Kongresspräsident Prof. Dr. med. Wolfgang F. Beyer
Sehr verehrte Festgäste, liebe Kolleginnen und Kollegen,
welche Motive bewegen einen, die Präsidentschaft eines der größten Orthopädenkongresse
zu übernehmen? Vielleicht kann man das am besten an den Kongressthemen erkennen. Im
Brennpunkt stehen die konservative Orthopädie, die evidenzbasierte Medizin und - für
Orthopäden zumindest derzeit noch etwas fremd - die Kommunikation zwischen Arzt und
Patient. ...
Zunächst zur evidenzbasierten Medizin. Wir leben heute in einer Zeit mit einer Flut von Informationen, dies gilt gleichermaßen
für den Alltag als auch für unser Fachgebiet. In diesem für den einzelnen nicht mehr
überschaubaren Dschungel stellt die evidence-based medicine eine, wohlgemerkt eine
Möglichkeit dar, diese Datenflut zu bewältigen. Gewarnt werden muss an dieser Stelle
aber auch vor dem Irrglauben, dass ein ständiges mehr an Information automatisch zu
einer besseren Medizin führt. Diese Problematik gilt nicht nur für den Arzt, sondern
auch für den Patienten. Als Stichworte seien nur das Internet und die Medienlandschaft
genannt. Eine wie auch immer gestaltete Reduktion auf das Wesentliche ist sicher eine
der wichtigsten Zukunftsaufgaben der Medizin. Dies beginnt bei der studentischen Ausbildung,
setzt sich bei der ärztlichen Fort- und Weiterbildung fort und gilt genauso für die
verantwortungsvolle Information der Patienten.
Zur konservativen Orthopädie. Im Gegensatz zur operativen Orthopädie bestand von Anfang an ein stetiger Rechtfertigungsbedarf.
Dies ist bei genauer Betrachtungsweise schwer verständlich. Nach den Kriterien der
evidence-based medicine ist die Datenlage für viele, um nicht zu sagen die meisten
Operationsverfahren ungenügend bzw. auf relativ niedrigem Evidenzlevel. Während die
operativ Tätigen von den Kostenträgern, den Medien und den Patienten relativ gering
bedrängt werden und auch über das nötige Selbstbewusstsein verfügen, werden auch
altbekannte (oder vielleicht gerade deshalb) konservative Therapien permanent hinterfragt
und zur Disposition gestellt. Dies hat viele Ursachen.
Zum einen ist die Grenze zum wellness-Bereich bisweilen fließend. So sind zum Beispiel
jahrzehntelang etablierte Therapieverfahren wie die Massage und die Fangopackung in
Misskredit geraten. Sätze wie "Fango - Tango" und "Urlaub - Kurlaub" machten die Runde.
Völlig unabhängig davon, dass diese Einstufung rein wissenschaftlich betrachtet nicht
aufrechterhalten werden kann, spiegelt diese Einschätzung auch eine Entwicklung der
Gesellschaft und damit auch unsere Faches wieder. So genannte aktive Therapieansätze
wurden hochgelobt und per se als wirksam bzw. zumindest als positiv bewertet. Dem
gegenüber wurden "passive" Therapieansätze bereits primär als negativ eingestuft und
allenfalls großzügig geduldet. Diese Einschätzung zeugt nicht nur von einem tiefen
Missverständnis der Prinzipien der physikalischen Therapie - sie ist in ihrem Selbstverständnis
reaktiv und keinesfalls passiv - sondern nahm z.T. fast einen ideologischen Charakter
an.
Ein weiteres Problem ist das der Messbarkeit und der so genannten Objektivierbarkeit
von therapeutischen Interventionen. Im operativen Bereich ist dies wiederum vergleichsweise
einfach. So kann nach einer Umstellungsosteotomie einfach und "Winkel" genau das Ausmaß
der Korrektur bestimmt werden. ...
Was hingegen ist bei konservativen Therapieverfahren messbar? Zum einen ist sicherlich
eine der wichtigsten, aber gleichzeitig auch nicht die alleinige Zielgröße der Schmerz.
