Dtsch Med Wochenschr 2006; 131(51/52): 2895-2897
DOI: 10.1055/s-2006-957218
Weihnachtsheft

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Musik im Kopf

Individuelle Unterschiede in der Klangwahrnehmung und das zerebrale SinfonieorchesterMusic in the brainIndividual differences in sound perception and the cerebral symphony orchestraP. Schneider1 , 2 , M. Andermann1 , 2 , D. Engelmann1 , R. Schneider1 , 2 , A. Rupp1
  • 1Neurologische Klinik, INF 400, Sektion Biomagnetismus, Heidelberg
  • 2Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Institut für Neuropsychologie, Mannheim
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Publication Date:
12 December 2006 (online)

Die musikalische Tonhöhe von harmonisch komplexen Tönen unterscheidet sich um bis zu drei oder vier Oktaven, wenn derselbe Ton unterschiedlichen Hörern vorgespielt wird. Manche Hörer erkennen eher den Grundton eines Klanges (die Periodizitätstonhöhe), andere eher einzelne Obertöne. Um diese bereits von Hermann von Helmholtz in seinem Buch „Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik” [5] beschriebenen subjektiven Unterschiede zu quantifizieren, haben wir einen neuen Tonhöhentest mit 162 verschiedenen Tonpaaren aus harmonisch komplexen Tönen entwickelt [3]. Die Testpersonen werden dabei gebeten anzugeben, ob sie innerhalb eines Tonpaares eher eine fallende oder eine aufsteigende Tonrichtung wahrnehmen. Nach der Durchführung des Testes mit über 500 Profimusikern, 123 Amateurmusikern und 78 Nichtmusikern konnten wir eine überraschend breite Verteilung mit fließenden Übergängen aufzeichnen, die es erlaubte, die Hörer in zwei Gruppen, die „Grundtonhörer” und die „Obertonhörer” einzuteilen.

In der Neuroradiologischen Klinik der Universität Heidelberg wurde zusätzlich bei 137 Probanden die anatomische Gehirnstruktur mittels Kernspintomographie (MRT, 3 Tesla, Siemens) aufgenommen. Mit dem holländischen Softwareprogramm BrainVoyager (BrainInnovation, Maastricht) konnte der für die Verarbeitung von Höreindrücken zuständige Hörkortex Schicht für Schicht herausgeschält werden und anschließend dreidimensional rekonstruiert werden [2] [3]. Im Zentrum des Hörkortex befindet sich die für die Klang- und Musikverarbeitung zuständige „Heschlsche Querwindung” (farbig gekennzeichnet), die nach dem Wiener Anatom Richard Ladislaus Heschl (1824 - 1881) benannt wurde. Grundtonhörer wiesen im seitlichen hellgefärbten Bereich der linken Heschlschen Querwindung ein deutlich größeres Volumen an grauer Substanz auf, Obertonhörer hingegen in denselben Arealen auf der rechten Seite.

Als drittes wurde bei denselben Probanden in der Sektion Biomagnetismus der Heidelberger Universitätsklinik eine Gehirnstrommessung mittels Magnetoenzephalographie (Ganzkopf-MEG, Neuromag, Helsinki) beim Hören von Klängen durchgeführt. Die Versuchsperson saßen völlig entspannt unter einer Art Friseurhaube und durften etwa eine Stunde lang komplexe Töne und Instrumentalklänge hören. Innerhalb der Haube befinden sich die 122 mit flüssigem Helium auf -270 Grad Celsius herabgekühlten Messspulen. Die Spulen werden dadurch supraleitend und können so erst die winzigen Gehirnströme erfassen, die als Magnetfeldänderungen ausserhalb des Kopfes aufgezeichnet werden. Nach der detaillierten Quellenanalyse der Gehirnströme mit dem Softwareprogramm BESA (MEGIS GmbH, München) zeigten die Grundtonhörer in einem Zeitfenster um 50 ms nach Tonbeginn analog zum anatomischen Befund eine charakteristische Linksasymmetrie der gemessenen auditorisch evozierten Felder (P50-Antwort). Bei den Obertonhörern war hingegen wiederum der rechte Heschl-Gyrus der aktivere [3].

