Seit über drei Jahren wird eine erhöhte Mortalität älterer, demenzkranker Menschen
unter der Therapie von Verhaltensstörungen mit atypischen Antipsychotika diskutiert.
Im April 2005 hat die Food and Drug Administration [2] die pharmazeutischen Unternehmer aufgefordert, in die Fachinformationen aller atypischen
Neuroleptika, also Aripiprazol (Abilify®), Olanzapin (Zyprexa®), Quetiapin (Seroquel®),
Risperidon (Risperdal®), Clozapin (Leponex®, Elcrit®, Generika) und Ziprasidon (Zeldox®)
einen Warnhinweis bezüglich einer erhöhten Mortalität dieser Patienten im Vergleich
zu Plazebo bei fehlender („off-label-use”) Zulassung (in Deutschland ist Risperidon
in dieser Indikation zugelassen) aufzunehmen. Die FDA begründete ihre Forderung damit,
dass in einer zusammenfassenden Analyse von 17 plazebokontrollierten Untersuchungen
von vier der o.g. Wirkstoffe (Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin, Risperidon) an insgesamt
5106 Patienten die Sterblichkeit 1,6- bis 1,7-fach über der unter Plazebo (4,5 % versus
2,6 %) lag. Der Unterschied des absoluten Risikos (1,9 %) entspricht einer NNH (number
needed to harm) von 52; danach wäre also mit einem dem atypischen Neuroleptikum anzulastenden
Todesfall bei 52 behandelten Patienten zu rechnen. Dabei ist zu beachten, dass die
zugrunde liegenden Studien Beobachtungszeiten von maximal drei Monaten hatten.
In 15 dieser Studien war die Sterblichkeit nominal erhöht. Die Todesursachen hingen
überwiegend mit Herzerkrankungen (u.a. Herzversagen, plötzlicher Tod) oder Infektionen
(überwiegend Pneumonien) zusammen. Die FDA bewertet dies als Klasseneffekt, erwägt
aber, den Warnhinweis auf alle Neuroleptika zu erweitern. Nachdem bereits im Jahr
2004 u.a. Arzneimittelbehörden und Hersteller auf ein erhöhtes Risiko zerebrovaskulärer
Ereignisse speziell unter Risperidon und Olanzapin und später auch Aripiprazol im
Vergleich zu Plazebo hingewiesen hatten, haben Jüptner & Gastpar [6] im Auftrag der DGPPN und AGNP zu dieser Frage Stellung genommen und dabei insbesondere
darauf hingewiesen, dass die Rate zerebrovaskulärer Ereignisse nicht nur unter diesen
beiden Wirkstoffen erhöht beobachtet wurde, sondern auch unter typischen Neuroleptika
wie Haloperidol und unter Benzodiazepinen bei insgesamt allerdings schwacher Datenlage.
Die Diskussion hat zur Verunsicherung geführt, wie mit dem klinisch bedeutsamen Problem
der Verhaltensstörungen bei Demenz umzugehen sei. Jüptner & Gastpar [6] haben konsistente Hinweise gegeben: Zunächst sei die günstige Wirkung von Cholinesterasehemmern
auch auf Verhaltensstörungen zu nutzen, nur im zweiten Schritt seien Neuroleptika
einzusetzen und dies nur gezielt, streng indiziert und nur vorübergehend. In der Zwischenzeit
ist zumindest eine weitere, allerdings retrospektive Kohortenstudie (n = 17845 unter
atypischen Neuroleptika, n = 14865 unter typischen) publiziert worden [3], wonach das Risiko ischämischer Hirninfarkte sich zwischen typischen und atypischen
Neuroleptika nicht unterscheidet. Da die Studie auf Datenbanken basierte, konnten
allerdings nur Ereignisse erfasst werden, die zu Hospitalisierung führten. Herrmann
& Lanctot [5] identifizierten eine Reihe methodischer Schwächen der Untersuchungen von Risperidon
bzw. Olanzapin, die den Warnhinweisen der Arzneimittelbehörden zugrunde lagen.
