Schmerztherapie verlangt neue Wege der Zusammenarbeit zwischen chirurgischen Fachrichtungen und der Anästhesie, Pflegekräften und Physiotherapie. Die Arbeitskreise „Akutschmerz” in der DGSS sowie die chirurgische Arbeitsgemeinschaft „Akutschmerz” der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie widmen sich verstärkt diesem Thema. Trotzdem fehlen in vielen Krankenhäusern momentan noch die Voraussetzungen für deren Umsetzung. Nicht nur in der Vergangenheit war die postoperative Schmerztherapie auch international unbefriedigend [15] - bis heute hat sich daran nichts geändert [1]. In beiden Untersuchungen wurden folgende Zahlen (15/1) genannt: 82/77 % der Patienten hatten Schmerzen, davon waren 13/19 % leichte, 47/49 % mittelgradige, 21/23 % schwere und 18/8 % extreme Schmerzen - trotz Therapie.
Eine postoperative Schmerztherapie ist jedoch nicht umsonst zu haben. Je nach Ausstattung des Akutschmerzdienstes kann mit direkten und indirekten Kosten von etwa 75-240 Euro pro Patient bezogen auf eine mittlere Therapiedauer von drei bis fünf Tagen gerechnet werden. Andererseits sind mit postoperativen, kardialen, pulmonalen und anderen Komplikationen hohe Kosten verbunden, sodass ein Akutschmerzdienst vermutlich im Endeffekt kostengünstiger ist. Voraussetzung für den Einsatz von Fast-Track-Programmen sind jedoch erhebliche Änderungen der bisherigen perioperativen Abläufe, die nur mit personellem und aparativem Aufwand umgesetzt werden können.
#Klientel von Schmerzambulanzen
Die Mehrzahl der chronischen Schmerzsyndrome fällt in die medizinischen Fachgebiete Orthopädie, Neurologie, Rheumatologie, Onkologie und Psychosomatik. Bei den Schmerzsyndromen handelt es sich nach der multiaxialen Schmerzklassifikation (MASK) (6) im Einzelnen um folgende Bereiche:
-
Kopfschmerz (dies sind im Wesentlichen primäre chronische Kopfschmerzsyndrome wie Migräne und Spannungskopfschmerz sowie Mischformen, medikamentös bedingter Kopfschmerz und Kopfschmerz aufgrund einer Störung der Halswirbelsäule)
-
Gesichtsschmerz durch Erkrankungen des Schädels/Gesichts, einschließlich der Kauorgane (Myoarthropathie), neurogene Schmerzen wie Trigeminusneuralgie sowie atypischer Gesichtsschmerz
-
Schmerz bei Durchblutungsstörungen (zumeist chronisch-periphere arterielle Verschlusskrankheit (AVK) oder Angina pectoris)
-
Schmerz bei Läsion oder Erkrankung des Nervensystems, wie Postamputationsschmerz, postoperative bzw. posttraumatische Neuralgie, CRPS („complex regional pain syndrome”) Typ I (sympathische Reflexdystrophie/M. Sudeck) und Typ II (Kausalgie), Engpass-Syndrom, periphere Neuropathien wie Polyneuropathie oder postherpetische Neuralgie, Schmerz bei spinaler Störung wie Syringomyelie oder bei intrazerebraler Erkrankung wie nach Apoplex mit Halbseitenschmerz
-
Schmerz im Bereich der Wirbelsäule (zumeist Rückenschmerz), dem eine mechanisch degenerative und funktionelle oder - viel seltener - radikuläre Ursache zugrunde liegt, sowie so genannte Postnukleotomiesyndrome als Folge von Bandscheibenoperationen mit funktionellen, degenerativen und nervalen Störungen
-
muskulo-skelettärer Schmerz der Extremitäten (muskuläre Schmerzsyndrome, Tendopathien, Gelenkschmerzen durch Arthritiden und Arthrosen sowie Knochenschmerzen infolge Ostitis, Osteomyelitis oder Osteoporose) und komplexere Syndrome wie die Fibromyalgie
-
viszeraler Schmerz im Bereich von Herz, Pleura, Abdomen, bei Stoffwechselerkrankungen, gynäkologischen und urologischen Erkrankungen.
Chronischen Tumorschmerzen kommt eine Sonderstellung zu, da sie eine starke somatische Komponente haben können, mit unterschiedlichen Pathomechanismen einhergehen (neurogen, Weichteilinfiltration, muskulär, Knochenschmerzen und drohende Instabilität durch Metastasen) und häufig mit psychosozialen Problemen als Folge dieser lebensbedrohlichen Erkrankung verbunden sind. Die Prävalenz von Schmerzen bei Tumorerkrankungen ist hoch.