Während die mit der Tonhöhenwahrnehmung verbundene Links-Rechts-Asymmetrie sowohl bei Profimusikern als auch Nichtmusikern in gleicher Weise auftrat, war die absolute Größe der neuronalen Substanz stark von der musikalischen Veranlagung abhängig. Im Vergleich zu den eher dünnröhrigen Hörwindungen der Nichtmusiker wiesen die auffällig breitlappigeren Heschlschen Querwindungen der Profimusiker doppelt so viel Volumen an grauer Substanz auf. Der Hörkortex als Ganzes war allerdings nicht signifikant vergrößert.

Die musikalische Begabung wurde mit einem weltweit standardisierten Test des amerikanischen Musikpsychologen Edwin E. Gordon erhoben („Advanced Measure of Music Audiation Test, Chicago, 1989) [1]. Beim Vorspielen von Melodiepaaren wurde untersucht, wie gut die Probanden rhythmische oder tonale Änderungen wahrnehmen können. Nach Gordon spiegelt das Ergebnis dieses Testes das latent vorhandene Potential an musikalischer Leistungsfähigkeit, und ist in der Regel mit einer stark ausgebildeten Klangvorstellung („Audiation”) verknüpft.

Die im seitlichen Bereich der Heschlschen Querwindung generierte P50-Aktivierung zeigte bei Profimusikern sogar eine um das Fünffache größere Dipolamplitude. Sie reflektierte im Gegensatz zum morphologischen Befund ausschließlich die musikalische Langzeitpraxis und ist bei langjährigen Profimusikern nochmals um etwa den Faktor zwei größer als im Vergleich zu Musikstudenten. Insgesamt lässt sich aus unseren Daten daher eine funktionell-strukturelle Trennung des musikalischen Trainings und der musikalischen Begabung im Hörkortex von Musikern und Nichtmusikern ableiten.

Ferner wurde ein Einfluss auf die Präferenz bestimmter Musikinstrumente festgestellt [4]. Da der linke Heschl-Gyrus für rasche zeitliche Verarbeitung zuständig ist, bevorzugten Grundtonhörer oft Musikinstrumente, die kurze, scharfe oder impulsive Töne produzieren (Schlagzeug, Gitarre, Klavier, Trompete, Querflöte oder hohe Soloinstrumente) und neigten zu virtuoser, impulsiver Spielweise. Der rechte Heschl-Gyrus ist eher für die Verarbeitung von Spektralfrequenzen (Obertönen), Klangfarben und Melodien zuständig. Deshalb bevorzugten Obertonhörer in der Regel Musikinstrumente, die länger ausgehaltene Töne mit charakteristischen Klangfarben oder Formanten im Spektrum produzieren (Streich-, Blech oder Holzblasinstrumente in tieferen Lagen, Orgel oder Gesang). Musiker, die das gleiche Hauptinstrument spielten aber unterschiedlich hörten, unterschieden sich sowohl in ihrer musikalischen Klangvorstellung als auch in ihrer Musizierpraxis: Grundtonhörer spielten tendentiell lieber schwungvoll, virtuos oder rhythmisch betont, Obertonhörer interessierten sich mehr für zartere Klangfarbenänderungen, die Gestaltung einzelner Klangereignisse, einen weicheren Tonansatz, historische Aufführungspraxis oder die Hervorhebung von polyphonen Melodieverläufen.

