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DOI: 10.1055/s-2006-932613
Erkenntnisgrenzen
Limits of InsightPublication History
Publication Date:
05 May 2006 (online)

Gesellschaftliche Veränderungen lassen auch Psychotherapie als Profession und als Methode nicht unbeeinflusst. Gerade in Zeiten sich überstürzenden gesellschaftlichen Wandels ist es notwendig, sich neuer Möglichkeiten und deutlich werdender Grenzen zu vergewissern. Dieses Anliegen stand im Mittelpunkt eines von Bernhard Strauß vom 30. Juni bis zum 3. Juli 2005 in Weimar veranstalteten Kongresses unter dem Titel „Grenzen - Psychotherapie und Identität in Zeiten der Globalisierung”, in dem die Thematik unter verschiedensten Gesichtspunkten beleuchtet wurde. Nichts lag näher, als innerhalb der Tagung in einem Symposium über „Erkenntnisgrenzen” auch der Frage nachzugehen, wie es mit den Möglichkeiten und Grenzen psychosomatischer und psychotherapeutischer Wissenschaft in unseren Tagen bestellt ist.
Von den Organisatoren des Symposiums wurde diese Frage bewusst aus einer Perspektive angegangen, die jenseits der weitverbreiteten Meinung liegt, dass psychosomatische und psychotherapeutische Forschung ausschließlich durch Hypothesentestung in experimentellen oder quasi-experimentellen Studiendesigns im Sinne des Logischen Empirismus geleistet werden kann und somit keinen weiteren Begründungs- und Ergänzungsbedarf generiert. Vielmehr waren sich die Redner des Symposiums der Tatsache bewusst, dass auch die sog. „hard sciences” hinsichtlich ihrer Gegenstände, Methoden und Ergebnisse gesellschaftlichem Wandel unterliegen.
Dass diese Relativität der Erkenntnis im Verhältnis zum erkennenden Subjekt und seiner Epoche sogar für den Prototyp strenger empirischer Wissenschaft, nämlich die Physik gilt, ist spätestens seit Thomas Kuhns „Structure of the Scientific Revolutions” [1] allgemein bekannt und wird von Grundlagenwissenschaftlern in Natur- und Geisteswissenschaften kaum bestritten. Als junger Assistent von seinem akademischen Lehrer zur Mithilfe bei der Überarbeitung eines Lehrbuchs verpflichtet, wunderte sich Kuhn darüber, dass ein Teil der Lehrmeinungen, die darin vertreten werden sollten, so gar nicht passten zu den neuesten empirischen Forschungsergebnissen im Fach. Im Rückblick auf die Geschichte der Physik stellte er dann fest, dass diese verstanden werden kann als eine Abfolge plötzlich hereinbrechender Paradigmenwechsel und nachfolgender Phasen sog. „Normalwissenschaft”. Paradigmenwechsel vollziehen sich zumeist, wenn die Produktivität eines Forschungsansatzes erschöpft ist und dieser sich als unfähig erweist, neu aufgetretene und als relevant empfundene Forschungsfragen fruchtbar anzugehen. Neue Paradigmen obsiegen dabei nicht dadurch, dass die Vertreter des alten Paradigmas überzeugt werden, sondern sie sind eng verflochten mit Generationenwechseln in der Wissenschaftlergemeinschaft. Zwischen den Wechseln in der Grundorientierung liegen lange Phasen, in denen - häufig unkreativ - der eingeschlagene Weg in empirischen Studien auf alle infrage kommenden Forschungsgegenstände angewandt wird.
Wenig bekannt ist, dass der Warschauer Mikrobiologe Ludwik Fleck bereits 1935 ganz ähnliche Gedanken in Bezug auf die medizinische Wissenschaft publiziert hat. In seiner Studie über die Entdeckung der Wassermannschen Reaktion in der Syphilisdiagnostik weist er nach, dass ein falsches Bild von Wissenschaft entsteht, wenn nicht berücksichtigt wird, dass Wissenschaft prozesshaft in „Denkkollektiven” entwickelt wird, die historisch gewachsene und gesellschaftlich bedingte „Denkstile” vertreten. Anders als Kuhn thematisiert Fleck nicht abrupte revolutionsartige Veränderungen tragender Grundüberzeugungen, sondern einen eher schleichenden Wandel impliziter Annahmen, der von den Betroffenen häufig nicht reflektiert wird [2].