Während eines Zeitraums von sechs Monaten wurde 1995 multizentrisch in sechs anästhesiologischen Schmerzambulanzen untersucht, welchen Anteil die wichtigsten Schmerzursachen in den Ambulanzen hatten [Abb. 2] [14]. Dabei wurden bei der Darstellung der einzelnen Ambulanzen die Gruppen Kopf/Gesichtsschmerz unter „Kopf” und Wirbelsäule/Bewegungssystem unter „Bewegung” subsumiert [Abb. 3]. 12 % der Patienten hatten bei dieser Untersuchung akute Schmerzen, 5 % periodisch auftretende und 83 % chronische Beschwerden.
Eine ähnliche Situation fand sich in einer Untersuchung von 14963 Patienten der Jahre 1990-2005 in der Schmerzambulanz Göttingen - hier dominierten neuropathische und wirbelsäulenbedingte Schmerzen [Abb. 4]. In unserer Ambulanz waren ähnlich wie in den sechs Ambulanzen etwas mehr als die Hälfte der Patienten weiblich (n = 7751) und etwas weniger als 50 % männlich (n = 7069). In der überwiegenden Zahl wurden die Therapien in allen Institutionen ambulant durchgeführt.
#Behandlungsspektrum chronischer Schmerzen
#Medikamentöse Abhängigkeit
Die häufigste Behandlungsart für chronische Schmerzen ist die medikamentöse Therapie. Hier kommt es insbesondere bei der Therapie von Kopfschmerzen nicht selten zum Abusus. Zum Teil liegen bei Schmerzpatienten iatrogen induzierte Abhängigkeiten von Tranquilizern und Opioiden vor, insbesondere, wenn Letztere bei Bedarf und ohne Retardierung verordnet werden. In letzter Zeit steigt die Anzahl von Patienten, die Schmerzambulanzen aufsuchen und mit starken Opioiden vorbehandelt sind, sprunghaft an. Insbesondere Opioidpflaster werden außerhalb von Schmerzambulanzen unkontrolliert verordnet, sind aber bei Patienten mit Nicht-Tumorschmerz nur selten indiziert [10] [13]. In diesen Fällen müssen die Medikamente entzogen werden.
Bei Patienten mit chronischen Schmerzen ist in einigen Bereichen eine Restitutio im eigentlichen Sinne kaum möglich. Hierzu gehören insbesondere schwere neurogene Schmerzen. Diese Schmerzsyndrome sind eine Domäne der medikamentösen Schmerzbehandlung, von Nervenblockaden und neurostimulatorischen Verfahren, wie sie anästhesiologisch geführte Schmerzambulanzen oder neurochirurgische Kliniken anbieten.
#Kopf- und Gesichtsschmerzen
Patienten mit Kopf/Gesichtsschmerzen benötigen selten aufwändige stationäre Maßnahmen, sondern sind meist durch ambulante, vorwiegend medikamentöse und psychotherapeutische Verfahren gut zu beeinflussen. Eine Ausnahme bilden Patienten mit Medikamentenabhängigkeit und daraus resultierenden Folgen oder erheblichen psychosomatischen Störungen. Insbesondere Schmerzen infolge eines Tranquilizerabusus müssen auf stationärer Basis behandelt werden.
#Schmerzen bei Durchblutungsstörungen
Schmerzen bei ischämischen Krankheiten lassen sich teilweise medikamentös (Vasodilatanzien bei Angina pectoris), operativ, oder - wie bei der Claudicatio intermittens (AVK) - mittels Sekundärprävention (Beeinflussung der Risikofaktoren, Gehtraining, lumeneröffnende Maßnahmen) beeinflussen. Auch hier steht die medizinische Behandlung im Vordergrund. Der Anästhesist kann in diesem Fall mit Sympathikusblockaden und -lysen seinen Beitrag leisten.
#Tumorschmerzen
Tumorschmerzen können zu über 90 % medikamentös behandelt werden. Invasive und insbesondere neurodestruktive Maßnahmen sind heute nur noch sehr selten indiziert. Die Versorgung ist jedoch immer noch unzureichend, was an den immer noch bestehenden Vorurteilen gegenüber einer Behandlung mit starken Opioiden liegt. In jüngster Zeit werden auch in Deutschland zunehmend Palliativstationen eingerichtet, deren Schwerpunkt auf medikamentöser Schmerztherapie, Ernährung und psychosozialer Betreuung liegt. Auch hier sind Anästhesisten federführend tätig, aber auch andere medizinische Fachgebiete bekunden immer häufiger ihr Interesse, sodass sich die Verhältnisse zu ungunsten der Anästhesie zu verschieben beginnen [12].
