Matthias Dobmeier
Mit den britischen Therapieleitlinien des National Institute for Health and Clinical
Excellence (NICE) liegen jetzt aktuellste Empfehlungen für die Behandlung bipolarer
Erkrankungen vor. Zur Relevanz von NICE sowie den anderen Leitlinien in der Praxis
nahm Dr. Matthias Dobmeier, Cham, Stellung.
Die NICE-Guidelines gelten weltweit als die restriktivsten Therapierichtlinien. Kann
man diese Empfehlungen in der täglichen Praxis umsetzen?
Dobmeier: Die NICE-Guidelines orientieren sich stark an evidenzbasierten Erkenntnissen. Die
Empfehlungen sind daher wissenschaftlich sehr gut validiert, andererseits wird damit
auch ein Teil der klinischen Wirklichkeit ausgeblendet. Dadurch kann der Eindruck
entstehen, dass die Empfehlungen zu restriktiv sind. Grundsätzlich sollte man NICE
wie auch die anderen Empfehlungen als Richtschnur ansehen, die aber die klinischen
Erfahrungen nicht ersetzen kann.
Mir gefällt an den NICE-Guidelines, dass sie teilweise sehr ausführliche Handlungsanweisungen
geben. Sie sagen zum Beispiel, dass man bereits bei der Wahl der Medikation in der
Akuttherapie die weiterfolgende Behandlung berücksichtigen sollte.
Was mir jedoch fehlt, ist beispielsweise ein Hinweis darauf, dass die Wirkung von
einigen Neuroleptika durch Nikotin beeinträchtigt wird und bei der Dosierung berücksichtigt
werden muss. Auch der Hinweis, dass für die Gabe von Valproat erst ab einer Dosis
von 45 mg/kg Körpergewicht - das entspricht bei 80 kg Körpergewicht einer beachtlichen
Dosis von 3600 mg! - ein sorgfältiges Monitoring empfohlen wird, ist zu großzügig.
Die Akuttherapie manischer Episoden gilt als eine der letzten Domänen von Haloperidol
als dem meist zitierten Vertreter der klassischen Neuroleptika. Was rät NICE?
Dobmeier: Eine akute Manie lässt sich natürlich auch mit Haloperidol erfolgreich behandeln.
Aber man muss in der Folgezeit mit einigen Problemen rechnen. Denn gerade dann, wenn
sich der Patient beruhigt hat und eine Deeskalation der Situation eingetreten ist,
treten oft extrapyramidalmotorische Symptome (EPS) und kognitive Einschränkungen auf.
Das sind schlechte Voraussetzungen für eine nachfolgende Phasenprophylaxe. Ich finde
es daher sehr erfreulich, dass die NICE-Empfehlung klar zugunsten der modernen Neuroleptika
geht.
Bei der Langzeittherapie und Phasenprophylaxe nach Ansprechen in der Manie sind sich
die internationalen Leitlinien ungeachtet nationaler Therapietraditionen sehr einig.
Dobmeier: Ja, neben den älteren Stimmungsstabilisierern Lithium und Valproat wird dem modernen
Stimmungsstabilisierer Olanzapin die beste Datenlage und höchste medizinische Evidenz
attestiert und als ein Mittel der ersten Wahl empfohlen.
Die NICE-Guidelines geben sehr ausführliche Hinweise zur Anwendung von Lithium.
Dobmeier: Ich begrüße es sehr, dass NICE hier so ausführlich Stellung nimmt. Lithium ist ein
sehr gutes Medikament, hat aber eine sehr geringe therapeutische Breite und benötigt
dementsprechend ein enges Monitoring. Arzt und Patient müssen sich der Behandlungsrisiken
bewusst sein. Ist der Patient noch bei anderen (nicht-psychiatrischen) Ärzten in Behandlung,
muss er von sich aus darauf hinweisen, dass er Lithium einnimmt, damit zum Beispiel
regelmäßig die Nieren- und Schilddrüsenfunktion überprüft werden kann, um Folgeschäden
zu vermeiden.
Haben Sie den Eindruck, dass hier in der Praxis Defizite bestehen?
Dobmeier: Ja. Ein Lithiumpatient braucht einen Medikamenten-Pass, in dem alle seine Medikamente
aufgeführt sind. Beispielsweise interagieren fast alle Antihypertensiva mit Lithium.
Derartige Risiken kann man nur mit einem Medikamentenpass vermeiden. Leider wird dies
in der Praxis nur sehr selten beherzigt. Darauf sollten die Fachgesellschaften und
die Therapieempfehlungen verstärkt hinweisen.
Explizite Therapieempfehlungen für die Akuttherapie und Phasenprophylaxe von Patienten
mit Mischzuständen sind rar.
Dobmeier: Diese Patienten wurden in der Vergangenheit in kontrollierten klinischen Studien
kaum berücksichtigt. Dementsprechend findet man in den NICE-Guidelines dazu sehr wenig.
Etwas ausführlicher äußern sich das Texas Medical Algorithm Project oder die Therapieempfehlungen
des Canadian Network for Mood and Anxiety Treatment (CANMAT). Insgesamt brauchen wir
jedoch mehr Daten zu dieser Subpopulation bipolarer Patienten.
Laut CANMAT sollte man bei Mischzuständen auf den Einsatz von Antidepressiva möglichst
verzichten, auch um keine Phasenakzeleration bis hin zu einem Rapid Cycling zu provozieren.
Darüber hinaus sollte man schneller kombinieren als in einer rein manischen oder depressiven
Phase. Als Kombinationspartner sollten Valproat oder Lamotrigin, je nach klinischer
Ausprägung, zusammen mit Atypika angewandt werden. Die meisten Daten zur Wirksamkeit
der Atypika liegen hier für Olanzapin vor. In zwei randomisierten kontrollierten Studien
war die Rezidivrate niedriger als unter Plazebo bzw. Valproat.
Herr Dr. Dobmeier, wir danken Ihnen für das Gespräch!