Psychiatr Prax 2006; 33(5): 248-249
DOI: 10.1055/s-2006-948042
Fortbildung und Diskussion
Rezension
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen in der Geschichte der Psychiatrie

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Publication Date:
30 June 2006 (online)

 

Das Neue, das selbst gesteckte Ziel der lange erwarteten Psychiatriegeschichte von Heinz Schott und Rainer Tölle soll die Verbindung von historischer und klinischer Sicht, soll die Zusammenführung von Geschichte und Praxis des Faches sein. Denn angesichts der Kontroversen über die Psychiatrie erscheint es den Autoren an der Zeit, "die aktuelle Situation in einer historischen Reflexion, einzuholen". Dies zu leisten, scheint die dauerhafte Kooperation des Bonner Medizinhistorikers, wenngleich dieser bisher eher über die Ideengeschichte psychotherapeutischer Grundlagen als über die Historie der klinischen Psychiatrie hervortrat, und des 25 Jahre lang gewesenen Direktors der Münsteraner Psychiatrischen Universitätsklinik als prädestiniert. Und schließlich harrt die ansonsten erfreulich rege Psychiatriegeschichtsforschung verwunderlicherweise immer noch eines endlich gelungenen Gesamtwurfs und Schott u. Tölle positionieren sich auch gleich eingangs gegen die einseitigen Standardchronologien von Shorter und Alexander u. Selesnick. Weiterhin hat doch gerade die deutsche historische Forschung dringend den vorliegenden ideologisch deutelnden Grundrissen ein empirisch argumentierendes Gesamtwerk entgegenzustellen.

Sofort stechen dem geneigten Leser zwei Dinge ins Auge. Erstens: Höchstens die beiden ersten Kapitel folgen dem Schema einer klassischen Chronologie. Danach wird jeweils (z.T. nochmals) separat über die Entwicklung der Krankenversorgung, der Krankheiten und der Behandlungen referiert. Arbeitet man das Buch in seiner Gesamtheit durch, kommt der Leser trotz des flüssigen und leicht lesbaren Stils um ermüdende Redundanzen nicht herum. Auch zerfällt durch diese Methodik sinnhaft Zusammenhängendes und aufeinander Aufbauendes (z.B. psychodynamisches Gedankengut - Freud - Psychoanalyse). Laien werden so schwerlich allen gelegten Fährten folgen können, werden mitunter eher verwirrt. Der selektive Nutzer wiederum findet zwar das Gesuchte benutzerfreundlich abgeteilt, könnte aber, wesentlicher Voraus- und Rückbezüge beraubt, in einem gewissen Fragment nach Halt suchen. Studenten werden den Schott u. Tölle des etwas lehrbuchartigen Charakters wegen lieben und damit dilettieren. Etwas merkwürdig mutet es den Referenten an und reizt seinen Widerspruch, dass das vor Kraepelin, Bleuler und Freud liegende erste Jahrhundert der wissenschaftlichen Psychiatrie als bloße "Historische Voraussetzungen" firmieren und der Missbrauch in Osteuropa und die Euthanasieverbrechen der NS-Psychiater lapidar als "Irrwege" Abhandlung finden. Letzteres entpuppt sich selbstredend nur als stilistisches Unglück. Zweitens: Obgleich der Literaturapparat quantitativ angemessen ausfällt, versagt sich das Buch durch die unberücksichtigt gebliebene Literatur von vornherein die Einlösung des selbst vorgenommenen Vorsatzes, die "aktuelle" Situation nun auch historischerseits auf der Grundlage neuester psychiatriegeschichtlicher Befunde zu hinterfragen. Gerade dem Medizinhistoriker muss die Frage vorgelegt werden, welche Gründe dafür sprachen, die Forschungsresultate der jüngsten Zeit in einem solch unvertretbaren Maße außen vor zu lassen, sodass das Buch immer noch überholte Sichtweisen à la Ackerknecht kolportiert, längst bereinigte Fehler erneut hervorkramt und wesentliche, gegenwärtig geführte Debatten ohne Bezug zu den heutigen Diskutanten als Schattenboxen aufführt. So erfährt z.B. die weltweit einzige spezialisierte Fachzeitschrift, die "History of Psychiatry", als Quelle eine stiefmütterliche Behandlung. Eben weil diese wesentlichen aktuellen Reibungsflächen ignoriert worden sind, bleibt es augenscheinlich dem Psychiater Tölle überlassen, die aktuelle Situation aus seiner Sicht, eben der fachpsychiatrischen einzuschätzen. Und diese Selbstbefragung mit Blick auf die Zukunft der Psychiatrie gehört zu den feinsinnigen Juwelen. Hier taxiert jemand unaufgeregt und souverän, gestützt auf eine lebenslange praktische Erfahrung und auf fachhistorische Begeisterung des Sammelns und Lesens. Und eben auf dieser Grundlage gelingt es dem Buch tatsächlich, Historie und Klinik, Geschichte und Praxis zusammenzuführen und sowohl den Ist-Zustand als auch die Perspektive für den Psychiater und den Psychiatriehistoriker anregend und engagiert "einzuholen". Viel Kritisches wird über das Fach gesagt, doch anstatt es zu zerstören mit Herzblut und Gespür.

