Psychiatr Prax 2006; 33(2): 99-100
DOI: 10.1055/s-2006-933644-10
Fortbildung und Diskussion
Buchhinweise
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Herner offene Psychiatrie

Further Information

Publication History

Publication Date:
03 March 2006 (online)

 

Mit dem neuen Band verfolgt Matthias Krisor sein Ziel weiter, die theoretische und praktische Basis für eine subjektorientierte, dialogische Beziehungsarbeit zu bieten, die psychisch kranken Menschen hilft, ihre Erkrankung zu bewältigen. Der Weg, der vor mehr als 25 Jahren begonnen wurde, hat sich jetzt in der Gemeinde verankert (vgl. Krisor, 1992: Auf dem Weg zur gewaltfreien Psychiatrie. Das Herner Modell im Gespräch, Psychiatrie Verlag, Bonn).

Die Klinik, um die es hier geht, ist das St. Marien-Hospital Eickel, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik mit 135 Betten, die auf sieben Stationen verteilt sind. Eickel ist ein Stadtteil, der zu Herne mit 175000 Einwohnern gehört (S. 134ff). Angeschlossen sind eine Tagesklinik, ein Übergangswohnhaus, ein Ambulanzteam, vier therapeutische Wohngemeinschaften und ein Krisendienst.

Die Strukturelemente einer offenen Psychiatrie sind bekannt: Verzicht auf Aufnahmestationen, "durchmischte Stationen", und offene Türen. Hinzugekommen sind in den letzten Jahren: die "Ateliers" als Orte, in denen eigene Kompetenzen und Ressourcen zum Tragen kommen und die "Delegierten", eine Interessenvertretung von Patienten für Patienten, die Mitsprache und Mitgestaltung des Klinikmilieus und zur Gemeinde hin realisieren, sowie die Aufhebung der Beschäftigungstherapie zugunsten der Nutzung von vorhandenen Strukturen in der Gemeinde, und die Morgenrunde in der Klinik. Kennzeichen von Gemeindepsychiatrie ist die Öffnung der Klinik für die Gemeinde, in Form von Aktivitäten, die z.T. auch durch die Ateliers initiiert werden. Damit wird die "teilweise Aufhebung der strikten Trennung von drinnen und draußen und damit die Aufweichung des Ausschlusses des psychisch kranken Menschen aus der Gesellschaft" bewirkt. Die Nutzung von Einrichtungen im Stadtteil, wie Volkshochschulen, Vereine, Kontakt zu Künstlern usw. ermöglichen die lang geforderte Teilhabe des psychisch kranken Menschen am Gemeindeleben. Auch die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen ist ein Beispiel für den Bezug zur Gemeinde.

Nachvollziehbar wird die Umsetzung dieser Prinzipien in den zahlreichen Fallbeispielen und in der Beschreibung der Inhalte der Ateliers und der Tätigkeit der Delegierten, die auch als Krisenassistenten innerhalb der Klinik arbeiten. Betroffene helfen Betroffenen - ein Element, das von den Psychiatrieerfahrenen auch schon vorgeschlagen wurde und sicherlich in seiner Umsetzung hier begrüßt wird. Das Klinikleben ist bunt: von der Morgenrunde bis hin zur Gruppentherapie und der Teilnahme an den Ateliers und dem Abschluss der Woche mit einem festlichen Kaffeetrinken sind wir mit der Herstellung von Normalität konfrontiert, deren Grundlage ein respektvoll akzeptierender zwischenmenschlicher Kontakt ist. Eine Art "Lebensschule" in therapeutischer Gemeinschaft, wie sie in den 50er-Jahren von Maxwell Jones und Asmus Finzen in seinem Konzept der Tagesklinik realisiert und m.E. viel zu wenig genutzt wurde. Hier sehen wir ein tragfähiges Modell: Heilung durch das Milieu, das dialogisch mit einer Vielfalt von Angeboten in und außerhalb der Klinik zur Veränderung von Menschen beiträgt. Im "therapeutischen Mosaik" der Klinik hat auch das Einzelgespräch Platz, aber gegenüber der zweimal wöchentlich stattfindenden Gruppenpsychotherapie, scheint dessen Stellenwert nicht zentral. Mit Symptomen werden "defokussierend" umgegangen, d.h. nicht die Symptomatik steht im Vordergrund der Kommunikation, sondern die Person als ganzheitliche Einheit, mit ihren Fähigkeiten und Ressourcen. "Die Beschwerden werden unter anderem erörtert und registriert", (S. 139). Dieses Vorgehen ermöglicht die Nutzung eigener Fähigkeiten und Energiequellen für die Bewältigung der Erkrankung. Die Behandlung, so schreibt M. Krisor (S. 145), findet in der "therapeutischen Gemeinschaft und im "therapeutischen Raum der Station" statt. Eine ideale Konzeption. Nicht jede Patientin und jeder Patient mag in der Lage sein dieses Angebot von Kontakt, Beziehung und Integration anzunehmen, zumal wir in einer Gesellschaft zunehmender Vereinzelung und damit Vereinsamung leben. Mögliche Schwierigkeiten werden anhand von kurzen Fallgeschichten aufgezeigt. Die Einbeziehung in die Angebote auf Station erfolgt nach subjektiver Befindlichkeit und Vermögen. Offenbar werden akut psychotische Menschen oder eine verwirrte alte Dame mitgetragen, gehalten durch die Gemeinschaft.

