intensiv 2006; 14(2): 53
DOI: 10.1055/s-2006-926663
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

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Publication Date:
06 April 2006 (online)

vor wenigen Wochen fand das „16. Symposium Intensivmedizin + Intensivpflege” in Bremen statt, welches auch in der Tagespresse auf großes Interesse stieß. Mehr als 3500 Besucher, überwiegend aus Pflege und Medizin, haben sich über neueste Entwicklungen und Forschungsergebnisse und - nicht zu vergessen - technische und apparative Neuerungen informiert. Auch in diesem Heft werden wir Sie mit relevanten Fortschritten und Neuerungen aus verschiedenen Bereichen der Versorgung akut kritisch Kranker konfrontieren, denn die Weiterentwicklungen im Bereich der Intensivpflege und -medizin finden sich häufig rasch schon als Realität auf den Intensivstationen wieder.

Zeitgleich mit diesen Entwicklungen lesen wir von einem ganz anderen Pflegealltag in Deutschland, der auf den ersten Blick nichts mit der Intensivpflege und -medizin zu tun hat: Berichte über Skandale in deutschen Pflegeheimen, bei denen Missstände bei der grundlegenden Versorgung (keine ausreichende Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, mangelnde Förderung der Bewegung, keine Zeit für Fürsorge und Zuwendung) bis hin zur Missachtung grundlegender Menschenrechte durch Freiheitsentzug und Gewaltanwendung aufgezeigt werden. Ein Buch mit dem Titel „Abgezockt und totgepflegt” [1] stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass die Skandale in der Altenpflege längst keine Skandale mehr sind, sondern ein seit langem bekanntes, stillschweigend akzeptiertes Elend. Titel wie „Morgens um sieben ist der Tag schon gelaufen” [2] haben schon vor mehr als zwei Jahrzehnten auf den alltäglichen Skandal in Pflegeheimen aufmerksam gemacht. Wirklich geändert hat sich, abgesehen von hektisch gestrickten Gesetzentwürfen wie dem PflegeQualitätssicherungsgesetz (PQSG) und noch mehr bürokratischem Aufwand, nicht viel.

Doch was hat das Dilemma in der Altenpflege mit der Intensivpflege zu tun? Genau diesem Thema widmete sich vor knapp zwei Jahren ein Essay mit dem Titel „Ende ohne Gnade” in der Wochenzeitung DIE ZEIT [3]. Der Autor schildert darin die manchmal unmenschlichen und unsinnigen Maximaltherapien bei Intensivpatienten, die eigentlich sterben wollen, wenn man sie denn ließe, und die katastrophalen Zustände in den Pflegeheimen, wo es am Nötigsten mangelt. Zwischen diesen Szenarien lässt sich eine Beziehung herstellen: „Der Intensivpatient verursacht - groß geschätzt - an jedem seiner letzten Lebenstage so viel Kosten wie eine gut geführte Altenpflegestation [...] Im Extremfall öffnen Intensivschwestern im Viertelstundentakt Ampullen, deren jede das Monatsgehalt einer Altenpflegerin kostet” [3]. Solche Vergleiche sind unfein und gelten als Verstoß gegen die immer wieder bemühte These, dass in Fragen von Leben und Tod das Geld keine Rolle spielen soll. Das tut es aber doch. Natürlich wird auch in der Intensivversorgung gespart, und zwar primär am Personal, doch insgesamt steigen die Kosten. Die Rechtslage fördert das noch, denn im Zweifel heißt es eher: weitermachen. Doch ist das ethisch vertretbar und ökonomisch leistbar? Fragen der gerechten Verteilung bei knappen Ressourcen (Allokationsethik) werden sich auf Dauer weder in der Gesellschaft, der Politik noch bei den professionellen Akteuren einfach ausblenden lassen. Dann stellt sich tatsächlich die Frage: Intensivstation oder Altenpflegeheim - was hat Vorrang? Der Autor in der ZEIT gibt - in Anlehnung an einen Beitrag im Hamburger Ärzteblatt - zu bedenken, dass die einseitige Bevorzugung der Akutmedizin auch ein Ausdruck unserer Gesellschaft sei und unser aller Verständnis vom Menschen und von Krankheit widerspiegele. So bleibt die letzte Frage: „Existiert womöglich eine explizite oder stillschweigende Übereinkunft, nach der Intensivpatienten Anspruch auf jede erdenkliche Behandlung haben, selbst wenn sie ihr Leben nur um wenige Wochen verlängert - während die Bewohner der Altenheime sich mit dem abzufinden haben, was für sie übrig bleibt?” [3]

Ein Nachdenken über diese unbequemen Fragen scheint heute dringlicher denn je.

Die Herausgeber

Literatur

  • 1 Breitscheidel M. Abgezockt und totgepflegt.  Econ. 2005; 
  • 2 Alteninitiativen (Hrsg) .Morgens um sieben ist der Tag schon gelaufen. Der alltägliche Skandal im Pflegeheim. 7. Auflage. Frankfurt/M; Mabuse 1989
  • 3 Drieschner F. Ende ohne Gnade.  DIE ZEIT. 2004;  29 3
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