psychoneuro 2007; 33(1/02): 48-51
DOI: 10.1055/s-2007-965868
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Gleichgewichtssinn - Neues aus Forschung und Klinik

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Publication Date:
15 March 2007 (online)

 
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Im wunderschönen alten Hörsaal des Langenbeck-Virchow-Hauses konnte Tagungsleiter Prof. Hans Scherer, Direktor der HNO-Klinik Charité Campus Mitte in Berlin Mitte November 2006 die Teilnehmer des 6. Hennig-Symposiums begrüßen. Prof. Scherer betonte, dass neben handfester Fortbildung im 6. Hennig-Symposium auch "heiße Themen" aufgegriffen werden sollten, die sonst gerne ausgespart werden und über die es zwischen Neurologie und HNO kontroverse Diskussionen gibt. Unterstützt durch die Hörsaal-Situation entwickelt sich eine intensive Tagung und es wurde lebhaft und teils kontrovers, aber immer zielgerichtet diskutiert. Das anfänglich kleine "Hennig-Symposium" hat sich so im Lauf der Jahre zu einem wertvollen interdisziplinären Fortbildungskongress mit praktischen Übungen und Kursen und zu einem Forum für Kliniker und Forscher entwickelt. Den zunehmenden Stellenwert dieser Tagung dokumentieren auch die ständig steigenden Anmeldungen, über mehr als 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnte sich Dr. W. Baumann, Leiter der wissenschaftlichen Abteilung der Fa. Hennig Arzneimittel 2006 in Berlin freuen. Dies zeige, so Baumann bei der Begrüßung, dass das Thema "Schwindel" nicht nur im semantischen, sondern auch im wissenschaftlichen Sinn interessant sei und bleibe.

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Die Rolle des Hippocampus bei der Orientierung im Raum

Schon seit den 50er Jahren ist in tierexperimentellen Untersuchungen belegt, wie wichtig vestibuläre Informationen für das räumliche Navigieren und auch für das räumliche Gedächtnis sind, betonte Prof. Michael Strupp, der diesjährige Träger des Hennig-Vertigo-Preises, aus der Neurologischen Universitätsklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Klinische Untersuchungen an Patienten wurden dazu aber erst in den letzten Jahren durchgeführt. Dabei hat man festgestellt, dass bei Patienten mit bilateraler Vestibulopathie die sogenannte "path integration" gestört ist. Diese Patienten können problemlos von einem Punkt A nach Punkt B und wieder zurück gehen, haben aber Schwierigkeiten, wenn sie ein Dreieck vor und wieder zurück gehen sollen.

Wichtig für das räumliche Navigieren scheint auch der Hippocampus zu sein. Untersuchungen an Ratten in einem Labyrinth zeigen, dass die so genannten "place cells" ein neuronales Substrat der räumlichen Repräsentation darstellen. Für jeden Ort in diesem Labyrinth gibt es eine spezielle Zelle im Hippocampus, die dann aktiv ist, wenn sich die Ratte dort befindet. Die örtliche Information wird im Hippocampus anhand dieser "place cells" codiert, die eng mit dem vestibulären System zusammenarbeiten - der entscheidende "input" kommt also von vestibulären Zellen. Welche Funktion vestibuläre Informationen und der Hippocampus in der Navigation beim Menschen haben, und ob es eine Interaktion zwischen dem Hippocampus und dem vestibulären System gibt, ist am Menschen bisher wenig untersucht. So haben Taxifahrer in New York einen größeren Hippocampus als Kontrollpersonen, ein Hinweis darauf, dass sich der Hippocampus an die Anforderungen an das räumliche Gedächtnis anpasst.

