psychoneuro 2007; 33(6): 222
DOI: 10.1055/s-2007-985116
Interview

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview mit Prof. Goetz Mundle, Oberbergklinik Hornberg - Ist "Höher - schneller - weiter" eine Sucht?

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Publication Date:
26 July 2007 (online)

 
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    Wie weit Menschen heute mehr oder weniger freiwillig an ihre Leistungsgrenzen gehen und darüber hinaus, reflektiert unsere Einstellungen zu Leistungsbereitschaft und Erfolg. Dies zeigt sich nicht nur im Sport, sondern auch im Berufsleben. Prof. Goetz Mundle (siehe auch Schwerpunkt Ärztegesundheit in psychoneuro 2007; 33 (1+2)) nahm in einem Interview Stellung zu den aktuellen Doping-Skandalen.

    ? Herr Prof. Mundle, wir leben in einer Zeit der Doping-Skandale. Wer ist schuld an den Doping-Sünden im Leistungssport?

    Prof. Goetz Mundle: Sicherlich kein einzelner Sportler und keine einzelne Substanz. Das Ganze ist ein mehrdimensionales Problem eines insgesamt süchtigen Systems, das wiederum ein Abbild unserer Gesellschaft darstellt. Die einzelnen Akteure sehe ich dabei als Gefangene dieses Systems, das ich als süchtig nach Leistung und - mehr noch - nach Erfolg bezeichnen würde. Auch die Medien und die Zuschauer, die sich am "höher-schneller-weiter"-Prinzip orientieren, gehören mit zu diesem System.

    ? Dann halten Sie die beteiligten Ärzte ebenfalls für Gefangene dieses Systems?

    Mundle: Auf jeden Fall. Auch die betreffenden Kollegen sind Teil eines Systems, das immer nur Erfolge fordert, auch wenn diese nur noch mit illegalen Hilfsmitteln möglich sind. Wenn selbst Ärzte für diesen Zweck über ihre - im Vergleich zur Normalbevölkerung - besonders hohen ethischen Grundprinzipien hinweggehen, sehe ich darin Parallelen zum typischen Verhalten von suchtkranken Personen.

    ? Wo hört Erfolgsdruck auf und wo fängt Sucht an?

    Mundle: Süchtig werden bedeutet, Grenzen zu übertreten und ethische Leitbilder zu verlassen. Ich denke nicht, dass die betroffenen Kollegen süchtig in einem medizinischen Sinne sind. Aber ich sehe Ähnlichkeiten, die ich für charakteristisch für dieses süchtige System halte. So ist die Verleugnung und versuchte Legitimierung suchtbezogener Fakten bei suchtkranken Patienten eine typische Konsequenz ihrer psychischen Wahrnehmungsveränderung. Suchtpatienten leben meist in dem Glauben, das Richtige zu tun. Auch wenn sie es auf rationaler Ebene letztlich besser wissen, gehört genau dieser Glauben zur Suchtsymptomatik.

    ? Was bedeutet für Sie die namentliche Nennung der Kollegen in den Medien?

    Mundle: Sicherlich bedarf es der Aufklärung, welche Personen was genau getan haben. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch hier ein typisches Muster süchtigen Verhaltens, nämlich: "Der andere war es!" Ich möchte davor warnen, in dem verständlichen Wunsch nach Aufklärung das gesamte Problem der erwähnten süchtigen Struktur des Leistungssportes und unserer Gesellschaft an einzelnen Personen dingfest zu machen. Vielmehr finde ich, dass wir alle die Chance ergreifen sollten, jetzt eine längst überfällige ethische Diskussion zum Thema Erfolgsdruck im Sport und in unserer Gesellschaft zu beginnen. Es scheint mir wichtig, diese süchtigen Strukturen kritisch zu analysieren und vor einer breiten Gesellschaft, also in den Medien zu diskutieren.

    ? Also braucht unsere Gesellschaft, provozierend gesagt, eine Suchttherapie?

    Mundle: In gewissem Sinne ja, und zwar eine Gesprächstherapie. Ähnlich wie ein suchtkranker Patient sollte unsere gesamte Gesellschaft und natürlich auch die im Leistungssport Tätigen sich die Grenzen ihres ethischen Verhaltens wieder ins Bewusstsein rufen, denke ich. Dadurch gingen wir einen großen Schritt auf dem Weg zu einem individuellen Unrechtsbewusstsein aller Beteiligten.

    Eine öffentliche Diskussion zu diesen Themen könnte also durchaus den Charakter einer Gesprächstherapie für Beteiligte und Zuhörer haben. Als Ziel dieser Gespräche habe ich die Hoffnung, dass die Leistungsgrenzen bei den ethischen Grundsätzen des Sports wieder anerkannt werden und jeder sein eigenes Verhalten entsprechend steuern kann.

    ! Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Prof. Mundle.

     
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