Der Klinikarzt 2007; 36(12): 679
DOI: 10.1055/s-2007-1021784
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Rückenschmerzen - eine Herausforderung für unsere Gesellschaft

Karsten Dreinhöfer
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Publication Date:
07 January 2008 (online)

Die Weltgesundheitsorganisation und die Vereinten Nationen haben die Jahre 2000-2010 zur „Bone and Joint Decade”, dem Jahrzehnt der Knochen und Gelenkerkrankungen, erklärt. Denn es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen dem epidemiologischem Ausmaß und der volkswirtschaftlichen Bedeutung muskuloskelettaler Erkrankungen einerseits und ihrer bisher relativ geringen Priorität andererseits im Gesundheitswesen, bei der Forschungsförderung und der Ausbildung von Medizinstudenten. Die zunehmende Überalterung in unserer Gesellschaft wird zu einer enormen Anzahl von Personen mit Erkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane (v.a. Gelenkerkrankungen, Osteoporose und Erkrankungen der Wirbelsäule) führen. Genau dies hat weltweit wissenschaftliche Gesellschaften und Patientenorganisationen veranlasst, gemeinsame Konzepte zu entwickeln (www.boneandjointdecade.de).

Rückenschmerzen sind ein Symptom, aber keine Diagnose. Es handelt sich um ein multifaktorielles Geschehen mit vielen möglichen Ursachen. Umfangreiche epidemiologische Studien haben verschiedene relevante Risikofaktoren für den Rückenschmerz identifiziert. Hierzu zählen zum einen schwere körperliche Arbeit, häufiges Heben, Arbeiten in ungünstigen Haltungen und Vibrationen. Neben diesen physikalischen Risikofaktoren haben aber auch soziodemografische oder individuelle Größen, wie Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Größe, Gewicht, genetische Faktoren, aber auch Lebensstil und physische Belastbarkeit, Rauchen, Alkohol und allgemeiner Gesundheitszustand ein großes Gewicht. Besonderen Einfluss haben jedoch auch psychosoziale Faktoren wie Ängstlichkeit, Depression und emotionale Instabilität.

Basierend auf dieser Erkenntnis wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene Erklärungsmodelle für das Auftreten und die Unterhaltung von Rückenschmerzen entwickelt. In der Praxis lässt sich jedoch oft kein sicherer kausaler Zusammenhang zwischen Beschwerdebild und körperlichen Befunden sowie den Ergebnissen der körperlichen Untersuchung, der psychosozialen Evaluation und/oder der Bildgebung herstellen.

Vor Kurzem hat eine multidisziplinäre Expertengruppe der Bertelsmann Stiftung auf der Grundlage der aktuellen Evidenzen und Leitlinien „Innovative Konzepte zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Rückenschmerzen” entwickelt und daraus einen „Gesundheitspfad Rücken” abgeleitet (www.bertelsmann-stiftung. de). Eine präventionsorientierte, sektorenübergreifende Gestaltung der Versorgung sollte die kostenintensive Chronifizierung der Rückenschmerzpatienten reduzieren können. Im Mittelpunkt steht dabei die Steuerung von Behandlungsprozessen auf drei Versorgungsebenen, wobei die Behandlungszeiten und Übergangskriterien zwischen der primärärztlichen Versorgungsebene (Hausarzt, Facharzt), der fachspezifischen Versorgungsebene und der interdisziplinären Versorgungsebene klar definiert sind.

Insbesondere die Identifizierung sogenannter „roter” und „gelber Flaggen” kann frühzeitig entweder eine bedrohliche schwere Erkrankung oder psychosoziale Faktoren, die als Risikofaktoren für eine Chronifizierung gelten, sichtbar machen - und damit eine zeitgerechte adäquate Intervention ermöglichen. Auf der sogenannten dritten Behandlungsebene erfolgt ein interdisziplinäres multidimensionales Assessment und gegebenenfalls die frühzeitige Einleitung eines multimodalen Therapieprogrammes.

Es ist zu hoffen, dass die verbesserte Kenntnislage auf Seiten der Behandler, aber insbesondere auch der Betroffenen, zum einen zu einem rationaleren Umgang mit Rückenschmerzen und zum anderen zu einer kompetenzbasierten Versorgung dieser großen Gruppe in der Bevölkerung führt.

Dr. Karsten Dreinhöfer

Ulm

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