PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(3): 338-339
DOI: 10.1055/s-2006-940074
Im Dialog
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„Damit aus Fantasien keine Taten werden!”

Zur gesellschaftlichen Bedeutung eines Projektes zur Prävention von sexuellem MissbrauchMichael  Holmes
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Publication Date:
05 September 2006 (online)

Das hier von Michael Holmes vorgestellte und kommentierte Projekt des Institutes für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin (IFSS) am Universitätsklinikum der Charité, das sich hinter dem in den Straßen Berlins plakatierten Motto: „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?” verbirgt, ist mehr als bemerkenswert, zumal der Grundgedanke einer prinzipiellen Therapierbarkeit bei sexueller Devianz eher aus der Mode gekommen ist. Das Projekt möchte Menschen mit pädophilen Fantasien und Neigungen helfen, professionelle Hilfe zu finden, ehe es zu spät ist, indem sie durch spezielle Therapien einen „ungefährlichen” Umgang mit ihren Fantasien und Vorstellungen lernen sollen. Es ist damit ein Diskussionsbeitrag zu einigen in dem Interview mit dem Universitätsprofessor für Forensik Norbert Leygraf aufgeworfenen Fragen („Seitdem ich hier bin, brauche ich keine Angst mehr vor mir zu haben …” in PiD Heft 3, 2005).

Es gibt Eltern, die ihre Kinder weniger lieben als notwendig, und der Fall der in Hamburg in der elterlichen Wohnung verhungerten Jessica ist das krasseste Extrem dieser Erscheinung. Aber es gibt auch Erwachsene, die Kinder mehr „lieben”, als es für Kinder gut ist: Pädophile, die Spukfiguren der „Kinderschänder”-Hetzjagden. Auch von ihnen ist in den Boulevardblättern immer wieder mit Inbrunst die Rede. Während einige Hirnforscher und Hormonexperten die „angeborenen” Eigenschaften solcher Leute auszuleuchten suchen, wirkt gleichwohl der Glaube an die Therapierbarkeit der Psyche weiter, zumindest im Frühstadium von seelischen Störungen. Ein Pädophiler muss weder Täter sein noch Täter werden. So lautet der Grundgedanke eines neuen Projekts des Institutes für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin (IFSS) am Universitätsklinikum der Charité [1]. Das in Berlins Straßen plakatierte Motto lautet: „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?” Menschen mit pädophilen Fantasien und Neigungen sollen durch das Projekt, ehe es zu spät ist, professionelle Hilfe finden, in speziellen Therapien den ungefährlichen Umgang mit ihren Fantasien und Vorstellungen lernen. Wo immer möglich soll ein Heilungsprozess eingeleitet und begleitet werden. Wer als Täter „denkt” und „empfindet”, wird hier nicht als Straftäter, sondern als leidendes Individuum angesehen. Welch sensationellen Fortschritt, welche weite Dimension dieses Projekt beweist, begreift man vielleicht nicht mit dem ersten Blick auf diese Plakate.

Eine der größten, aber am wenigsten beachteten Errungenschaften der liberalen Moderne ist die deutliche Trennung von Fantasie und ausgeführter Tat im Rechtssystem. Historisch ist sie nämlich alles andere als selbstverständlich. Nicht nur ethnologische Studien[2] weisen nach, dass in vormodernen Gesellschaften die kognitiven Voraussetzungen - das formell-abstrakte Denken nach der Lehre von Jean Piaget - für ein solches Rechtsverständnis fehlten, es also als völlig normal galt, Menschen schon für ihre Fantasien und Gesinnungen zu bestrafen. Der größte Vorteil, der unserer Gesellschaft aus dieser institutionell verankerten Unterscheidung erwächst, ist die völlige Freiheit der Kunst und des Innenlebens. Hier darf „das Böse”, das „Deviante” jedoch nur unter einer Bedingung ungestört sein Unwesen treiben: Es darf nicht und niemals handlungsleitend werden. Das ist der Punkt hinter der Freiheit der Kunst. Erst diese Abstraktions- und Differenzierungsleistung ermöglicht eine spielerische Integration antizivilisatorischer Triebe, Regungen, Neigungen und Fantasien in die Zivilisation. In der Kunst integriert unsere Zivilisation den durch sie geworfenen Schatten. Hier darf sein, was niemals sein darf. Hier blühen die Blumen des Bösen.