Strupp und sein Team untersuchten zehn Patienten (Durchschnittsalter 38 Jahre) mit kompletter bilateraler Vestibulopathie (beidseitige Neurektomie wegen bilateraler Akustikusneurinome bei Neurofibromatose Typ II) auf Defizite des Navigationsvermögens und des räumlichen Gedächtnisses. Geprüft wurde auch, ob diese Störungen mit anderen Gedächtnisstörungen einhergehen oder ob es sich dabei um eine selektive Funktionsstörung des räumlichen Gedächtnisses handelt. Weiter ging man der Frage nach, ob sich bei diesen Patienten neurologische Veränderungen finden und ob ähnliche Veränderungen auch bei Patienten mit nur einseitigem chronischen Ausfall auftreten. Als Vergleich diente eine nicht beeinträchtigte Kontrollgruppe mit ebenfalls zehn Patienten. Die Untersuchung wurde mit dem Goldstandard "Water-Morris-Task" mittels eines PC-Programms durchgeführt. Die Messung erfolgte im Sitzen ohne zusätzliche räumliche oder somatosensorische Informationen. Dies hat den Vorteil, dass hierbei eine vestibuläre Information nicht notwendig ist und man also rein das räumliche Gedächtnis testen kann.

Die Patienten mit bilateraler Vestibulopathie zeigten sowohl signifikante Defizite des räumlichen Gedächtnisses und der Navigation (ohne weitere zusätzliche neuropsychologische Störungen) als auch eine selektive Atrophie des Hippocampus (im Mittel -16,9 %). Bei den Patienten mit einseitiger Neurektomie zeigten sich in den beiden Gruppen keine signifikanten Unterschiede.

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Fazit

Patienten mit chronischem beidseitigen peripheren vestibulären Defizit haben signifikante isolierte Störungen des räumlichen Gedächtnisses. Sonstige kognitive Leistungsdefizite finden sich nicht. Es tritt eine selektive Atrophie des Hippocampus auf. Bei chronischem einseitigen Defizit tritt keine dieser Störungen auf. Diese Daten zeigen die besondere Bedeutung des vestibulären Systems für die räumliche Gedächtnisfunktion - das war bislang beim Menschen nicht nachgewiesen. Die intakte Funktion und die Morphologie hängen von dem wahrscheinlich tonischen Input des vestibulären Systems ab. Die Atrophie beruht vermutlich auf einer gestörten Neuroneogenese.

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Wirkung von Transmittern im vestibulären System

Für einige Probleme beim Einsatz von Medikamenten an den peripheren vestibulären Organen sind nach Prof. Arne-Wulf Scholtz aus der HNO-Klinik der Medizinischen Universität in Innsbruck die Kalziumkanäle und die Transmitter verantwortlich. Die peripheren vestibulären Endorgane haben zwei Typen von Haarzellen, deren Anzahl auf der Macula und der Crista bekannt ist und bekannt sind auch drei Typen von afferenten Nervenendigungen. Neu ist aber die Erkenntnis, dass es vestibuläre Typ-1-Haarzellfasern gibt, bei denen der Kelch nicht wie sonst immer die Typ-1-Zellen komplett umschließt. Unbekannt ist aber noch, ob dies pathologisch ist und wie sich die Zellen bei den peripheren vestibulären Endorganen auf den einzelnen Arealen verteilen. Einen kleinen Anhaltspunkt gibt es, wo eine afferente Nervenfaser sich in zwei Nervenpärchen aufteilt, dort ist das Verhältnis von Typ-1- zu Typ-2-Zellen 1:2 bis 1:4, in anderen Arealen teilt sich eine afferente Nervenfaser sogar in fünf Pärchen auf. Wie viele afferente und efferente Andockmuster es bei Typ-2-Haarzellen gibt, ist aber noch offen.

Haupttransmitter für das afferente System ist das Glutamat, für das es eindeutige biochemische, biologische und immunzytochemische Nachweise gibt. Weil hier viele gleichartige Strukturen mit unterschiedlichen Funktionen existieren, arbeitet man nach Scholtz jetzt mit den Synapsen und versucht, Rezeptorstrukturen zu erkennen. Glutamat besitzt inotrope und heterotrope Rezeptoren. Zunächst war man der Auffassung, dass die Glutamat-Rezeptoren 2 und 3 und der NMDA-Rezeptor 1 die Hauptrezeptoren am vestibulären Endorgan seien. Bei elektrophysiologischen und immunhistochemischen Untersuchungen in Tierexperimenten wurde aber auch der Glutamat-Rezeptor 4 gefunden. Am Menschen konnten die Arbeitsgruppe von Scholtz und Schrott-Fischer sowie andere Arbeitsgruppen diesen Fund nicht bestätigen, sahen dafür aber positive Immunantworten für die Glutamat-Rezeptoren 1, 2 und 3.