Nur gibt es zur Objektivierung von Schmerz - mit Ausnahme weniger auf die Grundlagenforschung
beschränkten Messmethoden - keine anderen Möglichkeiten als die VAS und andere "Assessments"
bzw. Fragebögen, die allesamt auf den Angaben der Patienten beruhen und damit von
vielen als subjektiv und damit als wissenschaftlich "weich" angesehen werden. Genau
so subjektiv, und daran kann mittlerweile kein Zweifel mehr gehegt werden, ist aber
auch die Einschätzung von Schmerzen durch den Arzt bzw. Therapeuten. Klaus Gerdes
hat einmal etwas pointiert vorgetragen, dass die subjektive Betrachtungsweise des
Patienten den wichtigsten objektiven Zielparameter in der Medizin darstellt und deshalb
die Differenzierung von subjektiv und objektiv naturwissenschaftlich und historisch
verständlich ist, dem klinischen Alltag, der Realität und dem Patienten und der Medizin
insgesamt hingegen nicht gerecht wird.
Neben dem Schmerz gilt die Funktion als wichtigstes Zielkriterium. Zu Beginn meiner
medizinischen Laufbahn wurden hier relativ einfach messbare Parameter bestimmt, wie
etwa die Gelenkbeweglichkeit, die Gehstrecke und die Kraft. Zwar sind diese Zielgrößen
relativ genau und reproduzierbar zu messen, oftmals fehlt ihnen jedoch jede klinische
Relevanz. Während im operativen Bereich diese Variablen oftmals auch weiterhin dominieren,
hat sich im konservativen Bereich zunehmend eine etwas andere Sichtweise etabliert.
Hier steht zunehmend die Erfassung der Lebensqualität im Mittelpunkt des Interesses.
So sehr aus meiner Sicht diese Entwicklung grundsätzlich zu begrüßen ist, so weist
sie auch sehr bedenkliche Züge auf. Anglizismen und abstrakte Begriffe wie Partizipation
und Teilhabe, handicap und disability greifen um sich und werden von vielen, auch
von mir, vielleicht noch "linkshirnig" verstanden, aber nicht richtig "gefühlt bzw.
gelebt". ...
Das mit Sicherheit größte Problem stellen die ungenügenden bzw. fehlenden Forschungsstrukturen
im Bereich der konservativen Orthopädie dar. Dies hat finanzielle, strukturelle und
berufs- bzw. gesundheitspolitische Ursachen. Mit Ausnahme der medikamentösen Therapie
stehen dem konservativen Bereich - im Gegensatz zur operativen Therapie - kaum finanzielle
Ressourcen zur Verfügung. Für Forschung im Bereich Physikalische Therapie, Physiotherapie,
Ergotherapie etc. stehen keinerlei potentielle Geldgeber parat.
An den meisten Universitätskliniken ist sie, wenn überhaupt, nur marginal oder auf
dem Papier präsent. Dieses Problem wird sich nach meiner Einschätzung nach der Fusion
mit der Traumatologie noch mehr verschärfen. An den Kliniken und Institutionen, in
denen überwiegend konservativ behandelt wird (Praxen und Rehabilitationseinrichtungen)
ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein Geld, kein wissenschaftlich geschultes
und kompetentes Personal und keine entsprechende Infrastruktur vorhanden. In vielen
anderen Ländern wird dieses Problem dahingehend gelöst, dass andere Professionen wie
beispielsweise Physiotherapeuten sich akademisieren und diesen Part übernehmen, eine
Entwicklung, die sich auch in Deutschland zunehmend abzeichnet. Hier ist - wiederum
aus meiner Sicht - eine klare berufspolitische Entscheidung von Nöten. Man kann diese
Entwicklung im Sinne der wissenschaftlichen Stärkung der konservativen Therapie für
richtig halten und unterstützen, man kann aber auch der Meinung sein, dass alle Elemente
der konservativen Therapie unter dem Dach der Orthopädie oder ganz allgemein der Medizin
angesiedelt werden sollen. Im Klartext bedeutet dies’ eine Entscheidung zwischen einer
fachhochschulangebundenen Ausbildung der Physiotherapie einerseits und einer an den
medizinischen Fakultäten angesiedelten Fortbildung speziell interessierter Physiotherapeuten
andererseits. Es verwundert mich etwas, dass dieses von den Physiotherapeuten intensiv
diskutierte und für die konservative Orthopädie folgenschwere Thema von Seiten der
Orthopädie bislang nicht entsprechend angesprochen bzw. berufspolitisch aufgearbeitet
wurde bzw. wird.