Aber es gibt noch einen weiteren Vorteil. Sobald ein Mensch weiß, dass er für seine aggressiven, vielleicht mörderischen Gedanken, Träume und Alpträume nicht bestraft werden wird, kann er Hilfe und Rat bei Freunden oder Therapeuten suchen. So kann unter günstigen Bedingungen nicht nur seine eigene zerrissene Seele geheilt werden, sondern es werden auch - und dies ist das gewichtigere Argument - Leben und Gesundheit unschuldiger Mitmenschen geschützt. „Lieben Sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?” Wer würde noch vor wenigen Jahren gewagt haben, sich diese Frage zu stellen, geschweige denn, eine bejahende Antwort sich selbst und einem Anderen zur Kenntnis zu bringen. Dass es dieses Projekt überhaupt gibt, und es im deutschen Fernsehen ganz unverhüllt Werbung macht, darf als Indiz dafür gewertet werden, dass zumindest Teile der deutschen Gesellschaft die Grundlagen der kulturellen Moderne akzeptiert haben - ein gutes Symptom. In jeder konservativen, traditionellen oder gar totalitären Gesellschaft - denken wir an die islamische Welt, an Nordkorea oder China - würde ein Bürger, der solche Fantasien in irgendeiner Form eingesteht, stigmatisiert, geächtet oder verfolgt werden. Da ihm mithin die Kommunikationsmöglichkeiten für sein Problem fehlen, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass er tatsächlich zum Delinquenten wird. Sie wird im Schweigen größer, nicht kleiner.

Das Charité-Projekt sucht diese fatale Logik umzudrehen. Mit der Akzeptanz unserer „devianten Fantasien” in künstlerischen oder therapeutischen Kontexten ermöglichen wir uns als Gesellschaft eine rationale und offene Auseinandersetzung mit dem Konflikt. Aus Es werde Ich, sagte Freud. Sein aufklärerisches Licht ist allmählich im Mainstream angekommen, wenigstens stellenweise. Und in diesem Licht erscheinen auch die düstersten Seiten unserer Psyche. Das erschreckt Menschen. Was aber erst einmal ganz im hellen Licht des Bewusstseins ankommen durfte, kann zumeist besser kontrolliert, eingedämmt und vielleicht auch geheilt werden. Die Enttabuisierung der Fantasie kann das notwendige Tabu gegen das Verbrechen noch stärken. Selbst Fantasien, die nur schwer änderbar sind, weil sie in frühen Kindheitserfahrungen oder gar in der Biologie wurzeln, können ungefährlich sein, wenn ein Mensch gelernt hat sie rechtzeitig zu erkennen, sie zu reflektieren, und sein Verhalten entsprechend zu kontrollieren.

Und tatsächlich kann die Pädophilie bisher nicht geheilt werden. Ziel des Projektes ist der nicht schädigende Umgang mit den psychischen Realitäten.

„Eine Heilung im Sinne einer Löschung des ursächlichen Problems (auf Kinder bezogene sexuelle Impulse) ist (…) nach derzeitigem Stand des Wissens nicht möglich. Die therapeutische Konzentration richtet sich deshalb - optional mit medikamentöser Unterstützung - auf das Erlernen und Trainieren von Fertigkeiten zum sicheren, d. h. nicht fremd- und selbstgefährdenden Umgang mit den eigenen sexuellen Impulsen. Die Betroffenen lernen, dass sie an ihren sexuellen Gefühlen nicht schuld sind, aber für ihr sexuelles Verhalten verantwortlich.” (Information zum Projekt, S. 5). In diesem Rahmen stehen aber viele Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung: verhaltenstherapeutische und sexualmedizinische Methoden, Wahrnehmungsschulung, Perspektivenübernahmetrainings, Reflexionsübungen und Medikamente zur Dämpfung sexueller Impulse.