#Schmerzen im Bewegungsapparat
Bei spezifischen Rückenschmerzen somatischer Genese, wie dies beispielsweise bei Wurzelreiz- oder Kompressionssyndromen ohne OP-Indikation, spinalen Stenosen oder Arthropatien des Iliosakralgelenks der Fall ist, können Blockadeverfahren mittels periduraler Kortikosteroide und lokaler Injektionen den Heilungsprozess beschleunigen oder erst ermöglichen. Meist benötigt man für diese Blockaden jedoch bildgebende Kontrollen (z.B. Röntgendurchleuchtung).
Schmerzen im Bereich des Bewegungsapparates infolge von Arthrosen oder Arthritiden, werden ebenfalls zunächst in erster Linie durch medizinische Maßnahmen behandelt: Dies können nichtsteroidale entzündungshemmende Medikamente, intraartikuläre Blockaden mit Kortikosteroiden, physiotherapeutische Maßnahmen und eventuell auch operative Eingriffe sein.
Bei Patienten mit chronischen Rücken- und/oder Schulter-Nackenschmerzen sowie multilokulären Schmerzbildern (z.B. Fibromyalgien) und Panalgesien reichen die üblichen schmerztherapeutischen Maßnahmen normalerweise nicht aus. In Schmerzkliniken und -ambulanzen werden aber häufig passive schmerztherapeutische Methoden, wie transkutane Nervenstimulation (TNS), Nervenblockaden, Akupunktur, Hypnose, autogenes Training oder medikamentöse Therapie angewendet, die dem Problem „komplexer chronischer Schmerz” jedoch meist nicht ausreichend gerecht werden und weder gestörte Körperfunktionen wiederherstellen noch die Arbeitsfähigkeit ermöglichen.
#Primär anästhesiologische Verfahren
Trotzdem spielen bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen primär anästhesiologische Verfahren wie Nervenblockaden, Neurolysen und die Radiofrequenztherapie immer noch eine relativ große Rolle. In der Göttinger Ambulanz wurden in den Jahren von 1990-2005 (n = 14963) bei 35 % aller Patienten Nervenblockaden eingesetzt. Von den 19853 Blockaden wurden 10627 unter Bildwandlerkontrolle durchgeführt. In 8369 Fällen waren den Lokalanästhetika Kortikosteroide beigefügt. Eine Neurolyse mit Phenol oder Alkohol erfolgte in 669 Fällen (3,2 %), eine Radiofrequenzbehandlung in 567 Fällen (2 %) - genaue Informationen sind in der Tabelle 2 zusammengefasst. Die Häufigkeit von Nervenblockaden ist aber in den verschiedenen anästhesiologischen Schmerzinstitutionen sehr unterschiedlich (von 17-70 %, [Tab. 3]).
#Probleme der Patientenversorgung
#Zunahme chronischer Schmerzbilder
Eines der Hauptprobleme an den anästhesiologisch geleiteten Ambulanzen ist die Zunahme komplexerer und schwer chronifizierter Schmerzbilder - einschließlich der Patienten mit Kopf- und Gesichtsschmerzen sowie chronischen Rückenschmerzen - in den letzten Jahren. Bei diesen Patienten besteht überdies das Problem, dass die Diagnosen auswärtiger Fachärzte oft nicht korrekt oder unvollständig sind und häufig Veränderungen in bildgebenden Verfahren und eine Beschreibung der Schmerztopografie als Diagnoseersatz dienen. Strukturelle Diagnosen, die pathomorphologische Veränderungen mit den Schmerzen in Verbindung setzen oder eine Definition von Funktionseinbußen - also handlungsanweisende Diagnosen - fehlen meist.
Die Ärzte sind häufig nicht bereit, Patienten mit akuten oder subakuten Schmerzen und Chronifizierungszeichen rechtzeitig an Spezialinstitutionen zu überweisen oder selbst psychotherapeutische und soziale Maßnahmen einzuleiten. In Schmerzambulanzen müssen daher Patienten mit bereits weit chronifizierten Schmerzsyndromen behandelt werden, deren Betreuung außerordentlich aufwändig und deren Prognose ungünstig ist. Der notwendige aber nicht honorierte Zeitaufwand sowie die fehlende Infrastruktur für komplexere Maßnahmen in den meisten Schmerzambulanzen hat häufig nutzlose und kostenintensive Ersatzstrategien in Form unnötiger Wiedervorstellungstermine, unpassender Medikamentenverschreibung und unkritischer Wiederholungen technischer Leistungen sowie Injektionsbehandlungsserien oder Kathetertechniken zur Folge.