Die von Fleck und Kuhn angestoßenen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen sozialer Interaktion und der Herstellung von Wissenschaft haben sich mittlerweile zu einem bedeutenden Zweig der Wissenschaftstheorie und -soziologie entwickelt [3]. Dass die in diesem Zusammenhang entwickelten Argumente auch Psychosomatik, Beratung und Psychotherapie tangieren, zeigen die Beiträge des nachfolgenden Themenschwerpunkts. Der Aufsatz von Ingrid Mühlhauser und Gabriele Meyer setzen sich kritisch mit dem „normalwissenschaftlich” derzeit als Goldstandard propagierten Forschungsparadigma der randomisierten kontrollierten Studie auseinander und weist an prägnanten Beispielen nach, dass dieser Ansatz im Sinne einer „Eminenz”orientierten Medizin missbraucht werden kann, wenn die klinische Relevanz der gemessenen Outcomeparameter nicht kritisch reflektiert wird. Im nachfolgenden Beitrag von Norbert Schmacke wird der häufig verkürzten Rezeption der Evidence-Based Medicine ein erweitertes Verständnis gegenübergestellt, das einerseits für randomisierte, kontrollierte Studien als wichtigstes Mittel gegen den Missbrauch von Wissenschaft für ökonomische Interessen und irrationale Therapiegewohnheiten plädiert, andererseits aber auch aufzeigt, dass prozessrekonstruktive qualitative Ansätze als Form der Grundlagenforschung zur Erreichung dieses Ziels ebenso notwendig sind, und dass diese methodisch nicht gleichgesetzt werden dürfen mit unsystematischen Fallberichten. Im dritten Aufsatz des Themenschwerpunkts gehen Jörg Frommer und David Rennie der Frage nach, wie der relativ weite und unpräzise Begriff einer „Qualitativen Forschung” so präzisiert und geschärft werden kann, dass Missverständnisse, die in der Vergangenheit häufig zu Vorurteilen und Fehleinschätzungen hinsichtlich der wissenschaftlichen Wertigkeit und Stringenz geführt haben, zukünftig vermieden werden können. Der Schwerpunkt schließt mit einem Beispiel aus der sozialwissenschaftlichen Beratungsforschung, das die qualitative Methodik exemplarisch vorführt. Der Beitrag von Gerhard Riemann verdeutlicht an transkribierten Textmaterialien, welche Erkenntnismöglichkeiten mit der Anwendung erzähl- und interaktionsanalytischer Verfahren und der Triangulierung unterschiedlicher Datenmaterialien verbunden sind. Über den engeren Kontext seines Themas hinaus deutet er an, wie das alte - und doch unaufhebbar aktuelle - Interesse der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie am subjektiven Erleben und seiner biografischen Verwurzelung mit dem Postulat wissenschaftlicher Strenge zusammenfinden kann [4].
Literatur
- 1 Kuhn T. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 18. Aufl. Frankfurt; Suhrkamp 2002
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- 2 Fleck L. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre
vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt; Suhrkamp 1980
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- 3 Montada L, Schütze F. Soziale Interaktion und die Herstellung von Wissenschaft - Einführung in den Themenschwerpunkt. Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung. 2004; 5 (2) 139-154
- 4 Frommer J. Editorial: Biografieforschung in der Psychosomatischen Medizin. Psychotherapie und Sozialwissenschaft 2006, im Druck 8 (2)
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Prof. Dr. Jörg Frommer
Psychiatrische Universitätsklinik · Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Leipziger Straße 44
39120 Magdeburg
Email: joerg.frommer@medizin.uni-magdeburg.de