Eine neuromodulierende Aktion insbesondere an den Typ-1-Haarzellen dürfte die Gamma-Buttersäure (GABA) haben, ein weiterer, vermutlich afferenter Neurotransmitter. Vorrangig wirksam ist hier der GABA-1-Rezeptor.

Die Substanz P, ein Neuropeptid, wird auch als afferenter Neurotransmitter bezeichnet und ist insbesondere in den vestibulären Nervenzellen in den afferenten Nervenfasern festgestellt worden. In den gleichen Nervenfasern wurde auch Calcitonin Gene-related Peptide (CGRP) festgestellt, eigentlich ein efferenter Neurotransmitter.

Einer der wichtigen efferenten Neurotransmitter ist das Acetylcholin, man diskutiert auch CGRP und GABA. Es gibt um die 500 efferente und zwischen      10 000 und 15 000 afferente Nervenfasern bei den Säugetieren. Bei der Cochlea tritt nach Scholtz eine Hemmung der afferenten Aktivität auf, nicht aber beim vestibulären System. Problematisch sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Spezies und die unterschiedlichen Strukturen im peripheren Endorgan. Bei den Fischen und Säugetieren kommt es bei einer efferenten Erregung zu einer Stimulation der Afferenzen, bei den Fröschen und Schildkröten treten Hemmung und Stimulation auf. Auch das Acetylcholin kann man nicht immer feststellen - hier behilft man sich damit, dass man einmal auf das synthetisierende Enzym ChAT (Cholinacetyltransferase) eingeht, oder auf die Acetylcholinesterase, das abbauende Enyzm. Auch hier gibt es zwei Rezeptoren (nikotinerg und muskarinerg) mit unterschiedlichen Funktionen, der muskarine ist für die langsamen efferenten Wirkungen zuständig. Die nikotinergen Rezeptoren setzen direkt am Ionenkanal an, dort werden durch eine Stimulation im Bereich der Efferenzen Erregung und Hemmung in den Afferenzen ausgelöst. Immunhistochemische Untersuchungen mit ChAT am Menschen zeigen an den Haarzelltypen 1 und auch gelegentlich am Haarzelltyp 2 positive Immunantworten. Am vestibulären Haarzelltyp 1 ist ChAT ein Haupttransmitter, man findet es aber auch am Typ 2 - eine Bestätigung der tierexperimentellen Ergebnisse. Es gibt jedoch nicht nur cholinerge Nervenendigungen. Bei weiteren Untersuchungen hat sich auch das ATP als efferenter Neurotransmitter gezeigt - ATP und Acetylcholin finden sich in den gleichen Neuronen und synaptischen Vesikeln. ATP wirkt dabei sowohl direkt als auch über das so genannte "Second messenger"-System.

Elektrophysiologische und morphologische Untersuchungen dürfen nicht gleichgesetzt werden. Untersuchungen der Innsbrucker Arbeitsgruppe konnten GABA nicht als afferenten, aber sehr wohl als efferenten Neurotransmitter feststellen. Andere Arbeitsgruppen konnten dies bestätigen. Vor allem an den Haarzellen vom Typ 1 - selten auch am Typ 2 - sieht man positive Immunantworten.

Auch bei CGRP gibt es Differenzen zwischen den Ergebnissen am Tier und denen am Menschen. Der Wirkungsmechanismus ist ebenfalls noch nicht ganz klar, wahrscheinlich findet auch hier nur eine Modulation und kein direkter Angriff am Rezeptor statt.