"Zu den wichtigsten Krankheitsursachen gehört der Arztbesuch." Gerhard Kocher, Schweizer Politologe
Zum Thema Kommunikation und Interaktion Arzt - Patient. Wir müssen registrieren und akzeptieren, dass die Therapieziele und -erwartungen
von Patienten, Kostenträgern, Politikern und den so genannten Leistungserbringern
sich ganz erheblich unterscheiden können. Unsere Sicht der Dinge ist nicht per se
objektiv oder gar richtig. Wir wissen durch viele Untersuchungen, dass gerade die
Erwartungshaltung der Patienten das Therapieergebnis zum Teil stärker beeinflusst
als unsere Therapie. Dem müssen wir Rechnung tragen, auch wenn uns die Einstellung
der Patienten noch so naiv oder lächerlich vorkommt. Die Einbeziehung der Sichtweise
des Patienten in unser Therapiekonzept stellt einen ganz erheblichen unspezifischen
Therapieeffekt dar. Diesen zu vernachlässigen kann den spezifischen Therapieeffekt
völlig neutralisieren bzw. aufheben. Dies bedeutet nicht, dass wir auf nachweislich
wirksame Therapieverfahren verzichten sollen und uns nur dem Willen und den Vorstellungen
des Patienten unterwerfen sollen. Dies bedeutet aber auch, dass ausschließlich leitliniengerechte
oder standardisierte Medizin immer an ihre Grenzen stoßen wird und muss.
Was hat mich vor gut fünfundzwanzig Jahren bewegt, das Fach Orthopädie zu wählen.
Zum einen war es das funktionelle Denken, nicht die Struktur sondern die Funktion
steht im Mittelpunkt des Interesses. Bewegung und Dynamik statt Statik. Zum anderen
war es die langfristige Betrachtungsweise, die mich zum Orthopäden und nicht zum Traumatologen
werden ließ. Nicht die kurzfristigen Ergebnisse sondern die Nachhaltigkeit und damit
auch die langfristige Arzt-Patientenbeziehung, oftmals ein Leben lang, faszinierten
mich und stellen auch heute noch das wesentliche Element unseres Faches dar. Um mit
Hallhuber zu sprechen: Feuerwehrmentalität versus Gärtnermentalität. Doch was ist
aus unserem wunderschönen Fach geworden?
Zum einen ist es zu einer enormen Arbeitsverdichtung gekommen. Immer mehr Patienten
mit immer kürzeren Liegezeiten machen die oben angesprochene und so wichtige Interaktion
Arzt - Patient oftmals zu einer Farce. Die jungen Assistenzärzte sind an der Grenze
ihrer Belastung; Unzufriedenheit und Frustration sind eher die Norm als die Ausnahme.
Primär gut gemeinte "Verbesserungen", wie die Neuregelung der Nacht- und Bereitschaftsdienste
werden unabhängig von der Struktur der einzelnen Klinik und den Wünschen der betroffenen
Ärzte flächendeckend umgesetzt und führen zu Unzufriedenheit bei Arzt und Patient.
Nicht dass ich falsch verstanden werde, es gibt durchaus Kliniken und Bereiche, in
denen diese Regelungen sinnvoll sind und sowohl für Arzt als auch für Patient eine
Verbesserung darstellen. Es gibt aber auch Situationen, in denen gerade das Gegenteil
resultiert. Die leitenden Ärzte werden zwar für die Umsetzung verantwortlich gemacht,
erhalten aber keinerlei Mittel hierfür. Sie bekommen den Missmut und die Unzufriedenheit
sowohl ihrer Assistenz- und Oberärzte als auch der Patienten zu spüren, übertarifliches
Gehalt, so sie es denn erhalten, wird zu Schmerzensgeld.
