Z Orthop Unfall 2007; 145(3): 265-267
DOI: 10.1055/s-2007-982622
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

55. Jahrestagung der VSO e.V. im April 2007 in Baden-Baden - Im Brennpunkt: Konservative Orthopädie nach der Fusion von Orthopädie und Unfallchirurgie

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03 July 2007 (online)

 
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    Evidence-based medicine, Objektivierbarkeit der therapeutischen Interventionen und ungenügende bzw. fehlende Forschungsstrukturen sind wesentliche Probleme der konservativen Orthopädie. Der Kongresspräsident, Prof. Dr. med. Wolfgang F. Beyer, geht in seiner Ansprache darauf ein und erläutert seine Sicht der Zukunftsperspektiven nach der Fusion von Orthopädie und Unfallchirurgie.

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    Kongresspräsident Prof. Dr. med. Wolfgang F. Beyer

    Sehr verehrte Festgäste, liebe Kolleginnen und Kollegen,

    welche Motive bewegen einen, die Präsidentschaft eines der größten Orthopädenkongresse zu übernehmen? Vielleicht kann man das am besten an den Kongressthemen erkennen. Im Brennpunkt stehen die konservative Orthopädie, die evidenzbasierte Medizin und - für Orthopäden zumindest derzeit noch etwas fremd - die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. ...

    Zunächst zur evidenzbasierten Medizin. Wir leben heute in einer Zeit mit einer Flut von Informationen, dies gilt gleichermaßen für den Alltag als auch für unser Fachgebiet. In diesem für den einzelnen nicht mehr überschaubaren Dschungel stellt die evidence-based medicine eine, wohlgemerkt eine Möglichkeit dar, diese Datenflut zu bewältigen. Gewarnt werden muss an dieser Stelle aber auch vor dem Irrglauben, dass ein ständiges mehr an Information automatisch zu einer besseren Medizin führt. Diese Problematik gilt nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Patienten. Als Stichworte seien nur das Internet und die Medienlandschaft genannt. Eine wie auch immer gestaltete Reduktion auf das Wesentliche ist sicher eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben der Medizin. Dies beginnt bei der studentischen Ausbildung, setzt sich bei der ärztlichen Fort- und Weiterbildung fort und gilt genauso für die verantwortungsvolle Information der Patienten.

    Zur konservativen Orthopädie. Im Gegensatz zur operativen Orthopädie bestand von Anfang an ein stetiger Rechtfertigungsbedarf. Dies ist bei genauer Betrachtungsweise schwer verständlich. Nach den Kriterien der evidence-based medicine ist die Datenlage für viele, um nicht zu sagen die meisten Operationsverfahren ungenügend bzw. auf relativ niedrigem Evidenzlevel. Während die operativ Tätigen von den Kostenträgern, den Medien und den Patienten relativ gering bedrängt werden und auch über das nötige Selbstbewusstsein verfügen, werden auch altbekannte (oder vielleicht gerade deshalb) konservative Therapien permanent hinterfragt und zur Disposition gestellt. Dies hat viele Ursachen.

    Zum einen ist die Grenze zum wellness-Bereich bisweilen fließend. So sind zum Beispiel jahrzehntelang etablierte Therapieverfahren wie die Massage und die Fangopackung in Misskredit geraten. Sätze wie "Fango - Tango" und "Urlaub - Kurlaub" machten die Runde. Völlig unabhängig davon, dass diese Einstufung rein wissenschaftlich betrachtet nicht aufrechterhalten werden kann, spiegelt diese Einschätzung auch eine Entwicklung der Gesellschaft und damit auch unsere Faches wieder. So genannte aktive Therapieansätze wurden hochgelobt und per se als wirksam bzw. zumindest als positiv bewertet. Dem gegenüber wurden "passive" Therapieansätze bereits primär als negativ eingestuft und allenfalls großzügig geduldet. Diese Einschätzung zeugt nicht nur von einem tiefen Missverständnis der Prinzipien der physikalischen Therapie - sie ist in ihrem Selbstverständnis reaktiv und keinesfalls passiv - sondern nahm z.T. fast einen ideologischen Charakter an.

    Ein weiteres Problem ist das der Messbarkeit und der so genannten Objektivierbarkeit von therapeutischen Interventionen. Im operativen Bereich ist dies wiederum vergleichsweise einfach. So kann nach einer Umstellungsosteotomie einfach und "Winkel" genau das Ausmaß der Korrektur bestimmt werden. ...