Sicher im zentralvestibulären System nachweisbar sind die Enkephaline und diese müssten dann, so Scholtz, eigentlich auch an den Endorganen nachweisbar sein. Auch hier fand sich eine Einwirkung auf die Acetylcholin-Rezeptoren, Die Arbeitsgruppe von Scholtz konnte aber in allen Endorganen keine entsprechenden Andockpunkte finden, offensichtlich spielen die Enkephaline also dort keine Rolle.

Ziel all dieser Untersuchungen ist natürlich nicht zuletzt die Entwicklung sehr gezielter Eingriffsmöglichkeiten am Endorgan. Die Situation ist aber noch sehr verwirrend, weitere Aufschlüsse könnten Zellmodelle geben, an denen derzeit gearbeitet wird.

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Veränderungen im Kortex nach Läsionen

Neben den etablierten Verfahren wie PET, SPECT, EEG steht seit Anfang der 90er Jahre auch die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) zur Messung funktioneller Parameter des Kortex zur Verfügung. Hiermit können Areale mit kortikalen Reaktionen auf externe Reize leicht den entsprechenden anatomischen Strukturen zugeordnet werden - mittlerweile sogar ohne Einsatz von Kontrastmitteln. Im Vergleich mit PET hat die fMRI eine bessere räumliche und zeitliche Auflösung. Mit PET und fMRI konnte in den letzten Jahren die kortikale Repräsentation von vestibulären und okulomotorischen Arealen bei gesunden Probanden charakterisiert werden, erklärte Prof. Marianne Dieterich aus der Neurologischen Klinik der Universität Mainz. Dabei zeigte sich, dass vestibuläre Informationen in einem Netzwerk von kortikalen und subkortikalen Arealen beider Hemisphären verarbeitet werden, das vor allem im temporo-parieto-insulären Kortex liegt.

Drei Faktoren bestimmen das Aktivierungsmuster:

  • die Dominanz der nicht-dominanten Hemisphäre (rechts bei Rechtshändern, links bei Linkshändern)

  • die Seite des stimulierten Vestibularapparates und

  • die Richtung des ausgelösten vestibulären Nystagmus.

Die Aktivierungen waren stärker bei Rechtshändern in der rechten Hemisphäre, in der Hemisphäre ipsilateral zum stimulierten Ohr und ipsilateral der langsamen Nystagmusphase. Neben den Aktivierungen in temporo-parieto-insulären Kortexarealen fanden sich auch Deaktivierungen in Arealen des visuellen und somatosensorischen Kortex - Zeichen für eine hemmenden Interaktion zwischen dem vestibulären und dem visuellen System.

Bei Erkrankungen im peripheren und zentralen vestibulären System, wie am Beispiel einer einseitigen Neuritis vestibularis, einer bilateralen Vestibulopathie, einem medullären Hirnstamminfarkt im Vestibulariskern und einem Thalamusinfarkt gezeigt, ist dieses normale Aktivierungs-Deaktivierungsmuster deutlich verändert und dies wird in den PET- und fMRI-Untersuchungen deutlich sichtbar.

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Zelltod und Regeneration von Sinneszellen

Das Innenohr teilt sich in drei Bereiche, die Cochlea mit dem Corti-Organ, das Bogengangssystem mit der Crista sowie Sacculus und Utriculus. In allen drei Bereichen finden sich Haarzellen und so genannte "Supporting-Zellen", letztere sind für die Regeneration wichtig. Die Anzahl der Sinneszellen bei den Säugetieren ist begrenzt, der Zelltod und die Möglichkeiten, diesen positiv zu beeinflussen, sind deshalb von hohem Forschungsinteresse, erklärte Dr. Birgit Mazurek aus dem Tinnnituszentrum der Charité in Berlin. Von den zwei Arten des Zelltodes (Apoptose und Nekrose) - beide kommen im Innenohr vor - kann man therapeutisch nur auf die Apoptose einwirken. In der frühen Phase des Zelltodes bilden sich Radikale und Transskriptionsfaktoren wie cJun und es wird Kalzium freigesetzt. Ansatzpunkte für die Therapie sind hier also der Einsatz von Antioxidantien oder die Blockierung von cJun. In der späten Phase des Zelltodes kommt es zu Veränderungen in der Cytochrom-C-Freisetzung, zu Bax- und Caspasenaktivierung. Therapieansatz hier ist die Hochregulation von antiapoptotischen Faktoren.