Überhaupt sind die PatientInnen sehr eingespannt: es gibt die Morgenrunde zur Planung und Gestaltung des Tages, die Gruppenpsychotherapien, das Training sozialer Kompetenzen, konzentrative Bewegungstherapie, Familientherapie, sportliche Aktivitäten außerhalb der Klinik, dazu die Ateliers, wöchentliche Ausflüge und den so wichtigen Bezug zur Gemeinde. Ist das nicht manchmal zuviel? Darf man sich auch zurückziehen? Ich gebe zu, das sind Fragen von außen gestellt. Vielleicht gibt das stationsübergreifende Arbeiten ja darüber Aufschlüsse.

Die Herner Gemeindepsychiatrie ist verankert. Menschen haben erfahren, "dass die Klinik dabei hilft psychische Krankheiten erträglicher zu gestalten und damit menschliches Leid zu verringern", sie haben "weniger konflikträchtigen Umgang erlebt" und eine Integration in die Gesellschaft, wo immer es möglich war. Dies ist sicherlich im gemeindlichen Umfeld spürbar geworden. Dennoch wissen alle diejenigen, die sich um die Integration psychisch leidender Menschen in den Stadtteil, in die Gemeinde bemüht haben, mit welchen Widerständen und Ausgrenzungen zu rechnen ist. Der Prozess dieser gelungenen Öffnung in die Gemeinde hinein wird beschrieben. Sicher haben die breite Öffentlichkeitsarbeit und die Präsenz der Klinik in verschiedenen fachlichen und gemeindlichen Aktivitäten dazubeigetragen. Die "Tage der Gemeindepsychiatrie", wie auch die Feste und die Darstellung der Reiseetappen auf dem Jakobusweg - eine einzigartige und besondere Initiative - mögen Berührungsängste im Laufe der Zeit abgetragen und die klinische Arbeit transparent und einsehbar gemacht haben. Man kennt sich in Herne, innerhalb und außerhalb der Klinik. Die Arbeit in Herne wird ständig wissenschaftlich begleitet und auf ihre Wirksamkeit hin befragt.

Die meisten, auch schwer gestörten Patienten - Herne hat die Pflichtversorgung - fühlen sich dort aufgehoben und profitieren. Einen kleinen Eindruck erhält man davon während der im 2-Jahres-Rhythmus stattfindenden Tagungen in Herne, an denen Patienten beteiligt sind und sich gern mit den TeilnehmerInnen der Tagung unterhalten. Auf die Klinik und Herrn Dr. Krisor lassen sie dabei nichts kommen.

Gewalt und aggressiv körperliche Kontakte haben sich deutlich verringert - bei 1803 Aufnahmen im Jahre 2003 kam es 22-mal zu körperlichen Aggressionen, 18 PatientInnen waren daran beteiligt. Fixierungen mussten zu 0,3% vorgenommen werden. Im Buch finden sich weitere detaillierte statistische Ergebnisse zum Thema Gewalt. Für den Umgang ist hervorzuheben, dass von einer systemisch interaktionellen Analyse von Gewaltvorkommnissen ausgegangen: parallel zum "schwierigen Patienten" wird auch der "schwierige Mitarbeiter" betrachtet, der die Polarisierung und Eskalierung von Gewalt fördern kann.

Insgesamt scheint mir das Buch eine spannende Selbstreflexion der eignen Arbeit, ihrer konzeptionellen Hintergründe und ihrer Auswirkungen auf alle Beteiligten und die Gemeinde zu sein. Dabei ermöglicht der "gemeinsame menschliche Nenner" im Kontakt mit dem Anderen die Chance einer "fruchtbaren Begegnung", die heilsam ist und auf das Lebensfeld, sozial und kulturell, erweiternd wirkt.

    >