    Was hingegen ist bei konservativen Therapieverfahren messbar? Zum einen ist sicherlich eine der wichtigsten, aber gleichzeitig auch nicht die alleinige Zielgröße der Schmerz. Nur gibt es zur Objektivierung von Schmerz - mit Ausnahme weniger auf die Grundlagenforschung beschränkten Messmethoden - keine anderen Möglichkeiten als die VAS und andere "Assessments" bzw. Fragebögen, die allesamt auf den Angaben der Patienten beruhen und damit von vielen als subjektiv und damit als wissenschaftlich "weich" angesehen werden. Genau so subjektiv, und daran kann mittlerweile kein Zweifel mehr gehegt werden, ist aber auch die Einschätzung von Schmerzen durch den Arzt bzw. Therapeuten. Klaus Gerdes hat einmal etwas pointiert vorgetragen, dass die subjektive Betrachtungsweise des Patienten den wichtigsten objektiven Zielparameter in der Medizin darstellt und deshalb die Differenzierung von subjektiv und objektiv naturwissenschaftlich und historisch verständlich ist, dem klinischen Alltag, der Realität und dem Patienten und der Medizin insgesamt hingegen nicht gerecht wird.

    Neben dem Schmerz gilt die Funktion als wichtigstes Zielkriterium. Zu Beginn meiner medizinischen Laufbahn wurden hier relativ einfach messbare Parameter bestimmt, wie etwa die Gelenkbeweglichkeit, die Gehstrecke und die Kraft. Zwar sind diese Zielgrößen relativ genau und reproduzierbar zu messen, oftmals fehlt ihnen jedoch jede klinische Relevanz. Während im operativen Bereich diese Variablen oftmals auch weiterhin dominieren, hat sich im konservativen Bereich zunehmend eine etwas andere Sichtweise etabliert. Hier steht zunehmend die Erfassung der Lebensqualität im Mittelpunkt des Interesses. So sehr aus meiner Sicht diese Entwicklung grundsätzlich zu begrüßen ist, so weist sie auch sehr bedenkliche Züge auf. Anglizismen und abstrakte Begriffe wie Partizipation und Teilhabe, handicap und disability greifen um sich und werden von vielen, auch von mir, vielleicht noch "linkshirnig" verstanden, aber nicht richtig "gefühlt bzw. gelebt". ...

    Das mit Sicherheit größte Problem stellen die ungenügenden bzw. fehlenden Forschungsstrukturen im Bereich der konservativen Orthopädie dar. Dies hat finanzielle, strukturelle und berufs- bzw. gesundheitspolitische Ursachen. Mit Ausnahme der medikamentösen Therapie stehen dem konservativen Bereich - im Gegensatz zur operativen Therapie - kaum finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Für Forschung im Bereich Physikalische Therapie, Physiotherapie, Ergotherapie etc. stehen keinerlei potentielle Geldgeber parat.

    An den meisten Universitätskliniken ist sie, wenn überhaupt, nur marginal oder auf dem Papier präsent. Dieses Problem wird sich nach meiner Einschätzung nach der Fusion mit der Traumatologie noch mehr verschärfen. An den Kliniken und Institutionen, in denen überwiegend konservativ behandelt wird (Praxen und Rehabilitationseinrichtungen) ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein Geld, kein wissenschaftlich geschultes und kompetentes Personal und keine entsprechende Infrastruktur vorhanden. In vielen anderen Ländern wird dieses Problem dahingehend gelöst, dass andere Professionen wie beispielsweise Physiotherapeuten sich akademisieren und diesen Part übernehmen, eine Entwicklung, die sich auch in Deutschland zunehmend abzeichnet. Hier ist - wiederum aus meiner Sicht - eine klare berufspolitische Entscheidung von Nöten. Man kann diese Entwicklung im Sinne der wissenschaftlichen Stärkung der konservativen Therapie für richtig halten und unterstützen, man kann aber auch der Meinung sein, dass alle Elemente der konservativen Therapie unter dem Dach der Orthopädie oder ganz allgemein der Medizin angesiedelt werden sollen. Im Klartext bedeutet dies’ eine Entscheidung zwischen einer fachhochschulangebundenen Ausbildung der Physiotherapie einerseits und einer an den medizinischen Fakultäten angesiedelten Fortbildung speziell interessierter Physiotherapeuten andererseits. Es verwundert mich etwas, dass dieses von den Physiotherapeuten intensiv diskutierte und für die konservative Orthopädie folgenschwere Thema von Seiten der Orthopädie bislang nicht entsprechend angesprochen bzw. berufspolitisch aufgearbeitet wurde bzw. wird.

