PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(3): 231-232
DOI: 10.1055/s-2006-940037
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Achtsamkeit und Akzeptanz

Thomas  Heidenreich, Johannes  Michalak
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Publication Date:
05 September 2006 (online)

Wir freuen uns, dass wir mit der Gestaltung dieses Themenhefts zu Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie aktuelle Entwicklungen in diesem Themengebiet einer breiteren Fachöffentlichkeit vorstellen dürfen, die sich dem Dialog zwischen verschiedenen psychotherapeutischen Schulen verpflichtet sieht. Wir werden im Folgenden argumentieren, dass sich die Prinzipien Achtsamkeit und Akzeptanz (unter Wahrung einer Multiperspektivität) in hervorragender Weise eignen, einen Dialog zwischen verschiedenen psychotherapeutischen Schulen herzustellen - ist darin doch ein Pol der von Marsha Linehan so bezeichneten Dialektik jeder psychotherapeutischen Behandlung zwischen Akzeptanz und Veränderung angesprochen. Mit ihr teilen wir die Überzeugung, dass grundsätzlich keine therapeutische Schule oder Richtung ohne die Berücksichtigung dieser beiden Prinzipien auskommt, dass aber dennoch jede Therapierichtung und -schule ihr eigenes Äquilibrium innerhalb dieser Dialektik zu finden versucht - oftmals mit dem Ergebnis scharfer Abgrenzung zu anderen Auffassungen. Neben dem Potenzial zur Förderung eines Dialogs zwischen unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen wollen wir jedoch auch betonen, dass Achtsamkeit ein eigenständiges Prinzip mit einer sehr langen Tradition ist, das sich einer vorschnellen Vereinnahmung durch therapeutische Herangehensweisen entzieht. Unser Ziel ist es demnach, in diesem Themenheft einen Überblick über achtsamkeits- und akzeptanzorientierte Ansätze zu geben und sie im Kontext einer therapeutischen Konzeption vorzustellen, die Achtsamkeit/Akzeptanz und Veränderung als wesentliche therapeutische Wirkprinzipien nicht künstlich einander gegenüberstellt, sondern in einem komplexen Ablauf harmonisch ineinander webt.

Neben diesem historischen Einstieg ins Thema sei uns auch ein persönlicher Rückblick erlaubt: Wir begannen vor einigen Jahren, unser gemeinsames Interesse an Achtsamkeit und Akzeptanz auch im Hinblick auf unsere berufliche Tätigkeit als Klinische Psychologen und kognitive Verhaltenstherapeuten auszuloten (Heidenreich u. Michalak 2003). Viele positive Rückmeldungen waren geprägt von Aussagen, dass damit ein bisher vernachlässigtes Prinzip in der Behandlung psychischer Störungen Berücksichtigung findet. Interessant waren auch einige eher negativ getönte Rückmeldungen. Bedenken reichten auf der einen Seite von Besorgnis über eine drohende „Spiritualisierung der Psychotherapie” und eine Abkehr von wissenschaftlichen Prinzipien („nach der Medikalisierung jetzt die Meditalisierung”) bis zu einer unangemessenen Instrumentalisierung von Meditation („dharma light”). Und schließlich erfuhren wir vereinzelt von Vertreterinnen und Vertretern verschiedenster therapeutischer Schulen eine Rückmeldung im Sinne von „das haben WIR doch schon immer gemacht - schön, dass IHR Verhaltenstherapeuten jetzt auch draufkommt” oder „das ist doch alter Wein in neuen Schläuchen”. Ein Ziel dieses einführenden Kapitels und auch des gesamten Themenhefts ist die Herausarbeitung des gemeinsamen Bodens, den Achtsamkeit/Akzeptanz mit verschiedenen therapeutischen Ansätzen hat. Gleichzeitig werden wir auch darlegen, dass mit der Berücksichtigung verschiedenster Ansätze die Achtsamkeit nicht vollständig „erfasst” ist, sondern dass damit ein wesentliches eigenständiges Prinzip vorliegt. Aus unserer Sicht liegt die einzig sinnvolle Integration wissenschaftlich-therapeutischer Ansätze mit dem Prinzip Achtsamkeit darin, die Stärken beider Ansätze respektvoll zusammenzuführen.

Im Standpunktebeitrag wollen wir zunächst Definitionen von Achtsamkeit und Akzeptanz vorschlagen, die den Rahmen für den Rest des Themenheftes vorgeben werden und im Anschluss daran knapp auf Achtsamkeit und Akzeptanz im Rahmen bisheriger therapeutischer Ansätze eingehen.