#Psychogene Ursachen
Häufig müssen Patienten behandelt werden, bei denen psychosomatische Symptome einen wesentlichen Anteil am Schmerzgeschehen ausmachen. Die Schmerzen sind hierbei eher diffus, werden als gering modulationsfähig beschrieben und die Vorgeschichte weist häufige Arztbesuche unterschiedlicher Fachdisziplinen, wiederholte apparative Diagnostik sowie multiple erfolglose Behandlungen als Zeichen des Chronifizierungsprozesses auf. In der Göttinger Schmerzambulanz waren die Zahlen (n = 2590) des Chronifizierungsscores nach Gerbershagen [11] wie folgt: Dem Stadium I konnten 19,58 %, dem Stadium II 54,32 % und dem Stadium III 26,1 % aller Patienten zugeordnet werden. Eine größere Statistik von Gerbershagen et al. [5] in 13 Schmerzambulanzen (n = 3159) bestätigt die Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Chronifizierungsstadien: Dem Stadium I wurden hier 19,4 %, zum Stadium II 43,2 % und zum Stadium III 37,3 % der ambulanten Patienten zugeordnet.
Damit weisen mehr als zwei Drittel der ambulanten Patienten einen hohen Chronifizierungsgrad auf. Eine monokausalistische oder auf organische Ursachen reduzierte Betrachtungsweise ist nicht imstande, die Ursache der Chronifizierungssymptomatik aufzuklären und eine adäquate Behandlung zu gewährleisten. Es ist vielmehr nach vermittelnden Faktoren zu fragen, die für diese Patienten ein Schmerzphänomen zu einer behandlungsbedürftigen chronischen Schmerzkrankheit werden lassen. Dieses Grundverständnis sollte die vorherrschende dichotome Sichtweise organischer versus psychogener Schmerz als ein „entweder - oder” ersetzen und - bei entsprechender Chronifizierung - von einem „sowohl - als auch” ausgegangen werden.
Körperliche, seelische und soziale Faktoren wirken gemeinsam an der Chronifizierung von Schmerzsyndromen mit und müssen sowohl in ihrer ätiologischen Zuordnung als auch in ihrer aufrechterhaltenden Bedeutung berücksichtigt werden. Meist ist der Anästhesist allein mit dieser Klientel überfordert. Notwendig ist ein interdisziplinäres Team, zumindest aber ein in die Schmerzinstitution fest integrierter Psychologe.

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4
Kriterium |
Vorteil |
Magen-Darm-Atonie |
etwa 2 Tage kürzer |
Myokardinfarkt |
etwa 30 % geringer |
kardiovaskuläre Komplikationen |
etwa 75 % geringer |
Lungenembolie (ohne Thromboseprophylaxe) |
etwa 50 % geringer |
Thromboembolie (ohne Thromboseprophylaxe) |
etwa 40 % geringer |
pulmonale Infektionen |
etwa 30 % geringer |
Blutverlust/Blutbedarf |
etwa 20-30 % geringer |
postoperative Beatmungsdauer |
etwa 40 % kürzer |
chirurgische Komplikationen |
etwa 50 % geringer |
Reoperations-/Amputationsrate nach peripheren Bypassoperationen |
etwa 50 % geringer |
Verweildauer im Krankenhaus (nach bestimmten größeren Eingriffen) |
> 30-50 % kürzer |
Erfüllung von Entlassungskriterien |
25-30 % früher |
Krankenhauskosten |
> 20-50 % geringer |
1 zur Anästhesie/Analgesie im Vergleich zur Allgemeinanästhesie mit folgender systemischer Verabreichung von Analgetika
Behandlung |
Anzahl insgesamt (Prozent aller Behandlungen) |
bei Patienten (Prozent aller Patienten) |
peridural/kaudal |
3796 (3,3 %) |
2151 (14,4 %) |
Wurzelblockade/G. Gasseri |
1473 (1,3 %) |
877 (5,7 %) |
Sympathikus |
||
zervikal |
3621 (3,2 %) |
554 (3,6 %) |
thorakal |
104 (0,1 %) |
48 (0,3 %) |
lumbal |
1388 (1,2 %) |
1393 (9,3 %) |
iv. Guathenitin |
1734 (1,5 %) |
242 (1,6 %) |
periphere Nerven |
2265 (2,0 %) |
895 (5,5 %) |
Fassetten-Blockaden |
4898 (4,3 %) |
2061 (13,8 %) |
Iliosakralgelenk |
2861 (2,5 %) |
1053 (7,0 %) |
intraartikulär |
845 (0,7 %) |
363 (2,7 %) |
Ambulanz |
Blockadehäufigkeit |
Anzahl |
je Patient |
A |
n = 491 |
38 % |
2,7 |
B |
n = 470 |
70 % |
4,4 |
C |
n = 683 |
45 % |
3,3 |
D |
n = 437 |
17 % |
3,7 |
E |
n = 402 |
30 % |
7,1 |
F |
n = 491 |
17 % |
3,8 |
gesamt n = 2974 |
37 % |
4,0 |
|
nach [14] |
Literatur
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Schmerzambulanz, Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin
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Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

Abb. 4