    "Zu den wichtigsten Krankheitsursachen gehört der Arztbesuch." Gerhard Kocher, Schweizer Politologe

    Zum Thema Kommunikation und Interaktion Arzt - Patient. Wir müssen registrieren und akzeptieren, dass die Therapieziele und -erwartungen von Patienten, Kostenträgern, Politikern und den so genannten Leistungserbringern sich ganz erheblich unterscheiden können. Unsere Sicht der Dinge ist nicht per se objektiv oder gar richtig. Wir wissen durch viele Untersuchungen, dass gerade die Erwartungshaltung der Patienten das Therapieergebnis zum Teil stärker beeinflusst als unsere Therapie. Dem müssen wir Rechnung tragen, auch wenn uns die Einstellung der Patienten noch so naiv oder lächerlich vorkommt. Die Einbeziehung der Sichtweise des Patienten in unser Therapiekonzept stellt einen ganz erheblichen unspezifischen Therapieeffekt dar. Diesen zu vernachlässigen kann den spezifischen Therapieeffekt völlig neutralisieren bzw. aufheben. Dies bedeutet nicht, dass wir auf nachweislich wirksame Therapieverfahren verzichten sollen und uns nur dem Willen und den Vorstellungen des Patienten unterwerfen sollen. Dies bedeutet aber auch, dass ausschließlich leitliniengerechte oder standardisierte Medizin immer an ihre Grenzen stoßen wird und muss.

    Was hat mich vor gut fünfundzwanzig Jahren bewegt, das Fach Orthopädie zu wählen. Zum einen war es das funktionelle Denken, nicht die Struktur sondern die Funktion steht im Mittelpunkt des Interesses. Bewegung und Dynamik statt Statik. Zum anderen war es die langfristige Betrachtungsweise, die mich zum Orthopäden und nicht zum Traumatologen werden ließ. Nicht die kurzfristigen Ergebnisse sondern die Nachhaltigkeit und damit auch die langfristige Arzt-Patientenbeziehung, oftmals ein Leben lang, faszinierten mich und stellen auch heute noch das wesentliche Element unseres Faches dar. Um mit Hallhuber zu sprechen: Feuerwehrmentalität versus Gärtnermentalität. Doch was ist aus unserem wunderschönen Fach geworden?

    Zum einen ist es zu einer enormen Arbeitsverdichtung gekommen. Immer mehr Patienten mit immer kürzeren Liegezeiten machen die oben angesprochene und so wichtige Interaktion Arzt - Patient oftmals zu einer Farce. Die jungen Assistenzärzte sind an der Grenze ihrer Belastung; Unzufriedenheit und Frustration sind eher die Norm als die Ausnahme. Primär gut gemeinte "Verbesserungen", wie die Neuregelung der Nacht- und Bereitschaftsdienste werden unabhängig von der Struktur der einzelnen Klinik und den Wünschen der betroffenen Ärzte flächendeckend umgesetzt und führen zu Unzufriedenheit bei Arzt und Patient. Nicht dass ich falsch verstanden werde, es gibt durchaus Kliniken und Bereiche, in denen diese Regelungen sinnvoll sind und sowohl für Arzt als auch für Patient eine Verbesserung darstellen. Es gibt aber auch Situationen, in denen gerade das Gegenteil resultiert. Die leitenden Ärzte werden zwar für die Umsetzung verantwortlich gemacht, erhalten aber keinerlei Mittel hierfür. Sie bekommen den Missmut und die Unzufriedenheit sowohl ihrer Assistenz- und Oberärzte als auch der Patienten zu spüren, übertarifliches Gehalt, so sie es denn erhalten, wird zu Schmerzensgeld.

