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DOI: 10.1055/s-2007-963383
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Die Befreiung der Eingeschlossenen - Frührehabilitative und ethische Herausforderungen im Umgang mit der subjektiven Lebenswirklichkeit von Menschen im Locked-in-Syndrom[1]
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
12. Oktober 2007 (online)

Einleitung und Problemorientierung
Die Einladung zur diesjährigen Tagung von LIS e. V. hier in Rheinsberg ist für mich ein guter Anlass, als sogenannter Professioneller einmal genauer zu untersuchen, was Locked-in-Betroffene selbst über ihre Lebenswirklichkeit sagen, wie sich ein Locked-in-Syndrom (LIS) aus der Innenperspektive sozusagen anfühlt, welche Nöte und Wünsche die Betroffenen haben und was sie von professionellen Helfern erwarten. Um diese oft vergessene subjektwissenschaftliche Seite des LIS als Quelle von Erkenntnis fokussieren zu können, habe ich die internationale und deutschsprachige Literatur durchsucht und das Schicksal von 14 Patienten, die seit 1997 wegen eines Locked-in-Syndroms auf unserer Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte in Oldenburg behandelte wurden, näher betrachtet. Insbesondere wurden einige Videodokumente, die während der Frührehabilitation und bei Nachkontrollen entstanden sind, ausgewertet.
Das Thema steht mit meinem Forschungsschwerpunkt Koma/Wachkoma in einem engen Zusammenhang, denn das Locked-in-Syndrom geht in der Akutphase in schweren Fällen häufig mit einem Koma einher und muss differenzialdiagnostisch von anderen Komaformen abgrenzt werden [52]. Im Unterschied zum Koma und Wachkoma verfügen viele LIS-Patienten von Anfang an über mehr oder weniger klare kognitive Kompetenzen, sich ihrer Lage bewusst zu werden, die Reaktionen der Umwelt zu reflektieren und Anstrengungen zu unternehmen, von der Umwelt verstanden zu werden. Aus der schädigungsbedingten Unfähigkeit, sich nur durch vertikale Augenbewebungen verständlich zu machen, resultiert besonders in der Akutphase eine spannungsvolle, von den Betroffenen oft als qualvoll erlebte kommunikative Lücke [27] [42]. Nur wenige Neurologen scheinen in der Akutphase an die Möglichkeit des Vorliegens eines LIS zu denken und ihr Verhalten in Form von Ja/Nein-Fragen entsprechend darauf abzustimmen. Das in der Ausbildung zum Neurologen sehr selten vorkommende Krankheitsbild ist also von erheblichen Unsicherheiten belastet: Auf der Seite der Betroffenen hinsichtlich der psychischen Dimensionen der Verlusts an normaler Kommunikation einschließlich aller damit verbundenen Empfindungen des „Eingeschlossenseins” wie auf der Seite der professionellen Helfer hinsichtlich der nachvollziehbaren Fehldiagnose eines nicht reagiblen Zustandsbildes im Sinne eines Komas/Wachkomas. Die belastende Situation eines Locked-in-Syndroms spiegelt sich auch in Medien in emotiven Titel wie „Blick aus dem Kerker” ([46], im ZEIT-Magazin), „Gestrandet im eigenen Leib” ([47], im SPIEGEL), „Gefangen im Ich” [25], „Gefangen im eigenen Körper” [27] [28] und „Eingeschlossen im eigenen Körper” [48] deutlich wider. Andererseits wird mit dem Titel des Films „Am seidenen Faden”, ein autobiografisches Dokument der Filmemacherin Katarina Peters über ihren Mann, den Cellisten Boris Baberkoff, eine ganz andere Dimension des Überlebens im Locked-in-Syndroms ausgedrückt: das Leben hängt sozusagen wirklich am seidenen Faden und kann jederzeit abreißen - besonders in der Anfangszeit auf der Intensivstation [2]. Übertragen auf andere zivile Katastrophen, scheint diese Situation einen „Supergau” individuellen Leids und mitmenschlicher Belastungen darzustellen. Es wird klar ersichtlich, dass eine solche Situation durch verbesserte Aufklärung vonseiten der Notfallmediziner, Neurologen und Rehamediziner möglichst vermieden und gemildert werden sollte. Durch eine intensive, konsequente und umfassende Frührehabilitation kann das scheinbar unvermeidliche Schicksal häufig gemildert und die Lebenswirklichkeit der Betroffenen und ihrer Angehörigen entscheidend verbessert werden.
1 Überarbeitetes Manuskript zur Tagung „Das Locked-in-Syndrom - Perspektiven von Diagnose und Therapie im europäischen Kontext”, am 24.-26.3.2006 in Rheinsberg bei Berlin, erscheint in voller Länge und mit ursprünglichem Vortragstitel im Tagungsband von LIS e. V. (in Vorb. 2007).
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Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Zieger
Ltd. OA der Abt. für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte, Früh- und Weiterführende Rehabilitation,
Evangelisches Krankenhaus Oldenburg
Steinweg 13 - 17
26122 Oldenburg
eMail: Dr.andreas.zieger@evangelischeskrankenhaus.de