Nach einer Ischämie sterben die Haarzellen in der Cochlea sowohl über einen apoptotischen als auch über einen nekrotischen Prozess ab. Dieser Prozess konnte durch den Einsatz von Wachstumsfaktoren wie humanem rhEPO oder rhlGF1 sowohl im nekrotischen als auch im apoptotischen Bereich reduziert werden - nach Mazurek ein deutlicher Hinweis darauf, dass bei Beginn des Zelltodes Apoptose und Nekrose einen gemeinsamen Pathomechanismus haben. Die Haarzellregeneration nach Schädigung erfolgt durch Proliferation, Differenzierung, Reifung und funktionelle Erholung. Zum Ziel könnten verschiedene Wege führen: Mitose aus Supporting-Zellen, Konversion ohne Mitose, Stammzellen oder Vorläuferzellen, Zellreparatur - und in allen Bereichen gibt es noch viel Forschungsbedarf und viele offene Fragen.

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Derzeitiger Stand der medikamentösen Therapie des M. Menière

Bei der Menièreschen Erkrankung unterscheidet man nach Priv.-Doz. A. Hahn aus der HNO-Klinik der Karls-Universität in Prag das akute Stadium mit dem eigentlichen Anfall, der sehr dramatisch verlaufen kann und mit Drehschwindel, Hörverminderung, Ohrgeräuschen und einem Druckgefühl im Ohr einhergeht, und das anfallsfreie Intervall.

Im akuten Anfall werden vor allem sedierende, meist parenteral verabreichte Arzneimittel eingesetzt (z.B. Thiethylperazin). Auch ein Kortisonbolus (300-400 mg) und Anxiolytika sind hilfreich. Die stationäre Aufnahme ist nur in schweren Fällen erforderlich. Bei Patienten mit einer ausgeprägten vegetativen Symptomatik und häufigem Erbrechen muss auf einen ausreichenden (parenteralen) Flüssigkeitsersatz geachtet werden.

Im chronischen Stadium muss eine Vertigo- und Tinnituskontrolle mit dem Ziel einer verbesserten Labyrinthperfusion und dem Schutz der Haarzellen, sowie einer Reduzierung der Anfallsfrequenz und einer Symptomlinderung stattfinden. In dieser Phase haben sich Wirkstoffe wie Betahistin und eine Kombination aus Dimenhydrinat und Cinnarizin (Arlevert®) bewährt, deren Anwendung auch über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgen kann. Gute Erfahrungen hat man in Prag auch mit einem so genannten "Intra Ear Catheter" (IEC) gemacht, über den Kortikoide und Gentamycin appliziert werden können. In einer kleinen Gruppe von zehn Patienten kam es hier bei 50 % zu einer dauerhaften Verbesserung von Tinnitus, Hörverminderung und Schwindel.

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Attackenschwindel und Kopfschmerz bei Migräne