Zahlreiche Einwände liegen gleichwohl auf der Hand. So ist leider zu erwarten, dass sich nur die tendenziell ungefährlicheren „Täter” auf ein solches Projekt einlassen. Denn das ganze Verfahren setzt beim Individuum einen guten Rest an Problembewusstsein, selbstkritischer Reflexion, Verantwortungsgefühl und Kommunikationsbereitschaft voraus. Umgekehrt wird das Projekt gerade angesichts von potenziellen Schwerverbrechern in ernsthafte Schwierigkeiten kommen, denn es muss natürlich Anonymität garantieren. Wo die Angesprochenen eine Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz befürchten müssen, werden die meisten gar nicht erst erscheinen. Was aber, wenn ein Therapeut zu dem Schluss kommt, dass der Mensch, der hier vor ihm sitzt und ihm vertraut, jederzeit eine Straftat begehen könnte? Selbst wenn er die Wahrscheinlichkeit eher gering einschätzt, befindet er sich in einem moralischen Dilemma: Arbeitet er doch mit den Strafbehörden zusammen, verletzt er das vorausgesetzte und versprochene Vertrauen und damit auch die therapeutische Schweigepflicht. Tut er dies nicht, gefährdet er unter Umständen Unbeteiligte. Diese Schwierigkeiten sind auch aus der herkömmlichen therapeutischen Praxis bekannt. Die heutigen Möglichkeiten der Diagnostik ermöglichen zumindest eine ziemlich sichere Einschätzung auch komplizierterer Fälle. In der Charité müssen alle rechtlichen Fragen vor der Therapie geklärt werden, mögliche Streitfragen werden von einer Ethikkommission untersucht.

Eine weitere Gefahr liegt in der gesellschaftlichen Fehlinterpretation solcher Projekte.

In der Bevölkerung könnte der falsche Eindruck entstehen, dass es sich um den Versuch handelt, sexuellen Missbrauch von Kindern - analog zur Emanzipation von Homosexuellen - schrittweise zu entkriminalisieren. Hier ist es wichtig, wie das IFSS schreibt, „im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit darauf hinzuweisen, dass Pädophilie nicht gleich sexuellem Missbrauch ist und dass Betroffene nicht aufgrund ihrer sexuellen Präferenz diskriminiert werden dürfen. Pädophilie ist Schicksal und nicht Wahl und bestraft werden darf nur rechtswidriges Verhalten, nicht aber Wesenart eines Menschen.” (Information zum Projekt, S. 6).

Die Frage nach einem angemessenen Strafmaß im Falle von Delikten, kann und muss völlig unabhängig von dieser Erkenntnis diskutiert werden.

Das Projekt bleibt in jedem Fall eine großartige Idee und Chance. Kann es nachweisbare Erfolge erzielen, und wird es wissenschaftlich streng kontrolliert, könnte es Modellcharakter für viele andere Bereiche möglicher Straftaten werden - ein Präventivmodell mit Tiefenwirkung. Schon die Verbreitung des Grundgedankens könnte zu größerer gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit und Akzeptanz solcher Präventivtherapien führen, die das leisten, was Kunst nicht bieten kann - jene Leute aus den Dunkelzonen ihrer Seelen zu ziehen, denen das Talent fehlt, deren Fantasien und Phantasmen mittels künstlerischer oder anderer kreativer Aktivität zu sublimieren. Vielleicht lassen sich langfristig sogar Verbrechensraten deutlich senken, wenn solche mutigen Präventionsmodelle Schule machen. Unsere Gesellschaft hätte neben dem Licht der Aufklärung auch den Gewinn vermehrter Sicherheit.

Freunde der offenen Gesellschaft www.fdog.org.

1 http://www.kein-taeter-werden.de/

2 Oesterdiekhof GW. Kulturelle Bedingungen kognitiver Entwicklung. Der strukturgenetische Ansatz in der Soziologie. Frankfurt: Suhrkamp, 2002.

Korrespondenzadresse:

Michael Holmes

Zelterstraße 14

10439 Berlin

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