Dtsch Med Wochenschr 2006; 131(37): 1997
DOI: 10.1055/s-2006-951323
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sozialer Status und Gesundheit

Social status and healthJ. Siegrist1
  • 1Institut für medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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eingereicht: 9.8.2006

akzeptiert: 10.8.2006

Publication Date:
08 September 2006 (online)

Vor wenigen Jahren zog der amerikanische Forscher Redford Williams folgende Bilanz zum Zusammenhang zwischen sozialer Stellung in der Gesellschaft und Gesundheitszustand: „Niedriger sozialer Status ist vermutlich die stärkste einzelne Einflussgröße auf vorzeitige Morbidität und Mortalität, nicht nur in den USA, sondern weltweit” [5]. Damals dachten viele, dass diese Folgerung zwar für Länder zutrifft, die, wie die USA, einen mangelhaften Krankenversicherungsschutz und Defizite in der medizinischen Versorgung aufweisen, nicht jedoch für die fortschrittlichen nord- und westeuropäischen Länder mit ihren ausgebauten, der breiten Bevölkerung zugänglichen Gesundheitssystemen. Das Erstaunen war groß, als überzeugende sozialepidemiologische Längsschnittstudien für diese Staaten ebenfalls einen ‚sozialen Gradienten’ nachwiesen. Danach gilt: Je niedriger der soziale Status (gemessen an Bildungsabschluss, beruflicher Stellung oder Haushaltseinkommen), desto höher die Sterblichkeit und die Häufigkeit weit verbreiteter, die Liste der häufigsten Todesursachen anführenden Krankheiten [1] [2]. Selbst in der reichen Schweiz unterscheidet sich die mittlere Lebenserwartung zwischen einfachen Arbeitern und Inhabern von Führungspositionen um 4,4 Jahre. Diese Befunde haben verschiedene EU-Regierungen veranlasst, dem Thema in Forschung und Gesundheitspolitik eine hohe Priorität einzuräumen. Es ist sehr verdienstvoll, dass eine Heidelberger Arbeitsgruppe sich dieses in Deutschland bisher stiefmütterlich behandelten Themas angenommen hat [3]. Sven Schneider und Mitarbeiter weisen anhand einer vertiefenden Analyse von Daten des ersten Bundes-Gesundheitssurvey nach, dass für eine Reihe gesundheitlicher Störungen, die die Krankheitslast der Bevölkerung maßgeblich beeinflussen, ein sozialer Gradient auch hierzulande existiert, insbesondere für Hypertonie, Diabetes, Gefäßkrankheiten, chronische Bronchitis, typische orthopädische Krankheiten und Abhängigkeitserkrankungen. Andererseits zeigt die Studie vereinzelt auch gegenläufige Trends auf. So sind z. B. Allergien sowie bestimmte gastrointestinale und renale Erkrankungen bei sozial Bessergestellten häufiger.

Eine kritische Würdigung der Studie muss in Rechnung stellen, dass die Befunde auf einer schriftlichen Querschnittbefragung beruhen, und dass Ergebnisse aus prospektiven Beobachtungsstudien an initial gesunden Kohorten, wie sie aus mehreren anderen europäischen Ländern bereits vorliegen, sicherlich beweiskräftiger wären. Dennoch liefert die im Rahmen dieser Begrenzung sorgfältig durchgeführte Untersuchung wertvolle Hinweise, zumal, da sie für die deutsche Bevölkerung repräsentativ ist und für mehrere Diagnosen Selbstangaben und Daten der Studienärzte in hohem Maße übereinstimmen. So unterstützt sie z.B. die Forderung nach intensiverer Früherkennung von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen in bildungsschwächeren Bevölkerungsgruppen. Diese Bemühungen sollten allerdings um primärpräventive Maßnahmen ergänzt werden, die über das ärztliche Handlungsspektrum hinausreichen und die Verringerung eines gesundheitsschädigenden Lebensstils und belastungsreicher Lebens- und Arbeitsbedingungen zum Ziel haben [4]. In vielen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass die zuletzt genannten Faktoren den relativ größten Beitrag zur Aufklärung der Varianz des sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität leisten [1] [2].

Für die Forschung stellt sich die Frage, wie die „paradoxen” Befunde einer höheren Prävalenz von Allergien und bestimmter Krebserkrankungen (v. a. Brustkrebs) in oberen sozialen Schichten mit den bisher geltenden Erklärungsmustern sozial ungleicher Gesundheit vereinbar sind. Und es stellt sich die dringende Frage, welche Interventionsansätze die soziale Ungleichheit von Gesundheit und Krankheit spürbar verringern können. Dass wir in Deutschland bei der Beantwortung dieser Fragen auf die Expertise und Vorerfahrungen einiger Nachbarländer zurückgreifen können, haben u. a. die Ergebnisse eines kürzlich abgeschlossenen, von der European Science Foundation geförderten Forschungsprogramms zur Erklärung sozial ungleicher Gesundheitschancen in Europa gezeigt [4]. In einer Zeit, in der gesellschaftliche Spannungen wachsen und soziale Ungleichheiten in verschiedenen Lebensbereichen zunehmen, verdient der soziale Gradient von Gesundheit und Krankheit auch in der Medizin eine besondere Beachtung.

Literatur

  • 1 Mackenbach J, Bakker M. Reducing Inequalities in Health: A European Perspective. London, New York: Routledge 2002
  • 2 Marmot M. Status syndrome. How Your Social Standing Directly Affects Your Health And Life Expectancy. London: Bloomsbury 2004
  • 3 Schneider S, Mohnen S, Schiltenwolf M. „Sind Reiche gesünder?” Epidemiologische Repräsentativdaten zu schichtspezifischen Krankheitsprävalenzen Erwachsener in der Deutschland.  Dtsch Med Wochenschr. 2006;  131 1998-2003
  • 4 Siegrist J, Marmot M. Social Inequalities in Health: New Evidence And Policy Implications. Oxford: Oxford University Press 2006
  • 5 Williams R B. Lower socioeconomic status and increased mortality.  JAMA. 1998;  279 1745-1766

Univ.-Prof. Dr. Johannes Siegrist

Institut für medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität

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