Der Migräneschwindel gilt heute nach Prof. Th. Lempert aus der Klinik für Neurologie an der Schlosspark-Klinik in Berlin als eine der häufigsten Ursachen für spontane und rezidivierende Schwindelattacken. Bei Migränepatienten liegt die Häufigkeit des Drehschwindels nach Studien zwischen 24 % und 27 %, bei Patienten mit Spannungskopfschmerz bei etwa 8 %. Neuhauser et al. fanden in einer Studie 2001 bei Schwindelpatienten 38 % mit Migräne. Insgesamt kann man die Häufigkeit von Migräneschwindel in der Gesamtbevölkerung auf etwa 1 % ansetzen, in Schwindelambulanzen bei etwa 10 %, meinte Lempert. Für die Diagnose "Migräneschwindel" gibt es sichere Kriterien (Tab. [1]). Das Auftreten aller Symptome ist jedoch nicht obligat, auch fehlen oft während der Attacken die Kopfschmerzen. Die Attackendauer variiert dabei von Minuten bis zu mehrere Tage (10 % Sekunden und je etwa 30 % Minuten, Stunden oder gar Tage). Im Intervall sind die klinischen und apparativen Untersuchungsbefunde oft unauffällig, während der akuten Attacke wird häufig ein zentraler Spontannystagmus (vertikal oder torsional) oder ein Lagenystagmus beobachtet (anhaltend, jede Schlagebene ist möglich, häufig erfolgt je nach Kopfposition auch ein Richtungswechsel). Periphere Störungen im Sinn einer einseitigen Unterfunktion mit Spontannystagmus treten seltener auf. Zur Behandlung des Migräneschwindels gibt es bislang nur vorläufige Empfehlungen (Tab. [2]).

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Tab. 1 Sicherer Migräneschwindel

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Tab. 2 Behandlung des Migräneschwindels: Vorläufige Empfehlungen (EL IV)

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Wie wirkt Cinnarizin auf die Haarzellen?

Über den Effekt von Cinnarizin auf die isolierten utrikulären Haarzellen des Meerschweinchens berichtete Dr. T.A. Duong-Dinh aus der HNO-Klinik der RWTH Aachen. Für das vollständige Verständnis der Pathophysiologie des M. Menière sind Untersuchungen an der vestibulären Haarzelle seiner Auffassung nach unerlässlich, denn hier treten Veränderungen physiologischer Vorgänge auf, die durch Pharmaka wie Cinnarizin beeinflusst werden können. Neben seiner Eigenschaft als Kalziumantagonist hat Cinnarizin auch eine Wirkung auf den kalziumabhängigen Kaliumauswärtsstrom, der für die Repolarisation der vestibulären Haarzelle verantwortlich ist. Es hebt hier die Drucksensitivität auf, die beim endolymphatischen Hydrops eine entscheidende Funktion haben könnte. Außerdem beeinflusst es die Transmitterausschüttung und unterbindet damit die Signalweiterleitung an der vestibulären Haarzelle. Auch auf die große Familie der TRP-Kanäle, die bei vielen physiologischen Vorgängen eine entscheidende Rolle spielen - und hier vor allem auf den TRPA 1-Kanal - hat Cinnarizin einen Einfluss. Die hier gezeigten Wirkungen bestätigen nicht nur den Einsatz von Cinnarizin beim M. Menière, erklärt Duong-Dinh, sondern ermöglichen auch neue Therapieansätze für eine lokale Applikation dieses Medikaments.

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Migräneschwindel: Fazit für die Praxis

Immer daran denken: Migräne ist die häufigste Ursache für rezidivierende Schwindelattacken!

Deshalb: Schwindelpatienten nach Migräne und nach Migränesymptomen während der Attacken fragen

Achtung, viele Migränepatienten haben andere Schwindelerkrankungen!

Ein Behandlungsversuch lohnt sich: Spezifisch mit Triptanen oder als Migräneprophylaxe, unspezifisch mit Antivertiginosa in der Attacke

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Sekundärer somatoformer Schwindel

Der somatoforme Schwindel tritt einmal als primärer somatoformer Schwindel ohne organische Vorerkrankung und ohne organische Ursache auf und einmal als sekundärer somatoformer Schwindel als Folge organischer Schwindelerkrankungen, erklärte Frau Priv.-Doz. Annegret Eckhardt-Henn vom Bürgerhospital in Stuttgart. Etwa 30 % aller komplexen Schwindelsyndrome sind somatoforme Schwindelerkrankungen (in Spezialambulanzen bis zu 50 %) und bei ca. 20-30 % aller Patienten mit organischen Schwindelsyndromen entwickelt sich in der Folge ein sekundärer somatoformer Schwindel. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen eine organische und eine somatoforme Erkrankung zusammen auftreten.

