PPH 2007; 13(3): 109
DOI: 10.1055/s-2007-963253
Editorial

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Neue Definition von Pflegebedürftigkeit erforderlich

H. Schädle-Deininger
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Publication Date:
19 June 2007 (online)

Ambulante psychiatrische Pflege - so wird überall propagiert - sei der zukünftige Arbeitsplatz von Pflegeexperten in der Psychiatrie. Der zunehmend steigende Bedarf an ambulanter psychiatrischer Pflege sei nicht zu übersehen. Wie sehen vor diesem Hintergrund die derzeitigen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen aus? Wie werden im Bereich der ambulanten psychiatrischen Pflege Tätige, Betroffene und Angehörige in die notwendigen Veränderungen einbezogen? Was sollte angestoßen, getan werden? Welche Veränderungen bedarf es seitens der Definitionen, Minutenwerte und Einstufungen?

In vielen Zusammenhängen, sei es im ambulanten, stationären oder komplementären Bereich, werden professionell Pflegende immer wieder mit dem Begriff der Pflegebedürftigkeit konfrontiert und meist geht es dabei um Einschätzung von Unterstützungsbedarf sowie Pflege, Ausmaß der Hilfen oder auch, ob der betroffene Mensch nicht allein und ohne Dienstleistungen auskommen kann.

Die damit verbundenen Einschränkungen beispielsweise in der Ausübung von psychiatrischer Pflege werden vor allem in den ambulanten Arbeitsfeldern immer mehr zum Problem der dort tätigen Pflegekräfte. Die Bezahlung nach Einzelleistungen in der ambulanten psychiatrischen Pflege ist durch einen fachkompetenten Einsatz und qualitativ hochstehende Praxis der psychiatrischen Pflege sehr fraglich. Die Kritik und Diskussion entzündet sich, neben der über die Kriterien zur Bemessung der Pflegezeit, vor allem an der somatischen Ausrichtung des Pflegebegriffs und der ausschließlichen Orientierung an den Aktivitäten des täglichen Lebens. Damit werden psychiatrisch und gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen und deren Hilfebedarfe vernachlässigt bzw. ihre Bedürfnisse und ihr Unterstützungs- sowie Pflegebedarf ausgegrenzt.

Deshalb ist der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu zu definieren. In Folge muss es in einem erweiterten und umfassenderen Pflegebedürftigkeitsbegriff um den speziellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz gehen, der Einschränkungen bzw. Fähigkeiten in der Kommunikation und sozialen Teilhabe einschließt.

Die Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt, mittelfristig den Pflegebegriff bei der Reform der Pflegeversicherung zu erweitern. Inzwischen hat sie zur Weiterentwicklung und Umsetzung des Pflegebegriffs einen Beirat eingerichtet und die Spitzenverbände der Pflegekassen damit beauftragt, im Rahmen eines Modellvorhabens ein neues Begutachtungsverfahren zu entwickeln.

Es stellt sich die Frage, ob ein neues Begutachtungsverfahren allein hilft, die Ungereimtheiten in der Versorgung psychisch kranker Menschen zu beheben. Oder ob es nicht an der Zeit ist, wieder einmal die Frage zu stellen, inwieweit ein Versorgungsnetz mit entsprechender Finanzierung nicht Kosten sparender ist, und vor allem auch den Bedürfnissen und dem Hilfebedarf der Betroffenen und ihrer Angehörigen mehr entspricht? Warum kann psychiatrische Pflege nicht an den Bausteinen einer gemeindenahen Versorgung angesiedelt und entsprechend honoriert und kontrolliert werden?

Wie können verlässliche Daten im Hinblick auf pflegerische Versorgung und Versorgungsstrukturen geschaffen werden? Die Pflegewissenschaft ist hier gefragt, denn psychiatrische Pflegeforschung ist bei uns rar. Es fehlen Daten hinsichtlich der Wirksamkeit psychiatrischer Pflegehandlungen, die Untersuchung von umfassender, kreativer und bedarfsorientierter Ausübung von fachlichen Kompetenzen psychiatrischer Pflege steckt - wenn überhaupt - in den Kinderschuhen.

Wäre es aus dieser Sicht nicht an der Zeit, Psychiatrie-Erfahrene in einen solchen Prozess einzubeziehen, von ihnen zu erfahren, was sie tatsächlich brauchen und dann entsprechende Konzepte zu entwickeln?

Welche konkreten Maßnahmen unternehmen Pflegende in einem solidarischen Miteinander, um das Interesse der ambulanten psychiatrischen Pflege im Sinne einer psychiatrischen Grundversorgung durchzusetzen? Wäre die Neudefinition nicht auch eine Chance den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Hinblick auf die psychiatrische Pflege mit zu gestalten und entsprechende Verbände und Gruppierungen, auch die von Betroffenen und Angehörigen zu motivieren, sich für eine Umfassende Begriffsbestimmung einzusetzen?

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