An die DGPPN wurden nun erneut Fragen herangetragen, wie angesichts des anscheinend
bei allen Neuroleptika erhöhten Risikos insbesondere aggressive Verhaltensstörungen
Demenzkranker zu behandeln seien, wie über etwaige Risiken auch unter konventionellen
Neuroleptika, hier insbesondere Melperon (z.B. Eunerpan®) und Pipamperon (Dipiperon®)
aufzuklären sei, ob ggf. ein schriftliches Einverständnis des Betreuers einzuholen
sei, welche Anforderungen an die Einwilligung im Notfall zu stellen seien, und welche
haftungsrechtlichen Folgen drohen.
Die dem jüngsten Warnhinweis zugrunde liegenden Studien hat die FDA nicht spezifiziert.
Sink et al. [7] konnten in ihrer systematischen Übersicht nur sechs publizierte Studien zu atypischen
Neuroleptika identifizieren, so dass die FDA vermutlich auch auf unpublizierte, ihr
im Rahmen von Zulassungsverfahren vorgelegte Studien zurückgegriffen hat. Dies bestätigten
jüngst (13.07.2005) Singh & Wooltorton [8]. Deshalb muss derzeit eine unabhängige Validierung der Daten weitgehend scheitern.
Immerhin präsentieren Singh & Wooltorton [8] die Daten aus 13 der Studien, die Health Canada [4] am 22.06.2005 aus dem „Canadian Adverse Drug Reaction Monitoring Program (CADRMP)”
im Internet (jetzt an u.g. Adresse) veröffentlicht hatte [Tab. 1]. Eine tiefergehende Analyse ist unmöglich. Auch ist zu bedenken, dass die Nebenwirkungsereignisse
quantitativ überschätzt werden können, da Studienabbrüche in plazebokontrollierten
Studien überzufällig häufig unter der Plazebobedingung auftreten und die Beobachtungszeiten
somit unter Plazebobedingung im Mittel verkürzt sind, so dass eine Unterschätzung
der Ereignisraten in der Plazebogruppe resultieren kann.
Ein erhöhtes Risiko muss aber als gegeben akzeptiert werden. Der Warnhinweis der FDA
und der kanadischen Behörde ist auch in Deutschland ernst zu nehmen, auch wenn die
deutsche Behörde bisher - abgesehen von den Sicherheitshinweisen aus dem Jahr 2004
zu erhöhtem Risiko für das Auftreten von Schlaganfällen, einschließlich solcher mit
tödlichem Verlauf, bei älteren Patienten mit Demenz-bedingten Verhaltensstörungen
unter Risperidon und Olanzapin - nichts Vergleichbares verlautbart hat.
Dieser Sachstand ändert nichts an den Aussagen von Jüptner & Gastpar [6]. Deren Schlussfolgerung, dass auch von typischen Neuroleptika erhöhte Risiken ausgehen
können, wird grundsätzlich bestätigt, wenn auch endgültige Aussagen der FDA ausstehen.
Gemäß der systematischen Übersicht von Sink et al. [7] existieren zu typischen Neuroleptika nur 14 publizierte plazebokontrollierte Studien
(insgesamt n = 1237). Über die Sterblichkeitsraten geben sie keine detaillierten Informationen.
In diesen wurde überwiegend Haloperidol untersucht, ansonsten Thioridazin, Perphenazin,
Chlorpromazin, Thiothixen (in BRD nicht verfügbar), Trifluoperazin (in BRD nicht mehr
verfügbar), Acetophenazin (in BRD nicht verfügbar). Die Agency for Healthcare Research
and Quality (AHRQ 2004) konnte in ihrem HTA-Report für Melperon keine plazebo-kontrollierten
Studien identifizieren, Pipamperon wird im HTA-Report nicht einmal erwähnt. Spezifische
Aussagen über die Risiken einzelner typischer Neuroleptika werden also kaum möglich
sein; die Aussagen der FDA bleiben abzuwarten.
Die Wirksamkeit gegen Verhaltensstörungen bei Demenz ist für atypische Neuroleptika
deutlich besser als für typische belegt [7]. Die Wirksamkeit ist allerdings begrenzt. Die Responderraten liegen nur 16 % bis
26 % über Plazebo. Entsprechend empfehlen z.B. Sink et al. [7], zunächst nicht-pharmakologische Therapie anzuwenden; dazu gehört das Training der
Bezugspersonen im Umgang mit den Demenzkranken. Von Antidepressiva ist - abgesehen
von der antidepressiven Wirkung - keine Besserung der Verhaltensstörungen zu erwarten;
nur für Citalopram liegt eine positive Studie vor. In drei plazebokontrollierten Studien
war Valproinsäure unwirksam [7]. Die Ergebnisse der beiden Studien zu Carbamazepin sind widersprüchlich. Benzodiazepine
sollten generell in dieser Patientengruppe wegen Sedierung, Sturzgefahr, Verschlechterung
der Kognition und Abhängigkeitspotential vermieden werden.