    Dokumentation und Qualitätsmanagment, beides ebenfalls unbestritten, aber wichtige Elemente ärztlicher Tätigkeit, haben sich verselbständigt. Zehnseitige Arztbriefe, die niemand (mit Ausnahme des QM-Beauftragten bzw. des peer) mehr liest bzw. auch nur lesen kann, dienen angeblich dem Nachweis der Qualität einer Klinik. Ob es hierdurch tatsächlich und messbar zu einer besseren Patientenbetreuung gekommen ist, wage ich zu bezweifeln. Mit Sicherheit ist es jedoch zu einer Ausweitung und Verbesserung von Textbausteinen gekommen. Ärzte und Pflegekräfte verbringen teilweise mehr Zeit mit der Dokumentation als mit dem Patienten, eine Tätigkeit, die wie manche diagnostische Leistung oftmals nur der juristischen Absicherung dient. An dieser Entwicklung sind, und dies sollte auch vermehrt kommuniziert werden, aber nicht nur die Kostenträger und die Politiker schuld, sondern auch die Patienten mit ihrer bisweilen übertriebenen Erwartungshaltung. Vieles in diesem Bereich erinnert mich auch an das Märchen "Des Kaisers neue Kleider".

    Aber nicht nur die Bürokratie hat übertrieben bzw. ein Prinzip zu Tode geritten, sondern auch wir Orthopäden. Sicherlich sind Bewegung, Dynamik und Funktion zentrale Inhalte der Orthopädie. Analog zu Zeitgeist (schneller, weiter, Stillstand heißt Rückschritt etc.) haben wir diese Prinzipien aber auch zum Mythos stilisiert bzw. über Genüge polarisiert. Aktive Therapie ist in, passive Therapieverfahren sind nicht nur out, sondern mit dem Rubrum des Sozialschmarotzers versehen. Mit dieser Betrachtungsweise haben wir, wiederum in meiner Wahrnehmung und Einschätzung, nicht nur das System Mensch dauerhaft überfordert, sondern auch die "gute alte" klinische Erfahrung zum Teil über Bord geworfen. So haben wir uns z.T. über Patienten, die nach Massagen nachfragten, lächerlich gemacht oder z.T. noch extremer, Ihnen fehlende Compliance unterstellt. Der aktive Patient war der gute und motivierte Patient. Solch eine Polarisierung ist jedoch unsinnig. Ruhe und Bewegung sind eben keine Gegensätze sondern sich sinnvoll ergänzende Elemente. ...

    Zur Zukunft unseres Faches. Viele unserer Kollegen sind tief besorgt, ob die konservative Orthopädie nach der Fusion weiterleben wird und kann, oder aber ob sie sich unter einem anderen Dach ansiedeln muss. Dies hängt nach meiner Auffassung ganz entscheidend vom Verständnis und Verhalten der operativ tätigen Kollegen ab. Sicherlich ist eine zunehmende Spezialisierung unumgänglich. Eine Beschränkung auf das rein operative hingegen wäre fatal. Das operative Vorgehen und Geschick sind nicht zu unterschätzen, stellen jedoch nur einen Teil ärztlicher Kunst dar. In einigen Ländern und chirurgischen Teilgebieten wird dies bereits heute zum Teil auf nichtärztliches Personal - Operationsassistenten - delegiert und übertragen. Das wichtigste ist und bleibt jedoch die Operationsindikation. Diese kann jedoch nur dann verantwortungsvoll und kompetent gestellt werden, wenn man auch entsprechende Alternativen und damit auch konservative Therapien kennt und kennen gelernt hat. Wer keine konservative Ausbildung absolviert hat bzw. diese nur auf dem Papier bestätigt bekommen hat, kann in meinem Weltbild in der Orthopädie keine richtige Operationsindikation stellen. Wer den Patienten nicht ganzheitlich wahr- und annimmt, wer nicht bereit ist den Patienten ein Leben lang zu begleiten, mag ein guter Operationsassistent mit akademischem Grad sein, ein Orthopäde wird er nie. Die Konsequenz, und damit schließe ich, kann auch hier nicht die Polarisation operativ oder konservativ sein, es gibt nur ein operativ und konservativ.

    "Es gibt inzwischen Menschen, die leben überhaupt nicht mehr, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt ist definitiv tot." Manfred Lütz

    Stark gekürzte Fassung der Ansprache des Kongresspräsidenten, Prof. Dr. med. Wolfgang F. Beyer, Ärztlicher Direktor, Orthopädie-Zentrum Bad Füssing, gehalten anlässlich der 55. Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden e.V. (26. bis zum 29. April 2007 in Baden-Baden).

     
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    Kongresspräsident Prof. Dr. med. Wolfgang F. Beyer