Patienten mit somatoformem Schwindel berichten eine längere Beschwerdedauer als Patienten mit organischem Schwindel, sie haben deutlich mehr Arbeitsausfälle und in der Regel sind mehr Fachgruppen involviert (solche Patienten werden gerne "weitergeschoben", meinte Eckhardt-Henn). Auch Patienten mit sekundärem somatoformem Schwindel werden häufig über Wochen und Monate - erfolglos - unter der Diagnose "organischer Restzustand" nach einer organischen Erkrankung symptomatisch, z.B. mit chiropraktischen Maßnahmen, Schwindeltraining etc. behandelt. Gar nicht selten sind diese Patienten auch auf eine ausschließlich organische Ursache ihrer Beschwerden fixiert.

In einer Studie von Yardley et al. (1998) fühlten sich von 480 befragten Schwindelpatienten 225 nennenswert in ihren Alltagsaktivitäten beeinträchtigt - aber nur jeder vierte Patient erhielt eine Therapie. Und bei fast jedem dritten Patienten (30 %) dauerte der Schwindel schon länger als fünf Jahre an. Dabei leiden Patienten mit somatoformem Schwindel unter einer signifikant stärkeren Beeinträchtigung ihrer Alltagsaktivitäten und empfinden eine höhere Symptomschwere und -angst als Patienten mit organischen Schwindelerkrankungen. Der organische Schwindel dient beim somatoformen Schwindel als Angstauslöser und die Qualität der Schwindelerkrankung hat offenbar einen Einfluss auf die spätere Symptombildung.

Besonders gefährdet in Bezug auf die Entwicklung eines späteren sekundären somatoformen Schwindels sind Patienten mit M. Menière und solche mit vestibulärer Migräne. Möglicherweise spielt die Unkontrollierbarkeit der Attacken und die subjektiv empfundene Qualität der Attacken eine besondere Rolle vor allem für die spätere Entwicklung einer phobischen Störung. Im Verlauf der Erkrankung kommt es oft zu einem Wechsel der Schwindelqualität, z.B. vom Drehschwindel zum Schwankschwindel oder diffusen Benommenheitsschwindel. Die durch die Läsion bedingten Symptome dienen quasi als "Modell" für die nachfolgende Symptombildung. Häufiger werden Schwankschwindel-Symptome und Dauerschwindel beschrieben, es treten aber auch Drehschwindelattacken mit vegetativen Symptomen wie Übelkeit, Brechreiz, Schweißausbrüchen, Angst vor Ohnmacht, Benommenheitsgefühlen etc. auf.

Den sekundären somatoformen Schwindelsyndromen liegen am häufigsten Angststörungen und phobische Störungen zugrunde, gefolgt von depressiven, dissoziativen und den i.e.S. somatoformen Störungen. Patienten mit Angst- und phobischen Störungen zeigen die typischen Symptome wie nächtliches Erwachen mit Schwindel und reaktiv empfundener Angst bis hin zu Panik und Todesangst, Tachykardie-Anfällen, Erstickungsgefühlen, Angst vor Ohnmacht, Schweißausbrüchen, Übelkeit, Harndrang, Durchfällen, psychomotorischer Unruhe, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Bei den phobischen Störungen werden die Schwindelattacken häufig situativ ausgelöst (Warteschlangen, enge Räume etc.), dies führt zur Vermeidung solcher Situationen und in der Folge zu einer enormen Beeinträchtigung des Alltags- und Berufslebens dieser Patienten. Meist werden die Beschwerden - auch bei depressiven Reaktionen - auf die Schwindelerkrankung zurückgeführt.

Grundsätzlich sollte deshalb frühzeitig differentialdiagnostisch an den "somatoformen Schwindel" gedacht und entsprechende psychosomatische Diagnostik und ggf. eine entsprechende psychotherapeutische und/oder psychopharmakologische Therapie eingeleitet werden.

Günther Buck

 
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Tab. 1 Sicherer Migräneschwindel

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Tab. 2 Behandlung des Migräneschwindels: Vorläufige Empfehlungen (EL IV)