Sofern nicht bereits bestehend, sollten im nächsten Schritt Cholinesterasehemmer eingesetzt
werden, von denen - wenn auch in begrenztem Maße [9] - eine Besserung auch der nicht-kognitiven Störungen erwartet werden kann [7]. Wenn Antipsychotika unerlässlich sind, insbesondere bei psychotischen Symptomen,
so sind - wie von Jüptner & Gastpar [6] bereits gut begründet - atypische Neuroleptika insbesondere wegen ihrer besseren
extrapyramidalmotorischen Verträglichkeit gegenüber typischen Neuroleptika zu bevorzugen,
hier angesichts des Zulassungsstatus und der besten Datenlage insbesondere Risperidon.
Der Warnhinweis der FDA bezüglich erhöhter Mortalität hat grundsätzlich keine spezifischen
Konsequenzen für das Verordnungsverhalten. Jeder Off-Label-Use bedarf in jedem Einzelfall
einer besonderen Abwägung der Risiken der unbehandelten Störung gegen die Risiken
der antipsychotischen Pharmakotherapie einschließlich detaillierter Dokumentation.
Im Einzelfall kann sogar eine Verpflichtung zum Off-Label-Use bestehen. Je geringer
die verfügbare Evidenz für einen Nutzen des Off-Label-Use ist, desto weniger ist dieser
gerechtfertigt. Dies gilt nicht nur haftungsrechtlich, sondern - vor dem Hintergrund
des Urteils des Bundessozialgerichtes - auch sozialrechtlich. Die Ätiologie (Alzheimer,
vaskulär etc.) der Demenz spielt dabei keine spezifische Rolle, da die Indikation
von Risperidon syndromal formuliert ist. Die verfügbare Evidenz ist besser für die
atypischen Neuroleptika als für die typischen [7]. Außerdem ist die Verträglichkeit besser, im Alter von besonderer Relevanz. Ein
erhöhtes Mortalitätsrisiko auch unter typischen Neuroleptika ist möglich. Es gibt
keine Hinweise, dass dennoch typische Neuroleptika diesbezüglich sicherer als atypische
wären. All das spricht für ein Präferieren der atypischen.
Über die erhöhte Mortalität unter atypischen Neuroleptika als Klasseneffekt und die
Abwägung der Alternativen (z.B. die Risiken und Nebenwirkungen der typischen Neuroleptika)
ist als - in Begriffen der Arzneimittelsicherheit - häufige (1-10 %) Nebenwirkung
aufzuklären, soweit dem Demenzkranken zumutbar, ansonsten ggf. ergänzend oder ersatzweise
der Betreuer. Um Beweislastumkehr zu vermeiden, ist entsprechend zu dokumentieren.
Ob das Einverständnis schriftlich oder mündlich eingeholt wird, liegt im subjektiven
Ermessen und mag von Fall zu Fall variieren. Wie immer sind bei sachgerechter Aufklärung
und Dokumentation keine spezifischen Haftungsprobleme zu erwarten.
Tab. 1 Todesfälle bei älteren Patienten mit Demenz in plazebokontrollierten Studien
Antipsychotikum
|
Anzahl Studien
|
Todesfälle: alle Ursachen/Anzahl behandelter Patienten
|
Prozent ( %)
|
Clozapin |
[*]
|
[*]
|
[*]
|
Plazebo |
|
|
|
Risperidon |
6 |
40/1009 |
4,0 |
Plazebo |
|
22/712 |
3,1 |
Quetiapin |
2 |
20/365 |
5,51 |
Plazebo |
|
7/217 |
3,2 |
Olanzapin |
5 |
42/1184 |
3,5 |
Plazebo |
|
7/478 |
1,5 |
(nach [4]) |
1 Keine Studien verfügbar