Dokumentation und Qualitätsmanagment, beides ebenfalls unbestritten, aber wichtige Elemente ärztlicher Tätigkeit, haben
sich verselbständigt. Zehnseitige Arztbriefe, die niemand (mit Ausnahme des QM-Beauftragten
bzw. des peer) mehr liest bzw. auch nur lesen kann, dienen angeblich dem Nachweis
der Qualität einer Klinik. Ob es hierdurch tatsächlich und messbar zu einer besseren
Patientenbetreuung gekommen ist, wage ich zu bezweifeln. Mit Sicherheit ist es jedoch
zu einer Ausweitung und Verbesserung von Textbausteinen gekommen. Ärzte und Pflegekräfte
verbringen teilweise mehr Zeit mit der Dokumentation als mit dem Patienten, eine Tätigkeit,
die wie manche diagnostische Leistung oftmals nur der juristischen Absicherung dient.
An dieser Entwicklung sind, und dies sollte auch vermehrt kommuniziert werden, aber
nicht nur die Kostenträger und die Politiker schuld, sondern auch die Patienten mit
ihrer bisweilen übertriebenen Erwartungshaltung. Vieles in diesem Bereich erinnert
mich auch an das Märchen "Des Kaisers neue Kleider".
Aber nicht nur die Bürokratie hat übertrieben bzw. ein Prinzip zu Tode geritten, sondern
auch wir Orthopäden. Sicherlich sind Bewegung, Dynamik und Funktion zentrale Inhalte
der Orthopädie. Analog zu Zeitgeist (schneller, weiter, Stillstand heißt Rückschritt
etc.) haben wir diese Prinzipien aber auch zum Mythos stilisiert bzw. über Genüge
polarisiert. Aktive Therapie ist in, passive Therapieverfahren sind nicht nur out,
sondern mit dem Rubrum des Sozialschmarotzers versehen. Mit dieser Betrachtungsweise
haben wir, wiederum in meiner Wahrnehmung und Einschätzung, nicht nur das System Mensch
dauerhaft überfordert, sondern auch die "gute alte" klinische Erfahrung zum Teil über
Bord geworfen. So haben wir uns z.T. über Patienten, die nach Massagen nachfragten,
lächerlich gemacht oder z.T. noch extremer, Ihnen fehlende Compliance unterstellt.
Der aktive Patient war der gute und motivierte Patient. Solch eine Polarisierung ist
jedoch unsinnig. Ruhe und Bewegung sind eben keine Gegensätze sondern sich sinnvoll
ergänzende Elemente. ...
Zur Zukunft unseres Faches. Viele unserer Kollegen sind tief besorgt, ob die konservative Orthopädie nach der
Fusion weiterleben wird und kann, oder aber ob sie sich unter einem anderen Dach ansiedeln
muss. Dies hängt nach meiner Auffassung ganz entscheidend vom Verständnis und Verhalten
der operativ tätigen Kollegen ab. Sicherlich ist eine zunehmende Spezialisierung unumgänglich.
Eine Beschränkung auf das rein operative hingegen wäre fatal. Das operative Vorgehen
und Geschick sind nicht zu unterschätzen, stellen jedoch nur einen Teil ärztlicher
Kunst dar. In einigen Ländern und chirurgischen Teilgebieten wird dies bereits heute
zum Teil auf nichtärztliches Personal - Operationsassistenten - delegiert und übertragen.
Das wichtigste ist und bleibt jedoch die Operationsindikation. Diese kann jedoch nur
dann verantwortungsvoll und kompetent gestellt werden, wenn man auch entsprechende
Alternativen und damit auch konservative Therapien kennt und kennen gelernt hat. Wer
keine konservative Ausbildung absolviert hat bzw. diese nur auf dem Papier bestätigt
bekommen hat, kann in meinem Weltbild in der Orthopädie keine richtige Operationsindikation
stellen. Wer den Patienten nicht ganzheitlich wahr- und annimmt, wer nicht bereit
ist den Patienten ein Leben lang zu begleiten, mag ein guter Operationsassistent mit
akademischem Grad sein, ein Orthopäde wird er nie. Die Konsequenz, und damit schließe
ich, kann auch hier nicht die Polarisation operativ oder konservativ sein, es gibt
nur ein operativ und konservativ.
"Es gibt inzwischen Menschen, die leben überhaupt nicht mehr, die leben nur noch vorbeugend
und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt ist definitiv tot." Manfred Lütz