Wir freuen uns, dass wir eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen gewinnen konnten, die sich in ihrer therapeutischen Praxis auf unterschiedlichen Ebenen mit Achtsamkeit und Akzeptanz auseinander setzen. Im ersten Teil („Aus der Praxis”) kommen zunächst Vertreter unterschiedlicher Schulen zu Wort: Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer Meditationsmeister, stellt die Wurzel der buddhistischen Meditationspraxis auf sehr alltagsnahe Weise vor. Er berichtet damit aus einer anderen „Praxis”, als Psychotherapeuten sie normalerweise gewöhnt sind. Im Anschluss daran stellt Jeremy Safran aus psychoanalytischer Perspektive die mögliche Bedeutung von Achtsamkeit für die therapeutische Praxis vor. Wir freuen uns besonders, dass wir mit ihm einen der derzeit wichtigsten internationalen Vertreter der Anwendung von Achtsamkeit hier zu Wort kommen lassen können. Thomas Heidenreich, Johannes Michalak und Katrin Junghanns-Royack stellen im darauf folgenden Kapitel Analogien zwischen verhaltenstherapeutischen Behandlungsprinzipien und Achtsamkeit/Akzeptanz vor. In diesem Zusammenhang gehen sie auch auf die „Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie” von Segal, Williams und Teasdale (2002) ein. Die oben bereits kurz angerissenen Analogien zwischen Achtsamkeit/Akzeptanz und humanistischen Therapien werden von Karin Bundschuh-Müller vorgestellt. Neben den klassischen gesprächspsychotherapeutischen Basisvariablen wird auch das Focusing nach Gendlin ausführlich vorgestellt. Schließlich gibt Rainer Doubrawa einen Überblick zur Rolle von Achtsamkeit und Akzeptanz in der Gestalttherapie, die schon seit den Anfängen durch Fritz Perls das Erleben im Hier und Jetzt als zentralen Ansatzpunkt der Therapie identifizierte.

Im zweiten Abschnitt, der sich mit speziellen Behandlungsbereichen befasst, werden konkrete Umsetzungen von Achtsamkeit und Akzeptanz in der therapeutischen Praxis vorgestellt: Zunächst beschreibt Eckhard Roediger die Anwendung von Achtsamkeitsprinzipien auf einer psychosomatischen Akutstation. Dabei wird besondere Aufmerksamkeit der Umsetzung in den alltäglichen therapeutischen Rahmen gewidmet. Petra Meibert, Johannes Michalak und Thomas Heidenreich stellen im Anschluss die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion nach Kabat-Zinn vor. Diese Behandlung stellt die „klassische” Form der achtsamkeitsbasierten Therapie dar, die auch in der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie starke Berücksichtigung fand. Christian Stiglmayr, Claas-Hinrich Lammers und Martin Bohus stellen die Grundprinzipien der dialektischen Verhaltenstherapie von Marsha Linehan (1996) vor: Dieser verhaltenstherapeutisch verankerte Ansatz berücksichtigt explizit Achtsamkeit und Akzeptanz in der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Jürgen Stepien und Johannes Lerch widmen sich mit der Bedeutung von Achtsamkeit und Akzeptanz in der Krebsbehandlung einem ebenfalls sehr bedeutsamen Thema. Gerade im Angesicht einer Erkrankung, die eine Veränderung im Sinne einer Überwindung der Erkrankung nur bedingt zulässt, werden diese Prinzipien sehr wichtig. Claas-Hinrich Lammers stellt die Grundzüge der auf Leslie Greenberg zurückgehenden emotionsfokussierten Psychotherapie vor. Dieser humanistischen Ansätzen entstammende Ansatz berücksichtigt auf bemerkenswerte Weise Prinzipien der Achtsamkeit in der Konzeption des Verständnisses psychischer/emotionaler Störungen und in deren Behandlung. Im daran anschließenden Artikel von Luise Reddemann geht es um die Bedeutung der Achtsamkeit und Akzeptanz im Kontext der tiefenpsychologischen Behandlung psychischer Traumafolgen. Den Abschluss dieses Teils bildet der Beitrag von Rainer Sonntag, der sich auf der Basis der „Acceptance and Commitment Therapy” mit einer radikal-behavioristischen Richtung befasst, in der Achtsamkeit und Akzeptanz eine große Rolle spielen.

In der Rubrik „Forschung aus der Praxis/Forschung für die Praxis” kommen zwei neue Perspektiven in den Fokus: Mathias Berking und Hans-Jörg Znoj beschäftigen sich mit der Bedeutsamkeit von Achtsamkeit für die Emotionsregulation und weisen gleichzeitig auf potenzielle Schwierigkeiten der Übertragung von Achtsamkeit in westliche Psychotherapie hin. Friederike Potreck-Rose erörtert die Rolle, die Achtsamkeit in der Entwicklung von Selbstakzeptanz (nicht zuletzt auch für Therapeutinnen und Therapeuten) spielt.

In zwei Interviews kommen bedeutsame Vertreter achtsamkeitsbasierter Ansätze zu Wort: Beide Interviews wurden von Petra Meibert durchgeführt. Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli, der Gründer und ehemalige Direktor sowie der aktuelle Direktor der „Stress Reduction Clinic”, berichten über die Entstehung der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR), während Mark Williams die Entstehung der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie schildert.

Den Abschluss bildet ein Resümee, in dem wir die verschiedenen Themen und Richtungen, die in diesem Themenheft zur Sprache kommen, synoptisch darstellen und Schlussfolgerungen für die therapeutische Praxis und insbesondere zum Dialog zwischen verschiedenen therapeutischen Orientierungen gezogen werden.

An dieser Stelle wollen wir uns auch sehr herzlich beim Herausgeber- und Redaktionsteam der PiD für ihre Offenheit diesem Thema gegenüber bedanken. Danken wollen wir auch allen Autorinnen und Autoren, die sich trotz voller Terminkalender die Zeit für die Mitarbeit an diesem Projekt genommen haben - wir sind überzeugt, dass dies ein lohnenswertes Unterfangen ist. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre der einzelnen Kapitel dieses Themenhefts so viel Freude, wie wir selbst bei der Zusammenstellung der Beiträge hatten.

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