Überraschenderweise zeigten manche Musikergruppen tendenziell homogene Höreigenschaften. Sowohl die Dozenten als auch die Studenten der Heidelberger Kirchenmusikhochschule waren bis auf wenige Ausnahmen alle Obertonhörer, in Lübeck war hingegen die Mehrheit der gemessenen Kirchenmusikstudenten Grundtonhörer. „Die Dozentenschaft der Heidelberger Kirchenmusikhochschule legt hohen Wert auf eine solide Ausbildung der Gesangs-und Chorleitungsfähigkeit, wohingegen die Lübecker Hochschule eher dafür bekannt ist, Orgelvirtuosen heranzuziehen” erklärt der Heidelberger Orgeldozent Prof. Gerhard Luchterhandt aus Heidelberg. Auch die Jazz-und Popschulen zeigten eine komplementäre Verteilung: Die gemessenen Schlagzeuger der Popakademie in Mannheim waren alle Grundtonhörer, die Schlagzeuger der Frankfurter Musikwerkstatt hingegen zumeist Obertonhörer. Sehr auffällig waren die orchesterspezifischen Unterschiede zwischen Sinfonie- und Opernorchestermusikern. Die von unserer Liverpooler Kollegin Dr. Vanessa Sluming untersuchten 40 Orchestermusiker des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra (RLPO) waren fast ausnahmslos Obertonhörer, die Musiker des Mannheimer Nationaltheaters hingegen zu 80 % Grundtonhörer. Eine Cellistin dieses Orchesters schrieb dazu: „Bei uns wird meiner Ansicht nach viel lebendiger und feuriger gespielt, und in dem Schwung geht auch mal etwas verloren, so auch das eine oder andere piano.” Nicht zuletzt stehen die Mannheimer Orchestermusiker im Erbe der zur Zeiten der Mannheimer Schule bekannt gewordenen „Mannheimer Rakete”, einem arpeggiert nach oben schnellenden energischen Impulsgeber zur Initialzündung von Musikstücken.

Wenn die Orchestermusiker insgesamt nach ihren Höreigenschaften gruppiert werden, fällt interessanterweise auf, dass allein die Gruppierung in Grundton- und Obertonhörer bereits verblüffende Ähnlichkeiten mit einer typischen Sitzanordnung eines modernen Sinfonie- (Abb. [1]) oder Opernorchesters (Abb. [2]) aufweist. Im Sinfonieorchester sitzen normalerweise die Spieler der hohen Diskant-Instrumente (erste Geige, Querflöte, Piccolo, Trompete) und zum Teil auch das Schlagwerk eher linkerhand vom Dirigenten, die Spieler der tieferen Melodieinstrumente (Bratsche, Kontrabass, Fagott, Tuba) eher rechterhand. Im Opernorchester zeigte sich der gleiche Effekt in einer gespiegelten Form. Das zerebrale Sinfonieorchester belegt in einer eindrücklichen Weise die Einflüsse der sonst unter der Schädeldecke verborgenen, individuell geformten Hörwindungen auf die Klangwahrnehmung, Klangvorstellung, Präferenz von Musikinstrumenten und auf die musikalische Spielpraxis.

Abb. 1 Zerebrales Sinfonieorchester. Die Gruppierung der Hörrinden nach Grundton- und Obertonhörern entspricht der Bühnenaufstellung eines modernen Sinfonieorchesters.

Abb. 2 Zerebrales Opernorchester. Die spiegelsymmetrische Gruppierung der Hörrinden nach Grundton- und Obertonhörern entspricht der Sitzordnung eines modernen Opernorchesters im Orchestergraben.

Literatur

  • 1 Gordon E E. Introduction to Research and the Psychology of Music. GIA, Chicago 1998
  • 2 Schneider P. et al . Morphology of Heschl’s Gyrus reflects enhanced activation in the auditory cortex of musicians.  Nature Neuroscience. 2002;  5 688-694
  • 3 Schneider P. et al . Structural and functional asymmetry in lateral Heschl’s gyrus predicts pitch perception preference.  Nature Neuroscience. 2005;  8 1241-1247
  • 4 Schneider P. et al . Structural, functional and perceptual differences in Heschl’s gyrus and musical instrument preference.  Ann N Y Acad Sci. 2005;  1060 387-394
  • 5 von Helmholtz H. Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Vieweg, Braunschweig 1863

Dr. Peter Schneider

Neurologische Klinik, INF 400, Sektion Biomagnetismus

69120 Heidelberg

Email: Peter.Schneider@med.uni-heidelberg.de

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