Das trifft auch auf die entworfenen historischen Grundmauern zu. Genügend Darlegungen und Interpretationen kann man sich sofort anschließen. Andere laden zum Diskutieren ein. So wird Griesingers Werk sicherlich zu Recht erneut in seiner Vielschichtigkeit betont, andererseits schrammt die Laudatio nur haarscharf an einer Hagiografie vorbei. Die unangenehm gehäuft als Zeugen aufgerufenen Wille und Gaupp sowie die Tübinger Schule - letztere bekanntermaßen ein Faible des "Pluridimensionalen Tölle" - werden nach dem Geschmack des Referenten in ihrer Wirkung überbetont. Gleiches trifft auf die langen und wiederholenden Ausführungen über den Mesmerismus zu. Obwohl die Autoren auch selbst einschätzen, dass Freud auf die deutsche Psychiatrie nicht einen solch hünenhaften Einfluss ausübte wie vom Laienpublikum geglaubt, wird auch er unermüdlich immer wieder als Dreh- und Angelpunkt angebracht. Heinroths Intention somatischer Behandlungsmethoden, die ihrerseits eine psychische Therapie erst ermöglichen sollten, und die ohne den Brownianismus nicht zu denken ist, meint der Referent durch die Autoren missverstanden. Ebenfalls kann gleich an Heinroths Schriften festgemacht werden, dass ärztlich-suggestive Momente sehr wohl eine der grundlegenden Konstituenten des therapeutischen Prozesses im 19. Jahrhundert gewesen sind. Erwähnt werden muss schließlich, dass sich neben Diskutierenswertem auch sachliche Fehler eingeschlichen haben. So stand Gaupp bereits lange vor 1920 den Euthanasieverbrechen und Zwangssterilisationen gedanklich nahe und Binding u. Hoche leiteten keinesfalls erst in diesem Jahr den Diskurs über die Tötung des von ihnen als lebensunwert definierten Lebens ein. Auch war Catel ebenso wenig Ordinarius für Kinderpsychiatrie wie Flechsig der Direktor des Sonnensteins. Mit Blick u.a. auf Zschadraß kann außerdem bezweifelt werden, ob das Göppinger Christophsbad die erste landwirtschaftliche Kolonie war. Zuletzt sei noch auf einige Makel im Zusammenhang mit Emil Kraepelin hingewiesen, steht er doch als Jubilar gegenwärtig im Blickpunkt. Er habilitierte 1882 und war weder in übertragener noch in faktischer Hinsicht Wundts erster Mitarbeiter, dessen Lehrstuhl weder in Zürich noch in Leipzig ein für Psychologie ausgewiesener war. Der Begriff der "endogenen" Psychose war bereits vor Kraepelins Dichotomie in der Psychiatrie eingeführt. Etwas peinlich mutet es an, dass man auch den Grabspruch auf Kraepelins Heidelberger Ruhestätte falsch wiedergegeben findet, soll er doch an der zitierten Stelle sehr bedeutungsschwer wirken. Vermutlich eher in Richtung des Verlages sei noch gesagt, dass der Referent noch kein Buch gesehen hat, dass dermaßen von simplen Zahlenverdrehern wimmelt, z.B. heißt es immer wieder 1800 statt 1900. Auch hätte ein Lektor bei der Erörterung historischer Tatsachen dringlich vom Gebrauch des Konjunktivs abgeraten.

Trotz dieser Fehler kann das Buch sehr wohl empfohlen werden. Ohne Zweifel wird es sowieso Eingang finden in die Bücherschränke der sich nach grundlegenden Zügen umschauenden Nervenärzte und Medizinhistoriker, denn es ist die jetzt greifbar beste, da sachfundierteste und ausgewogenste Geschichte der Psychiatrie.

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